SIEBZEHN

Am Montagmorgen waren meine Kopfschmerzen ver schwunden. Ich wachte trotzdem mit einem Gefühl der Erschöpfung auf und wünschte mir, dass ich zumindest Alkohol getrunken hätte, um dieses Katergefühl zu rechtfertigen. Dann hätte ich wenigstens den Eindruck gehabt, es zu verdienen. Alles kam mir an diesem Morgen ausgesprochen anstrengend vor. Die Luft stand und drückte auf die Stadt herab. Das Frettchen ließ sich nicht so ohne weiteres in seinen Käfig sperren und zeigte seine Wut auf eine Weise, die mich zumindest zum Lachen brachte.
Ich fuhr zum Psychologie-Institut der PNU und wartete dort so lange, bis Denise Francisco endlich zur Arbeit erschien. Sie warf mir einen miesepetrigen Blick zu und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Die große schwarze Tasche, die sie mitgebracht hatte, ließ sie mit einem dumpfen Knall auf den Boden fallen.
Danach vermied sie es, mich direkt anzusehen. »Tuck ist noch nicht da«, sagte sie. Sie nahm einen blauen Kaffeebecher, der die Größe eines Öltanks hatte, und ging damit wieder zur Tür hinaus. Ich folgte ihr.
»Ich habe in letzter Zeit genug von Professor Tuckman gesehen. Das reicht fürs Erste«, erwiderte ich. »Ich wollte mit Ihnen sprechen.«
Wie zuvor wirkte sie auch diesmal weniger wie dreißig, sondern mehr wie neunzehn – zumindest was ihre Klamotten betraf. Sie trug einen kurzen flippigen Rock über ihren plumpen Hüften sowie einige Schichten zu enger Trägertops, die unter einer schwarzen Jeansjacke hervorsahen. Wenn sie nicht kirschrote Doc-Martins-Stiefel getragen hätte, wäre sie wahrscheinlich getrippelt. Aber in so schweren Schuhen trippelte man nie.
Sie eilte durch eine Tür, hinter der die Kaffeeküche lag. Dort nahm sie sich die Kaffeekanne, die auf einer Wärmeplatte stand, und fluchte laut vor sich hin, als sie den Rest der schwarzen Brühe in ihren Becher goss.
»Verdammt und zugenäht! Wer hat schon wieder den ganzen Kaffee getrunken? Ihr seid wirklich unmöglich! Hört ihr das? U-N-M-Ö-G-L-I-C-H! Ihr seid zu absolut nichts zu gebrauchen! Wenn Manieren Make-up wären, bräuchtet ihr eine Schönheitsoperation, die sich gewaschen hat!«
Von irgendwoher ertönte eine Stimme: »Nur weiter so, Frankie! Du kommst so richtig in Fahrt.«
Sie beugte sich nach vorn, um den Schrank unter der Kaffeemaschine zu durchsuchen, und zeigte dabei mehr als nur den schwarzen Netzstoff ihres modischen Unterrocks. »Verdammt!«, murmelte sie. »Haselnuss-Geschmack ist schon wieder aus.« Sie richtete sich wieder auf und sah mich an. »Trinken Sie Kaffee?«
Ich blinzelte. »Ja, schon.«
Ihre Augen wurden schmal. »Starbucks?«
»Nur, wenn ich nichts anderes finden kann.«
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
»Über das Projekt. Terry meinte, dass Sie für eine Weile mitgearbeitet hätten. Ich wollte mehr wissen.«
Sie streckte mir ihre riesige Kaffeetasse entgegen. »Wenn Sie die hier mit Haselnuss-Kaffee füllen, der nicht wie Öl schmeckt, erzähle ich Ihnen gerne alles, was Sie wissen wollen.«
Ich warf einen Blick auf den Becher und dann auf Frankie. »Kommt nicht in Frage.«
Sie schmollte. »Kommt nicht in Frage? Warum sollte ich Ihnen dann irgendetwas sagen, wenn Sie mir nicht mal einen Gefallen tun wollen?«
»Weil ich einfach nur dasitzen und Sie beobachten werde, bis Sie aufgeben. Das kostet mich nichts, während ich mindestens zwanzig Dollar und eine halbe Stunde Zeit darauf verschwenden würde, dieses schwarze Loch, das Sie Tasse nennen, für Sie zu füllen.«
Sie starrte mich an und fuhr sich dabei mit der Zungenspitze über die Unterlippe. Dann seufzte sie, drehte sich um und meinte über die Schulter: »Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging den Gang hinunter zu einem weiteren Büro. Ich konnte die Stimme von zuvor hören, die einen belustigten Protestschrei ausstieß, ehe Frankie mit einem halb gefüllten Becher zu mir zurückkehrte.
»Okay«, verkündete sie. »Ich bin bereit, mich eine halbe Stunde lang Ihren Fragen zu stellen. Oder bis Tuck kommt.« Sie rollte mit den Augen. »Wie auch immer. Los, kommen Sie. Kehren wir zum Ort der Qualen zurück.«
Sie nippte an ihrem Kaffee, und gemeinsam gingen wir in das Institutsbüro.
»Ihnen scheint der Job hier ja nicht … Na ja, nicht so zu gefallen«, sagte ich.
»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte sie und setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch. »Ich bin nur wegen Tuckman hierhergekommen. Ich habe bei ihm an der University of Washington studiert. Damals hielt ich ihn für einen Halbgott. Da können Sie mal sehen, wie dämlich ich war!« Wieder nahm sie einen großen Schluck Kaffee.
»Als man jedenfalls Tuckman von der Uni warf, saß ich noch an meiner Abschlussarbeit. Also bin ich ihm hierher gefolgt und habe auch bei dem Projekt mitgearbeitet. Ich half ihm, die Räume und das Experiment aufzubauen, und auch jetzt tippe ich noch die Berichte ab, aber …«
»Auf das Aber hatte ich gewartet. Aber was?«, fragte ich und lehnte mich an ihren Schreibtisch.
»Ich habe zu meinem großen Bedauern feststellen müssen, dass Professor Gartner Tuckman eine besondere Sorte Unkraut darstellt, das nur in den schleimigsten Ego-Sümpfen gedeiht. Er ist ein manipulatives Arschloch ohne Skrupel, das seine Ergebnisse so hindreht, dass es das bekommt, was es will. Ihm wurde die Stelle nur angeboten, weil man ihn an der PNU bewundert und nicht begriffen hat, dass er dieses Institut für zweit-, wenn nicht sogar für drittklassig hält. Er glaubt, die Studenten hier seien zu dämlich, um auf eine gute Uni zu gehen. Und sein Ego ist viel zu aufgeblasen, als dass er kapieren würde, wie froh er sein kann, dass niemand verraten hat, warum er in Wahrheit von der UW flog.«
»Und warum ist er geflogen?« Das musste ich zwar nicht unbedingt wissen, aber es war offensichtlich, dass Frankie auf diese Frage wartete. Es machte mir zudem nichts aus, ihr Spiel ein wenig mitzuspielen, solange sie weiterredete.
»Technisch gesehen wurden Stellen gekürzt, aber in Wirklichkeit hat man nur nach einem Grund gesucht, ihn endlich loszuwerden, ohne selbst dumm dazustehen. Seine letzten beiden Projekte haben Unsummen verschlungen. Er hat wirklich eine Begabung dafür, Geld in unnötige Dinge zu stecken und trotzdem nicht dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.
Aber seine letzten Projekte an der Uni liefen gar nicht gut. Sie mussten aufgegeben werden, weil Tuckman es genießt, seine Mitarbeiter und die Projektteilnehmer viel weiter zu treiben, als das sinnvoll oder auch sicher wäre. Er will sie bis an den Rand ihrer Kräfte bringen und plant unmögliche Experimente. Einige Leute wurden dabei sogar verletzt, aber Tuck gelang es irgendwie immer, die anderen dafür verantwortlich zu machen, und ist meist mit einem blauen Auge davongekommen. Die Unileitung muss gewusst haben, dass er das Geld, das sie ihm zur Verfügung stellte, verschwendet und mit seinen Mitmenschen sehr fahrlässig umspringt. Aber sie hatten nicht genug Beweise in der Hand, um gegen ihn vorzugehen. Stattdessen haben sie ihn dann bei der ersten Gelegenheit hinauskomplimentiert.«
»Und er hat einfach da weitergemacht, wo er an der UW aufgehört hat?«
Frankie nickte. »Mehr oder weniger. Er wollte schon immer diese Geister-Sache ausprobieren. Zuerst war ich ja auch voll dafür. Ich fand das irgendwie cool, aber das ist es gar nicht. Es ist Mist. Er sagt keinem von uns die Wahrheit. Wie zuvor kocht er allein für sich sein Süppchen und macht, was er will.«
»Und wie sieht das aus?«
»Ihnen ist doch sicher klar, dass dieses Experiment wirklich gefährlich ist. Tuck hat die teilweise sowieso schon recht durchgeknallten Leute dazu gebracht, zu glauben, dass sie Dinge bewegen oder plötzlich aus dem Nichts erscheinen lassen können. Eigentlich sollte es um Gruppen-Psychokinese gehen, aber Tuck scheint dieses kleine Detail schon lange egal zu sein. Er lässt die Gruppe vielmehr in dem Glauben, dass sie sowohl einzeln als auch als Kollektiv die Macht hat, einen Geist zu rufen. Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn dieses Projekt aufhört? Die Leute werden annehmen, dass sie alles können, dass sie Kräfte wie Superman haben oder so und die Gesetze und Regeln normaler Menschen für sie nicht gelten. Wissen Sie, wie man Leute nennt, die so etwas glauben? Man nennt sie Psychopathen. Das Ganze ist wirklich gruselig, und ich habe keine Ahnung, was er damit bezweckt. Aber ich wette mit Ihnen, dass es nichts Gutes ist. Das ist es bei ihm nämlich nie.«
»Und warum sind Sie dann noch hier?«
»Weil ich der PNU jetzt einen Teil meines Studiums schulde. Deshalb habe ich diesen Job angenommen, und die Univerwaltung hat mich automatisch ans Psychologie-Institut vermittelt, wo ich Mr. Ego täglich außer freitags sehen darf. Ich versuche gerade, mich versetzen zu lassen, aber mitten im Semester geht das nicht so leicht. Es sei denn, einer stirbt.«
»Sie wissen sicher, dass Tuckman glaubt, jemand würde sein Projekt sabotieren.«
Sie lachte und trank ihren Kaffee aus. »Ich bin es jedenfalls nicht. Ich achte nur darauf, dass niemand verletzt wird, soweit das in meiner Macht steht. Deshalb habe ich mich auch freiwillig gemeldet, den Raum nach den Sitzungen aufzuräumen. So kann ich zumindest kontrollieren, ob er irgendetwas verändert hat. Ich würde ihm ohne weiteres zutrauen, dass er zum Beispiel die Stühle unter Strom setzt, wenn er dadurch erhofft, eine neue Reaktion zu bekommen oder die Teilnehmer etwas weiter zu treiben. Ich durchsuche immer das ganze Zimmer, wenn ich dort bin. Bisher war aber nichts. Doch wie ich gehört habe, gibt es ein Problem, weil immer wieder Dinge gestohlen werden.«
»Wirklich?«
»Ja. Sein Poltergeist soll eine diebische Elster sein. Er mag Glitzersachen, stiehlt den Leuten die Schlüssel und durchwühlt die Handtaschen der Frauen. Das hat er vom ersten Tag an getan. Es hat mich übrigens überrascht, dass Tuck Ihnen einfach so die Schlüssel zum Séance-Raum überlassen hat, denn er würde wirklich in Schwierigkeiten geraten, wenn die verloren gingen.«
»In welchen Schwierigkeiten würde er denn stecken, wenn er einen Assistenten verlieren würde?«
»Das hängt davon ab, wie er ihn verliert«, entgegnete sie. »Wenn er einfach kündigt, wäre das überhaupt kein Problem. Wenn er allerdings tot wäre … Dann wäre das schon etwas unangenehmer.«
Sie wusste offensichtlich noch nichts von Mark. »Lesen Sie eigentlich Zeitung oder schauen Sie sich die Nachrichten an?«
»So selten wie möglich. Ich brauche nicht noch mehr Gründe für Alpträume. Tuck hat mir schon genügend davon beschert. Warum?«
»Kennen Sie Mark Lupoldi?«
»Den Special-Effects-Typen von Tuck? Na klar.«
»Er wurde vergangenen Mittwoch umgebracht. Er ist nicht mehr zur Sitzung erschienen.«
Frankie starrte mich fassungslos an. »Sie machen Scherze – oder?«
»Nein, leider nicht. Die Polizei untersucht jetzt den Fall.«
»Um Gottes willen! Ehrlich?«
»Ganz ehrlich.«
Frankie bekam vor Verblüffung ihren Mund nicht mehr zu. Sie schüttelte fassungslos den Kopf und starrte in ihre leere Kaffeetasse. Als jemand das Büro betrat, blickte sie im Gegensatz zu mir nicht einmal auf. Ein schlaksiger grauhaariger Mann in einem weiten Pulli stand neben der Tür und hielt einen Becher in der Hand, der fast genauso groß war wie der von Frankie.
»Oh, sorry. Ich wollte nicht stören. Ich bringe Madam Frankie nur ihren Kaffee, bevor sie mir endgültig den Kopf abreißt. Ist sie da? Ich dachte, ich hätte sie gehört …«
Ich trat beiseite, damit er Frankie sehen konnte. »Sie ist gerade etwas durch den Wind.«
Er lächelte mich verschmitzt an. »So schlimm kann es nicht sein. Sie flucht ja gar nicht.« Er betrachtete sie genauer. »Oh, nein. Das sieht doch viel schlimmer aus als gedacht.«
»Ein Bekannter von ihr ist gestorben.«
»Oh.« Er trat zu ihr und ging neben ihr in die Hocke. Vorsichtig goss er seinen Kaffee in ihren Becher. »Ich habe dir Kaffee gebracht, Frankie. Hallo! Erde an Frankie! Zeit für ein paar Flüche. Er ist von Starbucks.«
»Du hast mir wirklich einen Kaffee von Starbucks …«, murmelte sie.
»Ich weiß doch, wie gerne du dich beschwerst. Da wollte ich dir den Gefallen tun. Aber wie ich höre, geht es dir nicht gut.«
»Es geht mir nicht nur nicht gut, ich fühle mich wie das unbedeutendste Fossil, das je gefunden wurde.«
»So gut?« Er sah zu mir hoch. »Sie flucht schon wieder. Jetzt geht es ihr bald besser.«
Daraufhin brach Frankie in Tränen aus und presste ihr Gesicht an die Schulter des Mannes. Er sah zwar verblüfft aus, gab mir aber mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich gehen könnte.
Es war mir nicht ganz wohl dabei, Frankie einfach allein zu lassen. Schließlich war es meine Schuld, dass sie so aufgewühlt war, aber sie hätte sich sicher nicht besser gefühlt, wenn sie es am nächsten Tag von Solis erfahren hätte. So wusste sie zumindest schon, dass ihr ein Besuch der Polizei bevorstand.
Draußen schüttete es, und ich stellte mich unter eine Markise, um die Danzigers anzurufen. Ich wollte sichergehen, dass Frankies Geschichte über Tuckmans Rauswurf tatsächlich stimmte. So amüsant ihre Version auch klang, so war mir doch auch klar geworden, dass sie mit Tuckman ein gehöriges Hühnchen zu rupfen hatte, was sie vielleicht nicht ganz objektiv sein ließ. Doch die Danzigers antworteten nicht. Ich hinterließ also eine Nachricht.
Eine seltsame Vorahnung quälte mich. Das war eigentlich gar nicht typisch für mich, weshalb ich mich nun doppelt unwohl fühlte. Meine ständigen Besuche im Grau hatten mich jedoch für bestimmte Situationen sensibilisiert, und so konnte ich nur hoffen, dass ich mich irrte.
Um halb zwei wollte ich mich mit Wayne Hopke treffen. Bis dahin gab es noch einige Dinge zu erledigen.
 
Wayne Hopke lebte auf einem zwölf Meter langen Motorboot, das nach Zigaretten, Bier und einem Putzmittel mit Zitronenduft roch. Es lag am Kanal in der Nähe der Ballard Locks vor Anker, und Hopke war bei meinem Eintreffen mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht und einem Bier in der Hand herausgekommen, um mich zu begrüßen. Er war, wie Cara gesagt hatte, tatsächlich ein netter Kerl, der sich seit seiner Pensionierung allein fühlte und versuchte, diese Einsamkeit durch Gespräche und kalte Biere so oft wie möglich zu vertreiben. Obwohl er schon seit einiger Zeit nicht mehr bei der Armee war und sich auf die siebzig zubewegte, wirkte er noch immer sehnig und trug seine weißen Haare militärisch kurz geschnitten. Seine restliche Erscheinung hatte er jedoch seinem Leben als Zivilist angepasst – blaue Jeans, Segelschuhe und ein lockeres Sweatshirt.
Er begann sogleich enthusiastisch von sich und dem Grund zu erzählen, warum er dem Projekt beigetreten war. Eine ganze Weile plapperte er über seine spannende Zeit bei der Armee und dem Leben danach und leerte dabei mehrere Biere. Doch der Alkohol schien ihn nicht zu benebeln. Er wusste auf die Minute genau, wann er zu den Séancen gestoßen war, was er von ihnen hielt und wer wann was gemacht hatte. Aus der ganzen Gruppe war er derjenige, der den anderen am entspanntesten und mit den wenigsten Vorurteilen gegenübertrat. Ihn schien keiner wirklich zu stören oder zu ärgern, und er glaubte an das Projekt. Allerdings war er nicht in der Lage, genaue Gründe für seine Begeisterung zu nennen. Ihm gefiel das Ganze einfach. Punktum.
Jedes Mal, wenn er ein Bier ausgetrunken hatte, zerdrückte er die Dose und warf sie in einen Eimer, der bereits voll war. Dann öffnete er den Kühlschrank und holte sich eine neue heraus. Ein winziger gelber Faden schien jeder weggeworfenen Dose zu folgen und in einem schwachen Dunst über dem Eimer aufzugehen.
Eine der Dosen machte auf einmal einen Schlenker und flog in meine Richtung. Ich duckte mich und schlug sie beiseite.
Hopke blickte auf. »Entschuldigen Sie vielmals! Das passiert in letzter Zeit immer häufiger.«
Ich winkte ab, behielt aber den dünnen Nebel im Auge, der um die Bootskabine herum schwebte. Immer wieder konnte ich beobachten, wie winzige Fangarme aus grauer Energie nach uns griffen. »Ich gewöhne mich allmählich daran.«
Das Boot schwankte und riss an den Tauen. Die plötzliche Bewegung und der Geruch der Kabine brachten mich zum Würgen, und ich musste mich an meinem Stuhl festklammern. Mehrere Bücher segelten aus den festgeschraubten Regalen und blieben für einen Moment schwebend in der Luft hängen, ehe sie an meinem Kopf vorbei auf den Boden flogen.
Hopke beugte sich hinunter, um sie aufzuheben und auf den Tisch zu legen. »Verdammt! Celia wird in letzter Zeit ziemlich unverschämt.«
»Ist das ungewöhnlich?«
»Nein, nicht ungewöhnlich, aber seit letzter Woche passiert es deutlich öfter. Sie hat von Anfang an dazu tendiert, das zu tun, wonach ihr gerade der Sinn steht. Ich glaube, heute Morgen hat sie zum Beispiel meine Schlüssel genommen. Zum Glück habe ich nicht vor wegzugehen, denn bisher konnte ich sie noch nicht wiederfinden. Hoffentlich sind sie nicht ins Wasser gefallen.«
»Das wäre etwas unangenehm.«
»In der Tat.«
»Also gut«, sagte ich und machte es mir wieder auf dem Stuhl bequem. »Wenn wir schon einmal beim Thema sind, würde ich gerne mit Ihnen über den gestrigen Tag sprechen. Einverstanden?«
»Klar.«
»Warum war die Sitzung gestern so anders als die bisherigen? Was glauben Sie?«
»Na ja, es ist Mark.«
»Einen Moment«, bat ich und hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Wollen Sie damit sagen, dass Marks Tod etwas mit den gestrigen Ereignissen zu tun hat?«
»Ja, das will ich. Ich glaube, dass Mark bei uns ist. Zumindest stammte gestern die Energie auf irgendeine Weise von ihm. Vielleicht, weil wir an ihn gedacht haben. Was es auch sein mag – Sie können nicht leugnen, dass die Sitzung gestern anders war als sonst. Und die einzige Veränderung in der Gruppe war Marks Tod.«
»Und wie erklären Sie sich dann die immer heftiger werdenden Phänomene vor Marks Tod?«
»Das war nur eine natürliche Steigerung. Wir haben konzentriert miteinander gearbeitet und wurden immer besser. Ich bin mir sicher, dass es nur daran lag.«
»Aber die Veränderungen kamen doch sehr plötzlich. Glauben Sie, dass Sie alle in gleicher Weise dazu beitragen, dass diese Erscheinungen auftreten, oder meinen Sie, dass da noch etwas anderes mit hineinspielt?«
»Wenn Sie damit einen Schwindel meinen, dann bin ich mir sicher, dass Sie sich irren. Wir sind alle auf dem gleichen Level. Möglicherweise sind ein oder zwei Teilnehmer etwas besser als die übrigen und legen sich mehr ins Zeug. Jedes Team hat seine Zugpferde – jemand, der die Richtung angibt oder etwas stärker zieht, um die anderen zu ermutigen.«
»Und wer wäre das Ihrer Meinung nach?«
Hopke lachte. »Das weiß ich nicht. Celia scheint Ken besonders gern zu mögen, aber das bedeutet noch nicht, dass er irgendetwas dafür getan hat. Sie hatte eine Zeit lang auch ihre Zuneigung für Cara entdeckt, weshalb ich ziemlich überrascht war, als Cara gestern verletzt wurde. Zuerst wirkt sie ja recht kühl, aber sie ist kein schlechtes Mädchen. Vermutlich handelt es sich nur um einen Unfall, weil wir alle so aufgewühlt waren. Mark war ein guter Junge, und wir mochten ihn. Falls er bei Celia ist, würde er Cara bestimmt nicht absichtlich verletzen.«
Er dachte einen Moment lang nach und runzelte dann die Stirn. »Bis jetzt sind unsere Sitzungen immer sehr angenehm verlaufen. Aber mir ist natürlich bewusst, dass es ein paar Spannungen gibt. Dale kann sehr eifersüchtig sein und Patricia schnell die Nerven verlieren. Vielleicht haben wir uns das also selbst angetan … Na ja, da kommt man schon ins Grübeln.«
»Ja, das stimmt. Von Dale und Patricia einmal abgesehen – gibt es sonst noch Spannungen in der Gruppe?«
»Die Studenten sind manchmal etwas komisch. Ich bin mir sicher, dass sie einem alten Kerl wie mir nicht viel zutrauen – normalerweise meinen Zwanzigjährige ja, sie hätten den Sex erfunden -, aber ich habe so etwas schon oft erlebt. Solche Dinge führen zu mehr Verletzungen und Schmerzen als Alkohol und Autofahren.«
»Und was war mit Mark?«
»Was soll mit ihm gewesen sein?«
»Hatte irgendjemand in der Gruppe Probleme mit ihm? Oder vielleicht einen Grund, ihm wehtun zu wollen? Sie meinten, dass Mark jetzt bei Celia sein könnte. Hätte er denn einen Grund, auf jemanden sauer zu sein? Oder nachtragend zu sein?« Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass nicht der Geist von Mark Lupoldi die Brosche geworfen hatte, aber Hopkes Gedanken konnten mich vielleicht auf eine interessante Spur bringen.
»Mark war sehr umgänglich und direkt. Wenn er ein Problem mit jemandem hatte, sagte er das oder machte vielleicht einen Witz darüber. Aber er war nicht nachtragend oder hinterhältig. Falls Mark auf jemanden wütend gewesen wäre, hätte er das doch bestimmt nicht an Cara ausgelassen. Oder wollen Sie damit andeuten, Celia hätte Mark umgebracht? Das ist doch einfach lächerlich.«
»Wirklich?«
»Celia besteht aus uns allen, und da keiner von uns Mark verletzen würde, käme bestimmt auch Celia nicht auf eine solche Idee.«
Eine weitere Dose erhob sich in die Luft und knallte diesmal gegen meine Stirn.
»Alles in Ordnung?«, fragte Hopke und beugte sich besorgt zu mir.
Ich rieb mir den Kopf. »Ja, sie war ja zum Glück schon leer.«
»Ja, zum Glück.«
Ich wollte nun das Gespräch so schnell wie möglich zu Ende bringen, ehe Celia noch unverschämter werden konnte. »Ich hätte nur noch eine Frage. Sie meinten, dass Sie nach Ihrer Pensionierung etwas gesucht hätten, womit Sie sich beschäftigen könnten. Aber warum haben Sie gerade dieses Projekt gewählt?«
»Wissen Sie, ich habe über die Jahre viele Freunde sterben sehen und fragte mich irgendwann, ob es nicht noch mehr gibt als im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten und dann den Löffel abzugeben. Entschuldigen Sie, wenn ich mich so salopp ausdrücke.«
»Ich habe schon Schlimmeres gehört.«
Hopke nickte und fuhr fort. »Ich wollte einfach wissen, wie es nach diesem Leben vielleicht weitergehen könnte – falls es überhaupt weitergeht.«
»Sie sind mutiger als ich«, gab ich ehrlich zu.
»Das bezweifle ich. Sie scheinen mir ein ziemlich mutiges Mädchen zu sein.«
»Vielleicht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wissen möchte, was nach dem Tod mit uns passiert.«
Er leerte ein weiteres Bier. »Wenn Sie erst einmal in meinem Alter sind, ändern Sie vielleicht Ihre Meinung.«
Das bezweifelte ich zwar, aber Hopke wusste ja auch nicht, was ich in Wahrheit meinte.
»Und sind Sie zufrieden mit dem, was Sie bisher herausgefunden haben?«, fragte ich.
»Bisher schon. Ich will zwar noch viel mehr erfahren, aber ich finde es schon einmal einen Fortschritt, zu wissen, dass wir weder in dieser Welt noch in der nächsten ganz machtlos sind.«
Ich stand auf. »Vielen Dank, Mr. Hopke. Das war alles, was ich wissen wollte.«
»Sie wollen schon gehen?«, fragte er und erhob sich ebenfalls. »Das hat aber nicht lange gedauert.« Er lächelte mich hoffnungsvoll an. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch ein Bier möchten?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte ebenfalls. »Ich habe leider keine Zeit mehr. Aber danke für das Angebot.«
Er führte mich zur Reling und half mir, auf den Kai zu springen. Als ich mich umdrehte, um mich noch einmal zu verabschieden, sauste etwas Metallenes an meinem Kopf vorbei und fiel ins Wasser. Allein die Nähe des Gegenstandes löste erneut ein Pochen in meinem Gehirn aus.
»Oh, verdammt«, stöhnte Hopke. »Das waren meine Schlüssel. Na ja – jetzt muss ich sie wohl irgendwie da herausfischen.«
Ich starrte in das trübe grüne Kanalwasser unter uns. »Wie tief ist das denn? Können Sie die denn so einfach wieder rausholen?«
»Ich hoffe schon. Das Wasser ist hier sehr niedrig, weil der Kanal ursprünglich zur Bay gehörte.« Er blickte ins Wasser und holte sich dann eine weitere Dose Bier aus dem Kühlschrank. »Na ja, dann sollte ich wohl besser anfangen. Sie wissen ja – Bier und Angeln passen gut zusammen.«
Ich wünschte ihm viel Glück bei der Suche und ging. Hopke tauchte einen großen Magneten an einer Angelschnur ins Wasser und trank dabei sein Bier. Irgendwie mochte ich den Mann und fand es eigentlich schade, dass er bei diesem Projekt wahrscheinlich nicht viel über das Leben nach dem Tod herausfinden würde. Damit würde er sich wohl beschäftigen müssen, wenn es einmal so weit war, und ich hoffte, dass das noch nicht so schnell passierte.
Poltergeist
cover.html
rich_9783641032999_oeb_cover_r1.html
rich_9783641032999_oeb_fm3_r1.html
rich_9783641032999_oeb_fm2_r1.html
rich_9783641032999_oeb_toc_r1.html
rich_9783641032999_oeb_ded_r1.html
rich_9783641032999_oeb_fm4_r1.html
rich_9783641032999_oeb_ata_r1.html
rich_9783641032999_oeb_bm2_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c01_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c02_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c03_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c04_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c05_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c06_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c07_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c08_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c09_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c10_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c11_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c12_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c13_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c14_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c15_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c16_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c17_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c18_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c19_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c20_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c21_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c22_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c23_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c24_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c25_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c26_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c27_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c28_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c29_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c30_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c31_r1.html
rich_9783641032999_oeb_c32_r1.html
rich_9783641032999_oeb_bm1_r1.html
rich_9783641032999_oeb_bm3_r1.html
rich_9783641032999_oeb_bm4_r1.html
rich_9783641032999_oeb_cop_r1.html