SIEBZEHN
Am Montagmorgen waren meine Kopfschmerzen
ver schwunden. Ich wachte trotzdem mit einem Gefühl der Erschöpfung
auf und wünschte mir, dass ich zumindest Alkohol getrunken hätte,
um dieses Katergefühl zu rechtfertigen. Dann hätte ich wenigstens
den Eindruck gehabt, es zu verdienen. Alles kam mir an diesem
Morgen ausgesprochen anstrengend vor. Die Luft stand und drückte
auf die Stadt herab. Das Frettchen ließ sich nicht so ohne weiteres
in seinen Käfig sperren und zeigte seine Wut auf eine Weise, die
mich zumindest zum Lachen brachte.
Ich fuhr zum Psychologie-Institut der PNU und
wartete dort so lange, bis Denise Francisco endlich zur Arbeit
erschien. Sie warf mir einen miesepetrigen Blick zu und setzte sich
hinter ihren Schreibtisch. Die große schwarze Tasche, die sie
mitgebracht hatte, ließ sie mit einem dumpfen Knall auf den Boden
fallen.
Danach vermied sie es, mich direkt anzusehen. »Tuck
ist noch nicht da«, sagte sie. Sie nahm einen blauen Kaffeebecher,
der die Größe eines Öltanks hatte, und ging damit wieder zur Tür
hinaus. Ich folgte ihr.
»Ich habe in letzter Zeit genug von Professor
Tuckman gesehen. Das reicht fürs Erste«, erwiderte ich. »Ich wollte
mit Ihnen sprechen.«
Wie zuvor wirkte sie auch diesmal weniger wie
dreißig, sondern mehr wie neunzehn – zumindest was ihre Klamotten
betraf. Sie trug einen kurzen flippigen Rock über ihren plumpen
Hüften sowie einige Schichten zu enger Trägertops, die unter einer
schwarzen Jeansjacke hervorsahen. Wenn sie nicht kirschrote
Doc-Martins-Stiefel getragen hätte, wäre sie wahrscheinlich
getrippelt. Aber in so schweren Schuhen trippelte man nie.
Sie eilte durch eine Tür, hinter der die
Kaffeeküche lag. Dort nahm sie sich die Kaffeekanne, die auf einer
Wärmeplatte stand, und fluchte laut vor sich hin, als sie den Rest
der schwarzen Brühe in ihren Becher goss.
»Verdammt und zugenäht! Wer hat schon wieder den
ganzen Kaffee getrunken? Ihr seid wirklich unmöglich! Hört ihr das?
U-N-M-Ö-G-L-I-C-H! Ihr seid zu absolut nichts zu gebrauchen! Wenn
Manieren Make-up wären, bräuchtet ihr eine Schönheitsoperation, die
sich gewaschen hat!«
Von irgendwoher ertönte eine Stimme: »Nur weiter
so, Frankie! Du kommst so richtig in Fahrt.«
Sie beugte sich nach vorn, um den Schrank unter der
Kaffeemaschine zu durchsuchen, und zeigte dabei mehr als nur den
schwarzen Netzstoff ihres modischen Unterrocks. »Verdammt!«,
murmelte sie. »Haselnuss-Geschmack ist schon wieder aus.« Sie
richtete sich wieder auf und sah mich an. »Trinken Sie
Kaffee?«
Ich blinzelte. »Ja, schon.«
Ihre Augen wurden schmal. »Starbucks?«
»Nur, wenn ich nichts anderes finden kann.«
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
»Über das Projekt. Terry meinte, dass Sie für eine
Weile mitgearbeitet hätten. Ich wollte mehr wissen.«
Sie streckte mir ihre riesige Kaffeetasse entgegen.
»Wenn
Sie die hier mit Haselnuss-Kaffee füllen, der nicht wie Öl
schmeckt, erzähle ich Ihnen gerne alles, was Sie wissen
wollen.«
Ich warf einen Blick auf den Becher und dann auf
Frankie. »Kommt nicht in Frage.«
Sie schmollte. »Kommt nicht in Frage? Warum sollte
ich Ihnen dann irgendetwas sagen, wenn Sie mir nicht mal einen
Gefallen tun wollen?«
»Weil ich einfach nur dasitzen und Sie beobachten
werde, bis Sie aufgeben. Das kostet mich nichts, während ich
mindestens zwanzig Dollar und eine halbe Stunde Zeit darauf
verschwenden würde, dieses schwarze Loch, das Sie Tasse nennen, für
Sie zu füllen.«
Sie starrte mich an und fuhr sich dabei mit der
Zungenspitze über die Unterlippe. Dann seufzte sie, drehte sich um
und meinte über die Schulter: »Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging den Gang hinunter zu einem weiteren Büro.
Ich konnte die Stimme von zuvor hören, die einen belustigten
Protestschrei ausstieß, ehe Frankie mit einem halb gefüllten Becher
zu mir zurückkehrte.
»Okay«, verkündete sie. »Ich bin bereit, mich eine
halbe Stunde lang Ihren Fragen zu stellen. Oder bis Tuck kommt.«
Sie rollte mit den Augen. »Wie auch immer. Los, kommen Sie. Kehren
wir zum Ort der Qualen zurück.«
Sie nippte an ihrem Kaffee, und gemeinsam gingen
wir in das Institutsbüro.
»Ihnen scheint der Job hier ja nicht … Na ja, nicht
so zu gefallen«, sagte ich.
»Nein, ganz und gar nicht«, erwiderte sie und
setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch. »Ich bin nur wegen
Tuckman hierhergekommen. Ich habe bei ihm an der University of
Washington studiert. Damals hielt ich ihn für einen
Halbgott. Da können Sie mal sehen, wie dämlich ich war!« Wieder
nahm sie einen großen Schluck Kaffee.
»Als man jedenfalls Tuckman von der Uni warf, saß
ich noch an meiner Abschlussarbeit. Also bin ich ihm hierher
gefolgt und habe auch bei dem Projekt mitgearbeitet. Ich half ihm,
die Räume und das Experiment aufzubauen, und auch jetzt tippe ich
noch die Berichte ab, aber …«
»Auf das Aber hatte ich gewartet. Aber was?«,
fragte ich und lehnte mich an ihren Schreibtisch.
»Ich habe zu meinem großen Bedauern feststellen
müssen, dass Professor Gartner Tuckman eine besondere Sorte Unkraut
darstellt, das nur in den schleimigsten Ego-Sümpfen gedeiht. Er ist
ein manipulatives Arschloch ohne Skrupel, das seine Ergebnisse so
hindreht, dass es das bekommt, was es will. Ihm wurde die Stelle
nur angeboten, weil man ihn an der PNU bewundert und nicht
begriffen hat, dass er dieses Institut für zweit-, wenn nicht sogar
für drittklassig hält. Er glaubt, die Studenten hier seien zu
dämlich, um auf eine gute Uni zu gehen. Und sein Ego ist viel zu
aufgeblasen, als dass er kapieren würde, wie froh er sein kann,
dass niemand verraten hat, warum er in Wahrheit von der UW
flog.«
»Und warum ist er geflogen?« Das musste ich zwar
nicht unbedingt wissen, aber es war offensichtlich, dass Frankie
auf diese Frage wartete. Es machte mir zudem nichts aus, ihr Spiel
ein wenig mitzuspielen, solange sie weiterredete.
»Technisch gesehen wurden Stellen gekürzt, aber in
Wirklichkeit hat man nur nach einem Grund gesucht, ihn endlich
loszuwerden, ohne selbst dumm dazustehen. Seine letzten beiden
Projekte haben Unsummen verschlungen. Er hat wirklich eine Begabung
dafür, Geld in unnötige Dinge zu stecken und trotzdem nicht dafür
zur Verantwortung gezogen zu werden.
Aber seine letzten Projekte an der Uni liefen gar
nicht gut. Sie mussten aufgegeben werden, weil Tuckman es genießt,
seine Mitarbeiter und die Projektteilnehmer viel weiter zu treiben,
als das sinnvoll oder auch sicher wäre. Er will sie bis an den Rand
ihrer Kräfte bringen und plant unmögliche Experimente. Einige Leute
wurden dabei sogar verletzt, aber Tuck gelang es irgendwie immer,
die anderen dafür verantwortlich zu machen, und ist meist mit einem
blauen Auge davongekommen. Die Unileitung muss gewusst haben, dass
er das Geld, das sie ihm zur Verfügung stellte, verschwendet und
mit seinen Mitmenschen sehr fahrlässig umspringt. Aber sie hatten
nicht genug Beweise in der Hand, um gegen ihn vorzugehen.
Stattdessen haben sie ihn dann bei der ersten Gelegenheit
hinauskomplimentiert.«
»Und er hat einfach da weitergemacht, wo er an der
UW aufgehört hat?«
Frankie nickte. »Mehr oder weniger. Er wollte schon
immer diese Geister-Sache ausprobieren. Zuerst war ich ja auch voll
dafür. Ich fand das irgendwie cool, aber das ist es gar nicht. Es
ist Mist. Er sagt keinem von uns die Wahrheit. Wie zuvor kocht er
allein für sich sein Süppchen und macht, was er will.«
»Und wie sieht das aus?«
»Ihnen ist doch sicher klar, dass dieses Experiment
wirklich gefährlich ist. Tuck hat die teilweise sowieso schon recht
durchgeknallten Leute dazu gebracht, zu glauben, dass sie Dinge
bewegen oder plötzlich aus dem Nichts erscheinen lassen können.
Eigentlich sollte es um Gruppen-Psychokinese gehen, aber Tuck
scheint dieses kleine Detail schon lange egal zu sein. Er lässt die
Gruppe vielmehr in dem Glauben, dass sie sowohl einzeln als auch
als Kollektiv die Macht hat, einen Geist zu rufen. Können Sie sich
vorstellen,
was passiert, wenn dieses Projekt aufhört? Die Leute werden
annehmen, dass sie alles können, dass sie Kräfte wie Superman haben
oder so und die Gesetze und Regeln normaler Menschen für sie nicht
gelten. Wissen Sie, wie man Leute nennt, die so etwas glauben? Man
nennt sie Psychopathen. Das Ganze ist wirklich gruselig, und ich
habe keine Ahnung, was er damit bezweckt. Aber ich wette mit Ihnen,
dass es nichts Gutes ist. Das ist es bei ihm nämlich nie.«
»Und warum sind Sie dann noch hier?«
»Weil ich der PNU jetzt einen Teil meines Studiums
schulde. Deshalb habe ich diesen Job angenommen, und die
Univerwaltung hat mich automatisch ans Psychologie-Institut
vermittelt, wo ich Mr. Ego täglich außer freitags sehen darf. Ich
versuche gerade, mich versetzen zu lassen, aber mitten im Semester
geht das nicht so leicht. Es sei denn, einer stirbt.«
»Sie wissen sicher, dass Tuckman glaubt, jemand
würde sein Projekt sabotieren.«
Sie lachte und trank ihren Kaffee aus. »Ich bin es
jedenfalls nicht. Ich achte nur darauf, dass niemand verletzt wird,
soweit das in meiner Macht steht. Deshalb habe ich mich auch
freiwillig gemeldet, den Raum nach den Sitzungen aufzuräumen. So
kann ich zumindest kontrollieren, ob er irgendetwas verändert hat.
Ich würde ihm ohne weiteres zutrauen, dass er zum Beispiel die
Stühle unter Strom setzt, wenn er dadurch erhofft, eine neue
Reaktion zu bekommen oder die Teilnehmer etwas weiter zu treiben.
Ich durchsuche immer das ganze Zimmer, wenn ich dort bin. Bisher
war aber nichts. Doch wie ich gehört habe, gibt es ein Problem,
weil immer wieder Dinge gestohlen werden.«
»Wirklich?«
»Ja. Sein Poltergeist soll eine diebische Elster
sein. Er mag Glitzersachen, stiehlt den Leuten die Schlüssel und
durchwühlt die Handtaschen der Frauen. Das hat er vom ersten Tag an
getan. Es hat mich übrigens überrascht, dass Tuck Ihnen einfach so
die Schlüssel zum Séance-Raum überlassen hat, denn er würde
wirklich in Schwierigkeiten geraten, wenn die verloren
gingen.«
»In welchen Schwierigkeiten würde er denn stecken,
wenn er einen Assistenten verlieren würde?«
»Das hängt davon ab, wie er ihn verliert«,
entgegnete sie. »Wenn er einfach kündigt, wäre das überhaupt kein
Problem. Wenn er allerdings tot wäre … Dann wäre das schon etwas
unangenehmer.«
Sie wusste offensichtlich noch nichts von Mark.
»Lesen Sie eigentlich Zeitung oder schauen Sie sich die Nachrichten
an?«
»So selten wie möglich. Ich brauche nicht noch mehr
Gründe für Alpträume. Tuck hat mir schon genügend davon beschert.
Warum?«
»Kennen Sie Mark Lupoldi?«
»Den Special-Effects-Typen von Tuck? Na
klar.«
»Er wurde vergangenen Mittwoch umgebracht. Er ist
nicht mehr zur Sitzung erschienen.«
Frankie starrte mich fassungslos an. »Sie machen
Scherze – oder?«
»Nein, leider nicht. Die Polizei untersucht jetzt
den Fall.«
»Um Gottes willen! Ehrlich?«
»Ganz ehrlich.«
Frankie bekam vor Verblüffung ihren Mund nicht mehr
zu. Sie schüttelte fassungslos den Kopf und starrte in ihre leere
Kaffeetasse. Als jemand das Büro betrat, blickte sie
im Gegensatz zu mir nicht einmal auf. Ein schlaksiger grauhaariger
Mann in einem weiten Pulli stand neben der Tür und hielt einen
Becher in der Hand, der fast genauso groß war wie der von
Frankie.
»Oh, sorry. Ich wollte nicht stören. Ich bringe
Madam Frankie nur ihren Kaffee, bevor sie mir endgültig den Kopf
abreißt. Ist sie da? Ich dachte, ich hätte sie gehört …«
Ich trat beiseite, damit er Frankie sehen konnte.
»Sie ist gerade etwas durch den Wind.«
Er lächelte mich verschmitzt an. »So schlimm kann
es nicht sein. Sie flucht ja gar nicht.« Er betrachtete sie
genauer. »Oh, nein. Das sieht doch viel schlimmer aus als
gedacht.«
»Ein Bekannter von ihr ist gestorben.«
»Oh.« Er trat zu ihr und ging neben ihr in die
Hocke. Vorsichtig goss er seinen Kaffee in ihren Becher. »Ich habe
dir Kaffee gebracht, Frankie. Hallo! Erde an Frankie! Zeit für ein
paar Flüche. Er ist von Starbucks.«
»Du hast mir wirklich einen Kaffee von Starbucks
…«, murmelte sie.
»Ich weiß doch, wie gerne du dich beschwerst. Da
wollte ich dir den Gefallen tun. Aber wie ich höre, geht es dir
nicht gut.«
»Es geht mir nicht nur nicht gut, ich fühle mich
wie das unbedeutendste Fossil, das je gefunden wurde.«
»So gut?« Er sah zu mir hoch. »Sie flucht schon
wieder. Jetzt geht es ihr bald besser.«
Daraufhin brach Frankie in Tränen aus und presste
ihr Gesicht an die Schulter des Mannes. Er sah zwar verblüfft aus,
gab mir aber mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich gehen
könnte.
Es war mir nicht ganz wohl dabei, Frankie einfach
allein
zu lassen. Schließlich war es meine Schuld, dass sie so aufgewühlt
war, aber sie hätte sich sicher nicht besser gefühlt, wenn sie es
am nächsten Tag von Solis erfahren hätte. So wusste sie zumindest
schon, dass ihr ein Besuch der Polizei bevorstand.
Draußen schüttete es, und ich stellte mich unter
eine Markise, um die Danzigers anzurufen. Ich wollte sichergehen,
dass Frankies Geschichte über Tuckmans Rauswurf tatsächlich
stimmte. So amüsant ihre Version auch klang, so war mir doch auch
klar geworden, dass sie mit Tuckman ein gehöriges Hühnchen zu
rupfen hatte, was sie vielleicht nicht ganz objektiv sein ließ.
Doch die Danzigers antworteten nicht. Ich hinterließ also eine
Nachricht.
Eine seltsame Vorahnung quälte mich. Das war
eigentlich gar nicht typisch für mich, weshalb ich mich nun doppelt
unwohl fühlte. Meine ständigen Besuche im Grau hatten mich jedoch
für bestimmte Situationen sensibilisiert, und so konnte ich nur
hoffen, dass ich mich irrte.
Um halb zwei wollte ich mich mit Wayne Hopke
treffen. Bis dahin gab es noch einige Dinge zu erledigen.
Wayne Hopke lebte auf einem zwölf Meter langen
Motorboot, das nach Zigaretten, Bier und einem Putzmittel mit
Zitronenduft roch. Es lag am Kanal in der Nähe der Ballard Locks
vor Anker, und Hopke war bei meinem Eintreffen mit einem breiten
Grinsen auf dem Gesicht und einem Bier in der Hand herausgekommen,
um mich zu begrüßen. Er war, wie Cara gesagt hatte, tatsächlich ein
netter Kerl, der sich seit seiner Pensionierung allein fühlte und
versuchte, diese Einsamkeit durch Gespräche und kalte Biere so oft
wie möglich zu vertreiben. Obwohl er schon seit einiger Zeit nicht
mehr bei der Armee war und sich auf die siebzig
zubewegte, wirkte er noch immer sehnig und trug seine weißen Haare
militärisch kurz geschnitten. Seine restliche Erscheinung hatte er
jedoch seinem Leben als Zivilist angepasst – blaue Jeans,
Segelschuhe und ein lockeres Sweatshirt.
Er begann sogleich enthusiastisch von sich und dem
Grund zu erzählen, warum er dem Projekt beigetreten war. Eine ganze
Weile plapperte er über seine spannende Zeit bei der Armee und dem
Leben danach und leerte dabei mehrere Biere. Doch der Alkohol
schien ihn nicht zu benebeln. Er wusste auf die Minute genau, wann
er zu den Séancen gestoßen war, was er von ihnen hielt und wer wann
was gemacht hatte. Aus der ganzen Gruppe war er derjenige, der den
anderen am entspanntesten und mit den wenigsten Vorurteilen
gegenübertrat. Ihn schien keiner wirklich zu stören oder zu ärgern,
und er glaubte an das Projekt. Allerdings war er nicht in der Lage,
genaue Gründe für seine Begeisterung zu nennen. Ihm gefiel das
Ganze einfach. Punktum.
Jedes Mal, wenn er ein Bier ausgetrunken hatte,
zerdrückte er die Dose und warf sie in einen Eimer, der bereits
voll war. Dann öffnete er den Kühlschrank und holte sich eine neue
heraus. Ein winziger gelber Faden schien jeder weggeworfenen Dose
zu folgen und in einem schwachen Dunst über dem Eimer
aufzugehen.
Eine der Dosen machte auf einmal einen Schlenker
und flog in meine Richtung. Ich duckte mich und schlug sie
beiseite.
Hopke blickte auf. »Entschuldigen Sie vielmals! Das
passiert in letzter Zeit immer häufiger.«
Ich winkte ab, behielt aber den dünnen Nebel im
Auge, der um die Bootskabine herum schwebte. Immer wieder
konnte ich beobachten, wie winzige Fangarme aus grauer Energie
nach uns griffen. »Ich gewöhne mich allmählich daran.«
Das Boot schwankte und riss an den Tauen. Die
plötzliche Bewegung und der Geruch der Kabine brachten mich zum
Würgen, und ich musste mich an meinem Stuhl festklammern. Mehrere
Bücher segelten aus den festgeschraubten Regalen und blieben für
einen Moment schwebend in der Luft hängen, ehe sie an meinem Kopf
vorbei auf den Boden flogen.
Hopke beugte sich hinunter, um sie aufzuheben und
auf den Tisch zu legen. »Verdammt! Celia wird in letzter Zeit
ziemlich unverschämt.«
»Ist das ungewöhnlich?«
»Nein, nicht ungewöhnlich, aber seit letzter Woche
passiert es deutlich öfter. Sie hat von Anfang an dazu tendiert,
das zu tun, wonach ihr gerade der Sinn steht. Ich glaube, heute
Morgen hat sie zum Beispiel meine Schlüssel genommen. Zum Glück
habe ich nicht vor wegzugehen, denn bisher konnte ich sie noch
nicht wiederfinden. Hoffentlich sind sie nicht ins Wasser
gefallen.«
»Das wäre etwas unangenehm.«
»In der Tat.«
»Also gut«, sagte ich und machte es mir wieder auf
dem Stuhl bequem. »Wenn wir schon einmal beim Thema sind, würde ich
gerne mit Ihnen über den gestrigen Tag sprechen.
Einverstanden?«
»Klar.«
»Warum war die Sitzung gestern so anders als die
bisherigen? Was glauben Sie?«
»Na ja, es ist Mark.«
»Einen Moment«, bat ich und hob eine Hand, um ihn
zu
unterbrechen. »Wollen Sie damit sagen, dass Marks Tod etwas mit
den gestrigen Ereignissen zu tun hat?«
»Ja, das will ich. Ich glaube, dass Mark bei uns
ist. Zumindest stammte gestern die Energie auf irgendeine Weise von
ihm. Vielleicht, weil wir an ihn gedacht haben. Was es auch sein
mag – Sie können nicht leugnen, dass die Sitzung gestern anders war
als sonst. Und die einzige Veränderung in der Gruppe war Marks
Tod.«
»Und wie erklären Sie sich dann die immer heftiger
werdenden Phänomene vor Marks Tod?«
»Das war nur eine natürliche Steigerung. Wir haben
konzentriert miteinander gearbeitet und wurden immer besser. Ich
bin mir sicher, dass es nur daran lag.«
»Aber die Veränderungen kamen doch sehr plötzlich.
Glauben Sie, dass Sie alle in gleicher Weise dazu beitragen, dass
diese Erscheinungen auftreten, oder meinen Sie, dass da noch etwas
anderes mit hineinspielt?«
»Wenn Sie damit einen Schwindel meinen, dann bin
ich mir sicher, dass Sie sich irren. Wir sind alle auf dem gleichen
Level. Möglicherweise sind ein oder zwei Teilnehmer etwas besser
als die übrigen und legen sich mehr ins Zeug. Jedes Team hat seine
Zugpferde – jemand, der die Richtung angibt oder etwas stärker
zieht, um die anderen zu ermutigen.«
»Und wer wäre das Ihrer Meinung nach?«
Hopke lachte. »Das weiß ich nicht. Celia scheint
Ken besonders gern zu mögen, aber das bedeutet noch nicht, dass er
irgendetwas dafür getan hat. Sie hatte eine Zeit lang auch ihre
Zuneigung für Cara entdeckt, weshalb ich ziemlich überrascht war,
als Cara gestern verletzt wurde. Zuerst wirkt sie ja recht kühl,
aber sie ist kein schlechtes Mädchen. Vermutlich handelt es sich
nur um einen Unfall, weil wir
alle so aufgewühlt waren. Mark war ein guter Junge, und wir
mochten ihn. Falls er bei Celia ist, würde er Cara bestimmt nicht
absichtlich verletzen.«
Er dachte einen Moment lang nach und runzelte dann
die Stirn. »Bis jetzt sind unsere Sitzungen immer sehr angenehm
verlaufen. Aber mir ist natürlich bewusst, dass es ein paar
Spannungen gibt. Dale kann sehr eifersüchtig sein und Patricia
schnell die Nerven verlieren. Vielleicht haben wir uns das also
selbst angetan … Na ja, da kommt man schon ins Grübeln.«
»Ja, das stimmt. Von Dale und Patricia einmal
abgesehen – gibt es sonst noch Spannungen in der Gruppe?«
»Die Studenten sind manchmal etwas komisch. Ich bin
mir sicher, dass sie einem alten Kerl wie mir nicht viel zutrauen –
normalerweise meinen Zwanzigjährige ja, sie hätten den Sex erfunden
-, aber ich habe so etwas schon oft erlebt. Solche Dinge führen zu
mehr Verletzungen und Schmerzen als Alkohol und Autofahren.«
»Und was war mit Mark?«
»Was soll mit ihm gewesen sein?«
»Hatte irgendjemand in der Gruppe Probleme mit ihm?
Oder vielleicht einen Grund, ihm wehtun zu wollen? Sie meinten,
dass Mark jetzt bei Celia sein könnte. Hätte er denn einen Grund,
auf jemanden sauer zu sein? Oder nachtragend zu sein?« Ich war mir
zwar ziemlich sicher, dass nicht der Geist von Mark Lupoldi die
Brosche geworfen hatte, aber Hopkes Gedanken konnten mich
vielleicht auf eine interessante Spur bringen.
»Mark war sehr umgänglich und direkt. Wenn er ein
Problem mit jemandem hatte, sagte er das oder machte vielleicht
einen Witz darüber. Aber er war nicht nachtragend oder
hinterhältig. Falls Mark auf jemanden wütend gewesen
wäre, hätte er das doch bestimmt nicht an Cara ausgelassen. Oder
wollen Sie damit andeuten, Celia hätte Mark umgebracht? Das ist
doch einfach lächerlich.«
»Wirklich?«
»Celia besteht aus uns allen, und da keiner von uns
Mark verletzen würde, käme bestimmt auch Celia nicht auf eine
solche Idee.«
Eine weitere Dose erhob sich in die Luft und
knallte diesmal gegen meine Stirn.
»Alles in Ordnung?«, fragte Hopke und beugte sich
besorgt zu mir.
Ich rieb mir den Kopf. »Ja, sie war ja zum Glück
schon leer.«
»Ja, zum Glück.«
Ich wollte nun das Gespräch so schnell wie möglich
zu Ende bringen, ehe Celia noch unverschämter werden konnte. »Ich
hätte nur noch eine Frage. Sie meinten, dass Sie nach Ihrer
Pensionierung etwas gesucht hätten, womit Sie sich beschäftigen
könnten. Aber warum haben Sie gerade dieses Projekt gewählt?«
»Wissen Sie, ich habe über die Jahre viele Freunde
sterben sehen und fragte mich irgendwann, ob es nicht noch mehr
gibt als im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten und dann den
Löffel abzugeben. Entschuldigen Sie, wenn ich mich so salopp
ausdrücke.«
»Ich habe schon Schlimmeres gehört.«
Hopke nickte und fuhr fort. »Ich wollte einfach
wissen, wie es nach diesem Leben vielleicht weitergehen könnte –
falls es überhaupt weitergeht.«
»Sie sind mutiger als ich«, gab ich ehrlich
zu.
»Das bezweifle ich. Sie scheinen mir ein ziemlich
mutiges Mädchen zu sein.«
»Vielleicht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich
wissen möchte, was nach dem Tod mit uns passiert.«
Er leerte ein weiteres Bier. »Wenn Sie erst einmal
in meinem Alter sind, ändern Sie vielleicht Ihre Meinung.«
Das bezweifelte ich zwar, aber Hopke wusste ja auch
nicht, was ich in Wahrheit meinte.
»Und sind Sie zufrieden mit dem, was Sie bisher
herausgefunden haben?«, fragte ich.
»Bisher schon. Ich will zwar noch viel mehr
erfahren, aber ich finde es schon einmal einen Fortschritt, zu
wissen, dass wir weder in dieser Welt noch in der nächsten ganz
machtlos sind.«
Ich stand auf. »Vielen Dank, Mr. Hopke. Das war
alles, was ich wissen wollte.«
»Sie wollen schon gehen?«, fragte er und erhob sich
ebenfalls. »Das hat aber nicht lange gedauert.« Er lächelte mich
hoffnungsvoll an. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch ein Bier
möchten?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte ebenfalls.
»Ich habe leider keine Zeit mehr. Aber danke für das
Angebot.«
Er führte mich zur Reling und half mir, auf den Kai
zu springen. Als ich mich umdrehte, um mich noch einmal zu
verabschieden, sauste etwas Metallenes an meinem Kopf vorbei und
fiel ins Wasser. Allein die Nähe des Gegenstandes löste erneut ein
Pochen in meinem Gehirn aus.
»Oh, verdammt«, stöhnte Hopke. »Das waren meine
Schlüssel. Na ja – jetzt muss ich sie wohl irgendwie da
herausfischen.«
Ich starrte in das trübe grüne Kanalwasser unter
uns. »Wie tief ist das denn? Können Sie die denn so einfach wieder
rausholen?«
»Ich hoffe schon. Das Wasser ist hier sehr niedrig,
weil
der Kanal ursprünglich zur Bay gehörte.« Er blickte ins Wasser und
holte sich dann eine weitere Dose Bier aus dem Kühlschrank. »Na ja,
dann sollte ich wohl besser anfangen. Sie wissen ja – Bier und
Angeln passen gut zusammen.«
Ich wünschte ihm viel Glück bei der Suche und ging.
Hopke tauchte einen großen Magneten an einer Angelschnur ins Wasser
und trank dabei sein Bier. Irgendwie mochte ich den Mann und fand
es eigentlich schade, dass er bei diesem Projekt wahrscheinlich
nicht viel über das Leben nach dem Tod herausfinden würde. Damit
würde er sich wohl beschäftigen müssen, wenn es einmal so weit war,
und ich hoffte, dass das noch nicht so schnell passierte.