ZWEIUNDZWANZIG

Vielleicht wusste der Poltergeist, dass ich daran arbeitete, ihn zu zerstören, oder vielleicht hatte er auch nur schlechte Laune. Jedenfalls verbrachte ich den Donnerstagabend damit, mich vor seinen Angriffen in Sicherheit zu bringen. Bereits auf der Heimfahrt im Auto flogen mir immer wieder kleine Gegenstände gegen den Kopf und ins Gesicht. Meine Ausweichbewegungen ließen mich einmal fast von der Straße abkommen. Da ich mich gerade auf dem Viadukt befand, sah ich für einen Moment das Wasser unter mir, ehe ich das Lenkrad wieder herumriss.
Zu Hause ging es weiter. Noch nie hatte ich es derart bedauert, so viele Bücher und witzige Gegenstände zu sammeln, wie an diesem Tag. Ein Stuhl raste wie ein zorniger Hund auf mich zu, sobald ich die Wohnung betrat. Zwei Buchstützen aus Bronze fielen aus dem Regal und segelten auf meinen Kopf zu. Ich zog ein Stück des Grau um mich und wich ihnen hastig aus. Allerdings trafen sie mich noch immer an der Schulter.
Chaos rannte wie verrückt in seinem Käfig hin und her. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Als ich auf ihn zutrat, flatterte ein gebundenes Buch an mir vorbei und krachte gegen die Wand. Das Frettchen war normalerweise ziemlich hart im Nehmen, aber ich bezweifelte, dass es sich gegen fliegende Bücher behaupten konnte. Ich holte es also aus seinem Käfig und schützte es mit meinem Körper, während ich ins Schlafzimmer rannte. Leider folgte mir der Poltergeist.
Also setzte ich Chaos in die Badewanne und eilte ins Schlafzimmer zurück. Ich duckte mich, um mehreren fliegenden Gegenständen aus dem Weg zu gehen, während ich jedes schwere, spitze oder harte Objekt aus dem Raum entfernte. Dann verschloss ich die Dinge im Flurschrank und drückte mühsam die Tür zu. Aus dem Schrank war bald ein wildes Toben zu hören. Ich ließ mich davon jedoch nicht beirren, sondern holte stattdessen die gefährlichsten Sachen aus dem Wohnzimmer, die ich in meine beinahe leeren Küchenschränke stopfte.
Dann brachte ich Chaos in seinen Käfig zurück. Offenbar war er nicht in Gefahr, solange ich mich nicht in seiner Nähe aufhielt. Celia besaß eine Verbindung zu mir, aber nicht zu meinem Haustier. Vorsichtshalber stapelte ich trotzdem mehrere Kissen um seinen Käfig herum auf, ehe ich ins Schlafzimmer zurückrannte und die Tür hinter mir schloss. Während der Nacht wachte ich immer wieder auf, weil ich in regelmäßigen Abständen von kleinen Dingen bombardiert wurde. Aber am nächsten Morgen war das Frettchen zu meiner Erleichterung unverletzt, und der Poltergeist schien sich etwas beruhigt zu haben.
 
Als Erstes rief ich Solis an, der darauf bestand, mich im Le Crêpe, einem kleinen Café auf der Second Avenue, zu treffen, anstatt am Telefon über Tuckmans Projekt zu reden. Natürlich war er wie immer schweigsam und undurchdringlich, als wir uns gegenübersaßen. Seine schmalen Augen und seine ausdruckslose Miene konnten natürlich auch von Erschöpfung und Schlaflosigkeit herrühren, aber ich war mir da nicht so sicher. Nach meiner schlechten Nacht trank ich einen Kaffee nach dem anderen und fühlte mich in einer ähnlich unkommunikativen Laune wie der Kommissar.
Ich warf einen Blick über seine Schulter auf die vormittägliche Straße vor dem Fenster. »Wie laufen die Untersuchungen?«, wollte ich wissen.
»Noch ist alles offen. Erzählen Sie mir erst einmal, was am Mittwoch passiert ist.«
»Ich kann Ihnen nicht viel erzählen, weil ich es selbst noch nicht ganz verstehe. Aber Tuckman bricht das Experiment ab.«
»Wieso?« »Irgendetwas hat im Aufbau nicht gestimmt. Deshalb lief auch so viel schief. Einige der Teilnehmer wurden verletzt, und das Ganze ist einfach zu riskant geworden. Die Einzelheiten sind ziemlich verwirrend, aber es läuft darauf hinaus, dass abgebrochen wird. Ich muss mich allerdings noch etwas mit den Teilnehmern beschäftigen. Deshalb hielt ich es auch für das Beste, Ihnen zu sagen, dass Sie mich noch nicht ganz los sind – aber fast.«
»Es wäre mir lieber, wenn Sie mir die Nachforschungen überlassen würden.«
Ich seufzte und schwindelte weiter. »Solis, das würde ich liebend gern, aber auch ich muss meinen Job machen. Was bei Tuckmans Projekt nicht stimmt, betrifft uns wahrscheinlich beide. Aber das kann ich nicht einfach nur annehmen und Ihnen die Dinge überlassen. Ich muss das leider selbst herausfinden. Sie müssen zugeben, dass ich bisher sehr kooperativ war – sogar mehr als nötig. Also werden Sie es jetzt doch wohl schaffen, mich noch ein wenig länger zu ertragen. Es sei denn, Sie haben einen guten Grund, mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen.«
Jetzt war es an ihm zu seufzen. »Also gut. Was haben unsere Fälle Ihrer Meinung nach denn gemeinsam?«
»Nun ja …« Ich hielt inne, um meine Gedanken so zu ordnen, dass ich nichts sagte, was er als wirr oder verrückt hätte abschreiben können. »Ich habe mir die Leute und die Situation, die Tuckman bei diesen Séancen geschaffen hat, genau angesehen. Ich glaube, dass er entweder einen Psychopathen in seine Runde aufgenommen oder jemanden so weit gebracht hat, zu einem zu werden. Meiner Meinung nach wurde Mark Lupoldi von etwas beziehungsweise jemandem in Tuckmans Séance-Zirkel umgebracht. Es hat sich herausgestellt, dass die Vorfälle, die Tuckman einem Saboteur zuschrieb, wohl ebenfalls auf diese Person zurückzuführen sind. Er hat sich absichtlich Leute ausgesucht, die psychisch nicht ganz stabil sind und Probleme haben. In einem geeigneten Umfeld ist es da geradezu unvermeidbar, dass starke Spannungen entstehen. Die Gruppe glaubt, recht seltsame Dinge machen zu können und dass ihr das von niemandem angekreidet werden würde. Ich kenne mich mit Psychologie nicht sonderlich gut aus, aber ich könnte mir vorstellen, dass ein Mensch, der kurz vor dem Ausbruch einer Psychose steht, in einem solchen Umfeld geradezu dazu ermutigt wird, ganz in den Wahnsinn abzudriften.«
Solis blickte in seine Tasse und nickte nachdenklich. »Das könnte durchaus sein. Aber ich bin nur daran interessiert, den Mörder zu finden.«
»Haben Sie bereits einen Verdächtigen? Ich könnte Ihnen da einige zur Auswahl anbieten.«
Er knurrte. »Es geht um Beweise und nicht um Spekulationen. Ich muss zum Beispiel endlich die Schlüssel finden oder erfahren, wie Lupoldi tatsächlich zu Tode kam … Natürlich glaube ich auch, dass Professor Tuckmans Projekt etwas mit dem Mord zu tun hat, und ich habe mir seine Teilnehmer und die Assistenten bereits genau angesehen. Wen verdächtigen Sie?«
Ich sagte es ihm, und er zog die Augenbrauen hoch, erwiderte aber nichts. Er weigerte sich, mir irgendeinen Hinweis zu geben. So viel zu einem gerechten Austausch von Informationen.
Auf dem Weg zurück zu meinem Büro ging ich durch das Grau, ohne auch nur darüber nachzudenken. Ich überquerte Pioneer Square und ignorierte den Phantom-Verkehr und die verschiedenen Zeitschichten. Plötzlich sauste etwas an meinem Kopf vorbei, berührte mich an der Schläfe und riss mir ein Haarbüschel aus.
Ich wirbelte herum und suchte nach dem Schuldigen, bis ich einen ziemlich heruntergekommenen Mann mit schmutzigen Klamotten auf einer Bank in der Nähe entdeckte. Er hielt hilflos die Hände in die Höhe. Eine abgeknickte Zigarette war auf den feuchten Boden vor ihm gefallen, und er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich sah nach unten und entdeckte ein Feuerzeug aus Metall, das einen halben Meter von mir entfernt lag. Während ich mich danach bückte, betrachtete ich es genauer im Grau. Ein dünner Faden aus gelber Energie war gerade dabei, sich in Luft aufzulösen und wie eine Schlange in die undurchdringlicheren Tiefen des Grau zu verschwinden.
Als ich mich umsah, entdeckte ich einen flüchtigen gelben Nebel, der von roten Flecken und silbernen Zeitsplittern durchsetzt war. Ich hob das Feuerzeug auf und machte es an. Das Stück Celia wanderte um Pioneer Square, als ob es sich gar nicht für mich interessieren würde. Vielleicht tat es das diesmal auch wirklich nicht, aber seine Gegenwart beunruhigte mich doch. Ich hatte am Abend zuvor zu viel Zeit damit verbracht, mich vor fliegenden Büchern und Nippes in Acht zu nehmen. Sie alle hatten den gleichen gelben Faden aus grauer Energie gehabt, den auch das Feuerzeug aufwies. Wenn ich an die Gewalt dachte, die Celia am Mittwoch und am Abend zuvor angewandt hatte, war ich überrascht, wie harmlos der Angriff mit dem Feuerzeug gewesen war.
Ich brachte es dem Obdachlosen auf der Bank.
»Gehört das Ihnen?«
Er stotterte, während er am ganzen Körper zitterte. Offensichtlich hatte er Angst vor mir und wusste nicht, was er sagen sollte. Dann platzte er heraus: »Das war ich nicht! Ganz ehrlich! Es ist einfach …«
Ich nickte mit einem wehmütigen Lächeln. »Ich weiß. Es hat sich einfach losgerissen. Manchmal passiert so was.« Ich sah auf die zerbrochene Zigarette, die vor ihm auf dem Boden lag, und nutzte die Gelegenheit, mich auch noch rasch nach Celia umzuschauen, aber das Wesen war verschwunden. »Gehört die auch Ihnen?«
Er blickte auf die Zigarette, und seine Miene spiegelte große Enttäuschung wider, als er bemerkte, dass sie nicht mehr zu gebrauchen war. »Ja«, meinte er.
Ich suchte in meiner Tasche nach dem Wechselgeld, das ich von meiner Tasse Kaffee zurückbekommen hatte, und gab es ihm zusammen mit dem Feuerzeug. »Passen Sie gut darauf auf. Verlieren Sie es nicht wieder.«
Seine Augen leuchteten, und er grinste mich zahnlückig an. »Werde ich bestimmt nicht. Vielen Dank, Miss! Wirklich sehr großzügig von Ihnen.«
Ich murmelte etwas und ging weiter. Die Pflastersteine waren ziemlich rutschig, als ich durch die dichte Wand aus Geistern zu meinem Büro eilte.
Ich war gerade dabei, die Treppe hinaufzusteigen, als mein Handy vibrierte. Ich zog es aus der Hosentasche und klappte es auf.
»Sie müssen etwas dagegen tun.«
»Was? Entschuldigen Sie, Professor Tuckman. Aber wir haben den Fall gestern Abend abgeschlossen«, antwortete ich und klemmte mir das Telefon zwischen Kinn und Schulter, während ich meine Bürotür aufschloss.
»Ja, weiß ich. Aber etwas muss geschehen. Sie scheinen zu verstehen, was dieses Ding …«
»Nein, Tuckman. Sie verstehen es. Sie wollen nur nicht die Verantwortung dafür übernehmen.«
»Ms. Blaine!«
Ich erinnerte mich daran, dass ich seinen Scheck noch nicht eingelöst hatte, und seufzte. »Was gibt es denn für ein Problem?«
»Celia verfolgt und quält die Teilnehmer.« »Sie verfolgt und quält sie? Was darf ich mir genau darunter vorstellen?« Vielleicht herrschte bei mir im Moment deshalb eine gewisse Ruhe, weil Celia sich anderswo austobte. Ich warf meine Tasche auf den Boden neben den Schreibtisch und setzte mich.
Ohne seine Drohgebärden und seine herablassende Arroganz klang er verdrießlich und missmutig. »Wenn man bedenkt, wie stark die Gruppe in letzter Zeit den Angriffen von Celia ausgesetzt war, braucht es nicht viel, um ihre Attacken bereits als quälend zu empfinden. Alle – wirklich alle – haben mich angerufen, um mir zu erzählen, dass sie der Poltergeist belästigt.«
»Na, toll. Hören Sie zu, Tuckman. Soweit ich das verstanden habe, ist Celia doch von der Gruppe erschaffen worden – nicht wahr?«
»Ja, klar«, erwiderte er ungeduldig.
»Gut. Wenn der Poltergeist also existiert, weil die Leute glauben, dass er existiert, dann wäre es doch logisch, sie dazu zu bringen, nicht mehr daran zu glauben.«
»Und Sie nehmen an, dass die Leute aufhören werden, daran zu glauben, obwohl sie von diesem angeblichen Geist gequält und angegriffen werden?«
»Genau darum geht es, Tuckman. Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Sie haben den Leuten eingeredet, an Celia zu glauben. Also müssen Sie Ihnen jetzt beibringen, wieder skeptisch zu sein. Warum erklären Sie nicht einfach, das alles sei ein Schwindel gewesen? Erzählen Sie, dass Sie das Zimmer mit allem möglichen technischen Schnickschnack ausstaffiert hätten und fast nichts, was sie erlebt haben, echt gewesen sei? Das sollte sie doch wachrütteln. Wenn Sie die Gruppe dazu bringen, Ihnen zu glauben, hört Celia vielleicht auch auf, sie zu ärgern.«
Ich sagte natürlich nicht, dass der verdammte Poltergeist auch mich nicht in Ruhe ließ. Das Wesen hatte sich mit seinem Herrn und Meister zusammengeschlossen, und ich bezweifelte, dass die anderen viel tun konnten. Die einzige Möglichkeit war, es durch einen immer schwächer werdenden Glauben zu untergraben, aber im Grunde nahm ich nicht an, dass das viel bringen würde.
Tuckman schwieg und dachte offenbar nach.
»Ehrlich, Professor Tuckman. Sie müssen sie davon überzeugen, dass Celia nicht existiert. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Der Poltergeist hat inzwischen ein Eigenleben, aber wenn es Ihnen gelingt, den Glauben der Gruppe zu erschüttern, können Sie ihn vielleicht davon abhalten, noch Schlimmeres anzurichten. Seien Sie einfach brutal. Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig.«
»Sie haben mir überhaupt nicht weitergeholfen«, zischte er wütend.
»Dann werde ich Ihnen auch nichts dafür berechnen. Viel Glück, Herr Professor. Und vergessen Sie nicht, dass das kein Spiel ist. Ihr Geist hat bereits einen Ihrer Assistenten umgebracht. Das Ganze muss aufhören, und nur Sie können das schaffen. Nicht ich.«
Ich konnte beinahe hören, wie er vor Wut kochte. Dann legte er auf. Wenn ich Glück hatte, würde ich nie mehr von Gartner Tuckman hören.
Ich arbeitete eine Zeit lang in meinem Büro, wobei ich mich immer wieder ducken musste, wenn ein Gegenstand auf mich zuflog. Gegen Mittag machte ich mich auf den Weg zum Restaurant von Phoebes Eltern. Hugh hatte mir gesagt, dass ich Phoebe dort finden würde. Ich brauchte dringend Amandas Adresse. Ich hätte sie auch einfach anrufen können, aber das würde bestimmt nicht helfen, die Unstimmigkeiten zwischen uns auszubügeln. Phoebe hätte es vielleicht als einen weiteren Versuch empfunden, ihr aus dem Weg zu gehen. Außerdem mochte ich die Masons und wollte endlich mal wieder andere Gesichter sehen als die von Tuckman und seiner Gruppe.
 
Der Ansturm zur Mittagszeit war bereits vorüber, als ich eintraf. Wieder einmal war die Familie damit beschäftigt, das Restaurant für Freitagabend vorzubereiten. Ich verbrachte viel Zeit in Cafés und Lokalen, aber hier machte mir das nichts aus. Ich genoss die Gesellschaft der Masons. Selbst wenn sie so beschäftigt waren wie an diesem Tag, schafften sie es doch immer, mich herzlich willkommen zu heißen. Sie hatten alle laute Stimmen und strahlten eine ansteckende Gelassenheit aus.
Als Oberhaupt der Familie hatte Phoebes Vater wie immer seinen Platz am Kopf des Tisches eingenommen, der im hinteren Raum stand. Mit einer von Arthritis geschundenen Hand hielt er ein Glas Leitungswasser fest, das er allerdings vor allem benutzte, um damit auf den Tisch zu klopfen. Poppy war wettergegerbt und ziemlich verhutzelt. Er erinnerte an eine Walnuss, die man lange in der Hand gehalten hatte. Noch immer stellte es für ihn kein Problem dar, die ganze Familie fest im Griff zu haben, ohne viel mehr als sein Glas und seine Stimme zu erheben. Der Clan eilte um den Tisch herum, stürzte in die Küche und wieder hinaus. Sie wirkten alle wie eifrige Fledermäuse, die es schafften, alles zu erledigen, was Poppy ihnen befahl, ohne einander in die Quere zu kommen. Als er mich entdeckte, winkte er mich zu sich heran.
»Harper! Komm sofort zu mir, Mädchen. Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Ich hatte schon befürchtet, dass du so dürr geworden bist, dass dich der Wind weggeblasen hat.« Sein Akzent war noch immer so stark, als wäre er gerade eben erst aus Jamaika gekommen. In Wahrheit lebte er bereits seit über dreißig Jahren hier.
Ich drückte mich an den zahlreichen Familienmitgliedern vorbei und setzte mich neben ihn. Die Küchenwand befand sich direkt hinter mir und fühlte sich herrlich warm an, vor allem, da es draußen inzwischen recht kühl geworden war. »Nein, Poppy. So schnell wirst du mich nicht los.«
Er löste seinen Zeigefinger vom Glas und piekste mich damit testend in die Schulter. »Lange wird es aber nicht mehr dauern. Vermutlich wissen die dummen weißen Jungs, mit denen du ausgehst, nicht, was schön ist. Es ist wirklich schade, mit ansehen zu müssen, wie ein nettes Mädchen so dahinsiecht.«
Ich zog eine Grimasse. »Na ja, ich muss mich eben damit abfinden. Hugh scheint zumindest Gefallen an mir zu finden.«
Sein ganzer Körper zitterte, als er sich vor Lachen schüttelte. Für einen kleinen Mann Mitte siebzig konnte er ziemlich laut sein. Nach einer Minute beruhigte er sich wieder und rieb sich kichernd mit dem Handrücken die Augen.
»Mädchen, ich wusste, dass du es in dir hast.«
»Was habe ich in mir?«, fragte ich.
»Du kannst auftauen, wenn du willst.«
Ich sah ihn verblüfft an. »Wie bitte?«
»Harper – seitdem du im Krankenhaus warst, bist du so hart und eisig wie ein Stück Stahl in der Gefriertruhe gewesen. Es überrascht mich, dass du überhaupt einen Mann gefunden hast. Du hast eisige Wände um dich herum aufgebaut, als ob du erwarten würdest, dass dich wieder jemand verletzt. Aber wenn du niemanden an dich heranlässt, dann kann dich auch niemand lieben. Zu uns bist du auch nicht mehr gekommen. Brauchst du denn deine Familie nicht? Du weißt doch, dass du zur Familie gehörst, selbst wenn du so dürr bist wie eine Bohnenstange.«
Ich sah den alten Mann mit seinen scharfen schwarzen Augen für eine Weile fassungslos an.
Zögerlich fragte ich: »Du … Du kannst eine Art von Wand um mich sehen?« Falls ich tatsächlich so etwas errichtet hatte, dann musste ich einen guten Grund haben, die Welt auf Distanz zu halten. Dasselbe galt natürlich für Ken – sogar harte Jungs halten nicht alles aus.
Poppy lachte und stupste mich wieder mit dem Finger an. »Das war nicht wörtlich gemeint, Kleine! Aber mentale Wände können genauso undurchdringlich und kalt sein wie echte. Warum siehst du auf einmal so traurig aus?«
Mich hatte tatsächlich plötzlich eine Erinnerung an früher übermannt. »Mein Dad hat mich immer ›Kleine‹ genannt.«
»Entschuldige, Harper. Ich wollte mich nicht zwischen dich und ihn stellen. Wie lange ist er schon tot?«
»Schon lange. Ich war zwölf, als er starb. Jetzt gibt es nur noch mich und Mom, und wir verstehen uns nicht.«
»Ja, ich weiß. Also … Warum schaust du nicht wieder öfter vorbei? Sind wir dir zu anhänglich?« Er lehnte sich zurück und zwinkerte. »Oder vielleicht schmeckt dir Mirandas Essen nicht mehr?«
Ich lachte und war gleichzeitig erleichtert, dass wir nicht weiter über mich und meine schreckliche Familie sprachen – selbst wenn das bedeutete, dass ich mich mit meiner Ersatzfamilie auseinandersetzen musste. »Ich liebe das Essen deiner Frau und wäre sicher in null Komma nichts zweimal so dick, wie du das willst, wenn ich es so oft essen würde, wie ich wollte. Und dreimal so dick, wenn ich es so oft essen würde, wie du das möchtest. Seitdem ich diesen Unfall hatte, ist alles etwas seltsam, und ich habe viel zu tun. Außerdem ist Phoebe noch immer sauer auf mich.«
»Ach, so sauer ist sie auch wieder nicht.«
Ein Teller mit dampfendem Essen wurde vor mich auf den Tisch gestellt.
»Ich bin sehr wohl so sauer.«
Ich blickte auf und sah direkt in Phoebes finsteres Gesicht. Oder vielmehr in ihren Versuch, mich finster anzusehen, der ziemlich missglückte, als sie ein Lächeln nicht länger unterdrücken konnte. Sie stellte sich auch einen Teller mit Essen hin und setzte sich mir gegenüber.
Ein Familienmitglied stellte Gläser mit Wasser auf den Tisch und ging weiter. Ein anderer schubste Besteck und Servietten in unsere Richtung, ohne seine Putztätigkeit und die Vorbereitungen für den Abend zu unterbrechen. Am Freitag und Samstag herrschte hier Hochbetrieb. Die Leute kamen zum Trinken, Essen und Tanzen.
Rund um die Bar und im Restaurant ging es ziemlich zu. Tische wurden hin und her geschoben, um eine Tanzfläche frei zu räumen und um Platz für die Band zu schaffen. Jedes Mal, wenn die Küchentür aufging, hörte ich Rufe und Gelächter. Phoebe und ich mussten unsere Köpfe näher zusammenstecken, um in normaler Lautstärke miteinander sprechen zu können.
»Hi, Mädchen«, sagte sie.
»Hi. Schön, dass du mich überhaupt sehen willst.«
»Als wäre ich jemals lange sauer. Ich war wirklich ziemlich wütend, aber ich konnte dich auch verstehen.« Sie hatte wieder begonnen, stärker mit dem Akzent ihres Vaters zu sprechen.
Da ich mich bereits genügend erklärt hatte, widerstand ich der Versuchung, noch einmal damit anzufangen. »Wie geht es dir?«
»Gut. Ich werde heute Abend im Laden vorbeisehen. Wie sieht es dort aus?«
»Gut. Dein Cousin hat mir gesagt, du könntest mir Amandas Adresse geben. Ich muss mit ihr sprechen.«
»Dieser Germaine! Als Hugh mir erzählt hat, dass er meinen nichtsnutzigen Cousin in den Laden schickt, hätte ich ihn am liebsten erwürgt!«
»Wen – Hugh oder Germaine?«
»Beide! Wie konnte er mir das antun?«
»Er wollte doch nur helfen.«
Poppy lachte und mischte sich in unser Gespräch ein. »Er versucht, dich dazu zu bringen, mit deinem Selbstmitleid aufzuhören, Mädchen. Letzte Woche bist du mit einem langen Gesicht zu uns gekommen und hast um deinen Bekannten geweint. Das ist in Ordnung. Das ist richtig so. Aber inzwischen dauert deine Trauer schon zu lange. Du tust dir nur noch selbst leid. Du bist wie deine Mutter, Phoebe – du musst immer irgendetwas zu tun haben.«
»Ich habe zu tun, Poppy.«
»Du hast mit allem Möglichen zu tun, aber mit dir selbst beschäftigst du dich nicht. Du weißt, dass ich dich liebe, Mädchen, aber jetzt ist es wirklich an der Zeit, dass du wieder nach Hause gehst.«
Er richtete seine funkelnden Augen auf mich. »Du wirst sie doch dazu bringen, wieder in ihre eigene Wohnung zurückzukehren – nicht wahr, Harper?«
»Ich weiß nicht, Poppy … Sie kann ganz schön störrisch sein.«
»Das ist wahr.«
»Ihr beide seid schlimmer als Hugh und Mama!«
Poppy kicherte.
»Phoebe, du weißt, dass er recht hat«, sagte ich.
Sie schnitt eine Grimasse. »Ja. Vor allem nachdem mich hier keiner mehr in Ruhe lässt!«
Hugh kam mit einem Tablett voller Gläser aus der Küche und beugte sich auf dem Weg zur Bar zu Phoebe hinunter, um sie auf die Stirn zu küssen. »Zeig es ihnen, lass dir nur nichts gefallen, große Schwester.«
Eines der Gläser machte plötzlich einen Salto rückwärts und sauste auf mich zu, gefolgt von einem inzwischen vertrauten gelben Faden. Ich fing es auf. Phoebe stellte es vorsichtig wieder auf Hughs Tablett und sah mich misstrauisch an.
»Hast du jetzt auch einen Duppy?«, fragte sie.
»Nur die Gartenvariante, einen Poltergeist«, erwiderte ich. »Nicht so bösartig wie ein Duppy. Die sind doch bösartig, oder?«
»Das sind die bösartigsten Wesen, die man sich vorstellen kann«, erwiderte Poppy.
»Und warum sind sie so bösartig?«, wollte ich wissen und stocherte in meinem Essen herum. Es war zwar lecker, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Zu vieles ging mir im Kopf herum: der Poltergeist, mein Vater, mentale Wände...
Poppy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spielte mit seinem Wasserglas. »Duppys sind die Geister, die es nicht in den Himmel schaffen. Sie gehen irgendwann in den neun Nächten verloren und kehren dann zur Erde zurück. Aber sie haben kein Herz zum Fühlen und kein Gehirn zum Denken. Ihre Seele ist zerbrochen. Die eine Hälfte ist hier und die andere im Jenseits. Sie spüren nicht, was richtig und was falsch ist. Sie denken nicht darüber nach, was passiert. Sie tun einfach nur, worauf sie gerade Lust haben. Sie versetzen dir einen Schlag und zwicken dich oder machen irgendwelche Dinge kaputt.«
»Und woher weiß man, dass es ein Duppy ist?«
»Man kann sie sehen. Sie sehen aus wie Skelette, die von einem Nebel umhüllt sind. Wie … Wie nennt man das noch mal? Irrlichter? So sehen sie aus. Die Geister der Vorfahren kann man nicht sehen. Die sind durchsichtig wie Luft. Aber ein Duppy ist verschmutzt und böse. Je länger sie hier auf der Erde verweilen, desto schlimmer werden sie. Hunde heulen, wenn Duppys in der Gegend sind. Und man spürt ein Spinnennetz auf dem Gesicht. Das ist das Zeichen des Duppy.«
Ich war mir zwar nicht sicher, ob man den gelben Faden als Spinnennetz bezeichnen konnte, aber ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich ihn mit meinem Gesicht berührt hatte. Bei der Untersuchung des Séance-Raumes war ich direkt hineingestürzt und hatte das Gefühl gehabt, von Spinnweben berührt zu werden. Die Vorstellung eines Geistes, der immer bösartiger wird, weil er kein Gewissen hat, schien zu Celia zu passen – und genauso zu ihrem psychopathischen Herrn und Meister.
»Warum willst du etwas über Duppys wissen?«, fragte Phoebe. »Vielleicht machen sie dir deshalb jetzt zu schaffen.«
Ich versuchte mir zu überlegen, welche Geschichte ich ihr auftischen konnte, aber bei Phoebe war es mir schon immer schwergefallen zu lügen. Also entschied ich mich für die Wahrheit.
»Bei Marks Projekt an der Uni ging es um Geister, und ich glaube, dass es da eine Verbindung zu seinem Tod gibt. Diese Duppys scheinen ganz ähnlich zu sein wie der Geist, den sie an der Uni erschaffen haben und …«
»Sie haben an der Uni einen Geist geschaffen? Das ist ja verrückt!«
Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Deswegen möchte ich auch mit Amanda sprechen, um zu erfahren, was an jenem Abend passiert ist, als Mark im Buchladen verletzt wurde.«
Phoebe starrte mich an. »Du meinst also, dass irgendein Geisterwesen Mark verletzt hat? Ehrlich?«
»Ich weiß es nicht. Aber man bekommt keine Antworten, wenn man keine Fragen stellt. Ich bräuchte also Amandas Adresse.«
Phoebe presste die Lippen aufeinander und runzelte die Stirn. »Okay, aber sei nett zu ihr.«
»Werde ich.«
Poppy erlaubte Phoebe nicht, Amandas Adresse zu holen, bis sie aufgegessen hatte. Auch mich wollte er nicht gehen lassen, bis ich ebenfalls meinen Teller leer hatte. Sobald Phoebe in der Küche verschwunden war, sah er mich wieder fragend an.
»Was glaubst du wirklich, Harper? Denkst du, ein Duppy hat Mark umgebracht?«
Ich richtete meine Augen auf den Tisch. »Ich weiß es ehrlich nicht.«
»Du kannst mir nicht ständig etwas vormachen, Mädchen. Du weißt etwas, das du lieber nicht wissen würdest.«
»Du musst es nicht auch noch wissen, Poppy«, erwiderte ich und schüttelte traurig den Kopf.
Er legte eine Hand auf die meine und wartete eine Weile, aber ich vertraute mich ihm weder an noch schaute ich hoch. Er tätschelte meine Hand und seufzte, wobei er sehr alt und müde klang. »Du hast es wirklich nicht leicht mit dir«, sagte er und nickte nachdenklich.
Sobald Phoebe mit Amandas Adresse zurückgekehrt war, erfand ich irgendeine Ausrede und ging.
Phoebe und ihr Vater sahen mir mit nachdenklichen Augen hinterher.
Poltergeist
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