ZWEIUNDZWANZIG
Vielleicht wusste der Poltergeist, dass ich
daran arbeitete, ihn zu zerstören, oder vielleicht hatte er auch
nur schlechte Laune. Jedenfalls verbrachte ich den Donnerstagabend
damit, mich vor seinen Angriffen in Sicherheit zu bringen. Bereits
auf der Heimfahrt im Auto flogen mir immer wieder kleine
Gegenstände gegen den Kopf und ins Gesicht. Meine
Ausweichbewegungen ließen mich einmal fast von der Straße abkommen.
Da ich mich gerade auf dem Viadukt befand, sah ich für einen Moment
das Wasser unter mir, ehe ich das Lenkrad wieder herumriss.
Zu Hause ging es weiter. Noch nie hatte ich es
derart bedauert, so viele Bücher und witzige Gegenstände zu
sammeln, wie an diesem Tag. Ein Stuhl raste wie ein zorniger Hund
auf mich zu, sobald ich die Wohnung betrat. Zwei Buchstützen aus
Bronze fielen aus dem Regal und segelten auf meinen Kopf zu. Ich
zog ein Stück des Grau um mich und wich ihnen hastig aus.
Allerdings trafen sie mich noch immer an der Schulter.
Chaos rannte wie verrückt in seinem Käfig hin und
her. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Als ich auf ihn zutrat,
flatterte ein gebundenes Buch an mir vorbei und krachte gegen die
Wand. Das Frettchen war normalerweise ziemlich hart im Nehmen, aber
ich bezweifelte, dass es sich gegen
fliegende Bücher behaupten konnte. Ich holte es also aus seinem
Käfig und schützte es mit meinem Körper, während ich ins
Schlafzimmer rannte. Leider folgte mir der Poltergeist.
Also setzte ich Chaos in die Badewanne und eilte
ins Schlafzimmer zurück. Ich duckte mich, um mehreren fliegenden
Gegenständen aus dem Weg zu gehen, während ich jedes schwere,
spitze oder harte Objekt aus dem Raum entfernte. Dann verschloss
ich die Dinge im Flurschrank und drückte mühsam die Tür zu. Aus dem
Schrank war bald ein wildes Toben zu hören. Ich ließ mich davon
jedoch nicht beirren, sondern holte stattdessen die gefährlichsten
Sachen aus dem Wohnzimmer, die ich in meine beinahe leeren
Küchenschränke stopfte.
Dann brachte ich Chaos in seinen Käfig zurück.
Offenbar war er nicht in Gefahr, solange ich mich nicht in seiner
Nähe aufhielt. Celia besaß eine Verbindung zu mir, aber nicht zu
meinem Haustier. Vorsichtshalber stapelte ich trotzdem mehrere
Kissen um seinen Käfig herum auf, ehe ich ins Schlafzimmer
zurückrannte und die Tür hinter mir schloss. Während der Nacht
wachte ich immer wieder auf, weil ich in regelmäßigen Abständen von
kleinen Dingen bombardiert wurde. Aber am nächsten Morgen war das
Frettchen zu meiner Erleichterung unverletzt, und der Poltergeist
schien sich etwas beruhigt zu haben.
Als Erstes rief ich Solis an, der darauf bestand,
mich im Le Crêpe, einem kleinen Café auf der Second Avenue,
zu treffen, anstatt am Telefon über Tuckmans Projekt zu reden.
Natürlich war er wie immer schweigsam und undurchdringlich, als wir
uns gegenübersaßen. Seine schmalen Augen und seine ausdruckslose
Miene konnten natürlich auch
von Erschöpfung und Schlaflosigkeit herrühren, aber ich war mir da
nicht so sicher. Nach meiner schlechten Nacht trank ich einen
Kaffee nach dem anderen und fühlte mich in einer ähnlich
unkommunikativen Laune wie der Kommissar.
Ich warf einen Blick über seine Schulter auf die
vormittägliche Straße vor dem Fenster. »Wie laufen die
Untersuchungen?«, wollte ich wissen.
»Noch ist alles offen. Erzählen Sie mir erst
einmal, was am Mittwoch passiert ist.«
»Ich kann Ihnen nicht viel erzählen, weil ich es
selbst noch nicht ganz verstehe. Aber Tuckman bricht das Experiment
ab.«
»Wieso?« »Irgendetwas hat im Aufbau nicht gestimmt.
Deshalb lief auch so viel schief. Einige der Teilnehmer wurden
verletzt, und das Ganze ist einfach zu riskant geworden. Die
Einzelheiten sind ziemlich verwirrend, aber es läuft darauf hinaus,
dass abgebrochen wird. Ich muss mich allerdings noch etwas mit den
Teilnehmern beschäftigen. Deshalb hielt ich es auch für das Beste,
Ihnen zu sagen, dass Sie mich noch nicht ganz los sind – aber
fast.«
»Es wäre mir lieber, wenn Sie mir die
Nachforschungen überlassen würden.«
Ich seufzte und schwindelte weiter. »Solis, das
würde ich liebend gern, aber auch ich muss meinen Job machen. Was
bei Tuckmans Projekt nicht stimmt, betrifft uns wahrscheinlich
beide. Aber das kann ich nicht einfach nur annehmen und Ihnen die
Dinge überlassen. Ich muss das leider selbst herausfinden. Sie
müssen zugeben, dass ich bisher sehr kooperativ war – sogar mehr
als nötig. Also werden Sie es jetzt doch wohl schaffen, mich noch
ein wenig länger zu
ertragen. Es sei denn, Sie haben einen guten Grund, mir Knüppel
zwischen die Beine zu werfen.«
Jetzt war es an ihm zu seufzen. »Also gut. Was
haben unsere Fälle Ihrer Meinung nach denn gemeinsam?«
»Nun ja …« Ich hielt inne, um meine Gedanken so zu
ordnen, dass ich nichts sagte, was er als wirr oder verrückt hätte
abschreiben können. »Ich habe mir die Leute und die Situation, die
Tuckman bei diesen Séancen geschaffen hat, genau angesehen. Ich
glaube, dass er entweder einen Psychopathen in seine Runde
aufgenommen oder jemanden so weit gebracht hat, zu einem zu werden.
Meiner Meinung nach wurde Mark Lupoldi von etwas beziehungsweise
jemandem in Tuckmans Séance-Zirkel umgebracht. Es hat sich
herausgestellt, dass die Vorfälle, die Tuckman einem Saboteur
zuschrieb, wohl ebenfalls auf diese Person zurückzuführen sind. Er
hat sich absichtlich Leute ausgesucht, die psychisch nicht ganz
stabil sind und Probleme haben. In einem geeigneten Umfeld ist es
da geradezu unvermeidbar, dass starke Spannungen entstehen. Die
Gruppe glaubt, recht seltsame Dinge machen zu können und dass ihr
das von niemandem angekreidet werden würde. Ich kenne mich mit
Psychologie nicht sonderlich gut aus, aber ich könnte mir
vorstellen, dass ein Mensch, der kurz vor dem Ausbruch einer
Psychose steht, in einem solchen Umfeld geradezu dazu ermutigt
wird, ganz in den Wahnsinn abzudriften.«
Solis blickte in seine Tasse und nickte
nachdenklich. »Das könnte durchaus sein. Aber ich bin nur daran
interessiert, den Mörder zu finden.«
»Haben Sie bereits einen Verdächtigen? Ich könnte
Ihnen da einige zur Auswahl anbieten.«
Er knurrte. »Es geht um Beweise und nicht um
Spekulationen.
Ich muss zum Beispiel endlich die Schlüssel finden oder erfahren,
wie Lupoldi tatsächlich zu Tode kam … Natürlich glaube ich auch,
dass Professor Tuckmans Projekt etwas mit dem Mord zu tun hat, und
ich habe mir seine Teilnehmer und die Assistenten bereits genau
angesehen. Wen verdächtigen Sie?«
Ich sagte es ihm, und er zog die Augenbrauen hoch,
erwiderte aber nichts. Er weigerte sich, mir irgendeinen Hinweis zu
geben. So viel zu einem gerechten Austausch von
Informationen.
Auf dem Weg zurück zu meinem Büro ging ich durch
das Grau, ohne auch nur darüber nachzudenken. Ich überquerte
Pioneer Square und ignorierte den Phantom-Verkehr und die
verschiedenen Zeitschichten. Plötzlich sauste etwas an meinem Kopf
vorbei, berührte mich an der Schläfe und riss mir ein Haarbüschel
aus.
Ich wirbelte herum und suchte nach dem Schuldigen,
bis ich einen ziemlich heruntergekommenen Mann mit schmutzigen
Klamotten auf einer Bank in der Nähe entdeckte. Er hielt hilflos
die Hände in die Höhe. Eine abgeknickte Zigarette war auf den
feuchten Boden vor ihm gefallen, und er starrte mich mit weit
aufgerissenen Augen an. Ich sah nach unten und entdeckte ein
Feuerzeug aus Metall, das einen halben Meter von mir entfernt lag.
Während ich mich danach bückte, betrachtete ich es genauer im Grau.
Ein dünner Faden aus gelber Energie war gerade dabei, sich in Luft
aufzulösen und wie eine Schlange in die undurchdringlicheren Tiefen
des Grau zu verschwinden.
Als ich mich umsah, entdeckte ich einen flüchtigen
gelben Nebel, der von roten Flecken und silbernen Zeitsplittern
durchsetzt war. Ich hob das Feuerzeug auf und machte es an. Das
Stück Celia wanderte um Pioneer Square, als
ob es sich gar nicht für mich interessieren würde. Vielleicht tat
es das diesmal auch wirklich nicht, aber seine Gegenwart
beunruhigte mich doch. Ich hatte am Abend zuvor zu viel Zeit damit
verbracht, mich vor fliegenden Büchern und Nippes in Acht zu
nehmen. Sie alle hatten den gleichen gelben Faden aus grauer
Energie gehabt, den auch das Feuerzeug aufwies. Wenn ich an die
Gewalt dachte, die Celia am Mittwoch und am Abend zuvor angewandt
hatte, war ich überrascht, wie harmlos der Angriff mit dem
Feuerzeug gewesen war.
Ich brachte es dem Obdachlosen auf der Bank.
»Gehört das Ihnen?«
Er stotterte, während er am ganzen Körper zitterte.
Offensichtlich hatte er Angst vor mir und wusste nicht, was er
sagen sollte. Dann platzte er heraus: »Das war ich nicht! Ganz
ehrlich! Es ist einfach …«
Ich nickte mit einem wehmütigen Lächeln. »Ich weiß.
Es hat sich einfach losgerissen. Manchmal passiert so was.« Ich sah
auf die zerbrochene Zigarette, die vor ihm auf dem Boden lag, und
nutzte die Gelegenheit, mich auch noch rasch nach Celia
umzuschauen, aber das Wesen war verschwunden. »Gehört die auch
Ihnen?«
Er blickte auf die Zigarette, und seine Miene
spiegelte große Enttäuschung wider, als er bemerkte, dass sie nicht
mehr zu gebrauchen war. »Ja«, meinte er.
Ich suchte in meiner Tasche nach dem Wechselgeld,
das ich von meiner Tasse Kaffee zurückbekommen hatte, und gab es
ihm zusammen mit dem Feuerzeug. »Passen Sie gut darauf auf.
Verlieren Sie es nicht wieder.«
Seine Augen leuchteten, und er grinste mich
zahnlückig an. »Werde ich bestimmt nicht. Vielen Dank, Miss!
Wirklich sehr großzügig von Ihnen.«
Ich murmelte etwas und ging weiter. Die
Pflastersteine waren ziemlich rutschig, als ich durch die dichte
Wand aus Geistern zu meinem Büro eilte.
Ich war gerade dabei, die Treppe hinaufzusteigen,
als mein Handy vibrierte. Ich zog es aus der Hosentasche und
klappte es auf.
»Sie müssen etwas dagegen tun.«
»Was? Entschuldigen Sie, Professor Tuckman. Aber
wir haben den Fall gestern Abend abgeschlossen«, antwortete ich und
klemmte mir das Telefon zwischen Kinn und Schulter, während ich
meine Bürotür aufschloss.
»Ja, weiß ich. Aber etwas muss geschehen. Sie
scheinen zu verstehen, was dieses Ding …«
»Nein, Tuckman. Sie verstehen es. Sie wollen
nur nicht die Verantwortung dafür übernehmen.«
»Ms. Blaine!«
Ich erinnerte mich daran, dass ich seinen Scheck
noch nicht eingelöst hatte, und seufzte. »Was gibt es denn für ein
Problem?«
»Celia verfolgt und quält die Teilnehmer.« »Sie
verfolgt und quält sie? Was darf ich mir genau darunter
vorstellen?« Vielleicht herrschte bei mir im Moment deshalb eine
gewisse Ruhe, weil Celia sich anderswo austobte. Ich warf meine
Tasche auf den Boden neben den Schreibtisch und setzte mich.
Ohne seine Drohgebärden und seine herablassende
Arroganz klang er verdrießlich und missmutig. »Wenn man bedenkt,
wie stark die Gruppe in letzter Zeit den Angriffen von Celia
ausgesetzt war, braucht es nicht viel, um ihre Attacken bereits als
quälend zu empfinden. Alle – wirklich alle – haben mich angerufen,
um mir zu erzählen, dass sie der Poltergeist belästigt.«
»Na, toll. Hören Sie zu, Tuckman. Soweit ich das
verstanden habe, ist Celia doch von der Gruppe erschaffen worden –
nicht wahr?«
»Ja, klar«, erwiderte er ungeduldig.
»Gut. Wenn der Poltergeist also existiert, weil die
Leute glauben, dass er existiert, dann wäre es doch logisch, sie
dazu zu bringen, nicht mehr daran zu glauben.«
»Und Sie nehmen an, dass die Leute aufhören werden,
daran zu glauben, obwohl sie von diesem angeblichen Geist gequält
und angegriffen werden?«
»Genau darum geht es, Tuckman. Ich kann Ihnen da
nicht weiterhelfen. Sie haben den Leuten eingeredet, an Celia zu
glauben. Also müssen Sie Ihnen jetzt beibringen, wieder skeptisch
zu sein. Warum erklären Sie nicht einfach, das alles sei ein
Schwindel gewesen? Erzählen Sie, dass Sie das Zimmer mit allem
möglichen technischen Schnickschnack ausstaffiert hätten und fast
nichts, was sie erlebt haben, echt gewesen sei? Das sollte sie doch
wachrütteln. Wenn Sie die Gruppe dazu bringen, Ihnen zu glauben,
hört Celia vielleicht auch auf, sie zu ärgern.«
Ich sagte natürlich nicht, dass der verdammte
Poltergeist auch mich nicht in Ruhe ließ. Das Wesen hatte sich mit
seinem Herrn und Meister zusammengeschlossen, und ich bezweifelte,
dass die anderen viel tun konnten. Die einzige Möglichkeit war, es
durch einen immer schwächer werdenden Glauben zu untergraben, aber
im Grunde nahm ich nicht an, dass das viel bringen würde.
Tuckman schwieg und dachte offenbar nach.
»Ehrlich, Professor Tuckman. Sie müssen sie davon
überzeugen, dass Celia nicht existiert. Ihnen bleibt gar nichts
anderes übrig. Der Poltergeist hat inzwischen ein Eigenleben, aber
wenn es Ihnen gelingt, den Glauben der Gruppe
zu erschüttern, können Sie ihn vielleicht davon abhalten, noch
Schlimmeres anzurichten. Seien Sie einfach brutal. Es bleibt Ihnen
gar nichts anderes übrig.«
»Sie haben mir überhaupt nicht weitergeholfen«,
zischte er wütend.
»Dann werde ich Ihnen auch nichts dafür berechnen.
Viel Glück, Herr Professor. Und vergessen Sie nicht, dass das kein
Spiel ist. Ihr Geist hat bereits einen Ihrer Assistenten
umgebracht. Das Ganze muss aufhören, und nur Sie können das
schaffen. Nicht ich.«
Ich konnte beinahe hören, wie er vor Wut kochte.
Dann legte er auf. Wenn ich Glück hatte, würde ich nie mehr von
Gartner Tuckman hören.
Ich arbeitete eine Zeit lang in meinem Büro, wobei
ich mich immer wieder ducken musste, wenn ein Gegenstand auf mich
zuflog. Gegen Mittag machte ich mich auf den Weg zum Restaurant von
Phoebes Eltern. Hugh hatte mir gesagt, dass ich Phoebe dort finden
würde. Ich brauchte dringend Amandas Adresse. Ich hätte sie auch
einfach anrufen können, aber das würde bestimmt nicht helfen, die
Unstimmigkeiten zwischen uns auszubügeln. Phoebe hätte es
vielleicht als einen weiteren Versuch empfunden, ihr aus dem Weg zu
gehen. Außerdem mochte ich die Masons und wollte endlich mal wieder
andere Gesichter sehen als die von Tuckman und seiner Gruppe.
Der Ansturm zur Mittagszeit war bereits vorüber,
als ich eintraf. Wieder einmal war die Familie damit beschäftigt,
das Restaurant für Freitagabend vorzubereiten. Ich verbrachte viel
Zeit in Cafés und Lokalen, aber hier machte mir das nichts aus. Ich
genoss die Gesellschaft der Masons. Selbst wenn sie so beschäftigt
waren wie an diesem Tag,
schafften sie es doch immer, mich herzlich willkommen zu heißen.
Sie hatten alle laute Stimmen und strahlten eine ansteckende
Gelassenheit aus.
Als Oberhaupt der Familie hatte Phoebes Vater wie
immer seinen Platz am Kopf des Tisches eingenommen, der im hinteren
Raum stand. Mit einer von Arthritis geschundenen Hand hielt er ein
Glas Leitungswasser fest, das er allerdings vor allem benutzte, um
damit auf den Tisch zu klopfen. Poppy war wettergegerbt und
ziemlich verhutzelt. Er erinnerte an eine Walnuss, die man lange in
der Hand gehalten hatte. Noch immer stellte es für ihn kein Problem
dar, die ganze Familie fest im Griff zu haben, ohne viel mehr als
sein Glas und seine Stimme zu erheben. Der Clan eilte um den Tisch
herum, stürzte in die Küche und wieder hinaus. Sie wirkten alle wie
eifrige Fledermäuse, die es schafften, alles zu erledigen, was
Poppy ihnen befahl, ohne einander in die Quere zu kommen. Als er
mich entdeckte, winkte er mich zu sich heran.
»Harper! Komm sofort zu mir, Mädchen. Wo hast du
die ganze Zeit gesteckt? Ich hatte schon befürchtet, dass du so
dürr geworden bist, dass dich der Wind weggeblasen hat.« Sein
Akzent war noch immer so stark, als wäre er gerade eben erst aus
Jamaika gekommen. In Wahrheit lebte er bereits seit über dreißig
Jahren hier.
Ich drückte mich an den zahlreichen
Familienmitgliedern vorbei und setzte mich neben ihn. Die
Küchenwand befand sich direkt hinter mir und fühlte sich herrlich
warm an, vor allem, da es draußen inzwischen recht kühl geworden
war. »Nein, Poppy. So schnell wirst du mich nicht los.«
Er löste seinen Zeigefinger vom Glas und piekste
mich damit testend in die Schulter. »Lange wird es aber nicht mehr
dauern. Vermutlich wissen die dummen weißen Jungs,
mit denen du ausgehst, nicht, was schön ist. Es ist wirklich
schade, mit ansehen zu müssen, wie ein nettes Mädchen so
dahinsiecht.«
Ich zog eine Grimasse. »Na ja, ich muss mich eben
damit abfinden. Hugh scheint zumindest Gefallen an mir zu
finden.«
Sein ganzer Körper zitterte, als er sich vor Lachen
schüttelte. Für einen kleinen Mann Mitte siebzig konnte er ziemlich
laut sein. Nach einer Minute beruhigte er sich wieder und rieb sich
kichernd mit dem Handrücken die Augen.
»Mädchen, ich wusste, dass du es in dir
hast.«
»Was habe ich in mir?«, fragte ich.
»Du kannst auftauen, wenn du willst.«
Ich sah ihn verblüfft an. »Wie bitte?«
»Harper – seitdem du im Krankenhaus warst, bist du
so hart und eisig wie ein Stück Stahl in der Gefriertruhe gewesen.
Es überrascht mich, dass du überhaupt einen Mann gefunden hast. Du
hast eisige Wände um dich herum aufgebaut, als ob du erwarten
würdest, dass dich wieder jemand verletzt. Aber wenn du niemanden
an dich heranlässt, dann kann dich auch niemand lieben. Zu uns bist
du auch nicht mehr gekommen. Brauchst du denn deine Familie nicht?
Du weißt doch, dass du zur Familie gehörst, selbst wenn du so dürr
bist wie eine Bohnenstange.«
Ich sah den alten Mann mit seinen scharfen
schwarzen Augen für eine Weile fassungslos an.
Zögerlich fragte ich: »Du … Du kannst eine Art von
Wand um mich sehen?« Falls ich tatsächlich so etwas errichtet
hatte, dann musste ich einen guten Grund haben, die Welt auf
Distanz zu halten. Dasselbe galt natürlich für Ken – sogar harte
Jungs halten nicht alles aus.
Poppy lachte und stupste mich wieder mit dem Finger
an. »Das war nicht wörtlich gemeint, Kleine! Aber mentale Wände
können genauso undurchdringlich und kalt sein wie echte. Warum
siehst du auf einmal so traurig aus?«
Mich hatte tatsächlich plötzlich eine Erinnerung an
früher übermannt. »Mein Dad hat mich immer ›Kleine‹ genannt.«
»Entschuldige, Harper. Ich wollte mich nicht
zwischen dich und ihn stellen. Wie lange ist er schon tot?«
»Schon lange. Ich war zwölf, als er starb. Jetzt
gibt es nur noch mich und Mom, und wir verstehen uns nicht.«
»Ja, ich weiß. Also … Warum schaust du nicht wieder
öfter vorbei? Sind wir dir zu anhänglich?« Er lehnte sich zurück
und zwinkerte. »Oder vielleicht schmeckt dir Mirandas Essen nicht
mehr?«
Ich lachte und war gleichzeitig erleichtert, dass
wir nicht weiter über mich und meine schreckliche Familie sprachen
– selbst wenn das bedeutete, dass ich mich mit meiner Ersatzfamilie
auseinandersetzen musste. »Ich liebe das Essen deiner Frau und wäre
sicher in null Komma nichts zweimal so dick, wie du das willst,
wenn ich es so oft essen würde, wie ich wollte. Und dreimal so
dick, wenn ich es so oft essen würde, wie du das möchtest.
Seitdem ich diesen Unfall hatte, ist alles etwas seltsam, und ich
habe viel zu tun. Außerdem ist Phoebe noch immer sauer auf
mich.«
»Ach, so sauer ist sie auch wieder nicht.«
Ein Teller mit dampfendem Essen wurde vor mich auf
den Tisch gestellt.
»Ich bin sehr wohl so sauer.«
Ich blickte auf und sah direkt in Phoebes finsteres
Gesicht. Oder vielmehr in ihren Versuch, mich finster anzusehen,
der ziemlich missglückte, als sie ein Lächeln nicht länger
unterdrücken konnte. Sie stellte sich auch einen Teller mit Essen
hin und setzte sich mir gegenüber.
Ein Familienmitglied stellte Gläser mit Wasser auf
den Tisch und ging weiter. Ein anderer schubste Besteck und
Servietten in unsere Richtung, ohne seine Putztätigkeit und die
Vorbereitungen für den Abend zu unterbrechen. Am Freitag und
Samstag herrschte hier Hochbetrieb. Die Leute kamen zum Trinken,
Essen und Tanzen.
Rund um die Bar und im Restaurant ging es ziemlich
zu. Tische wurden hin und her geschoben, um eine Tanzfläche frei zu
räumen und um Platz für die Band zu schaffen. Jedes Mal, wenn die
Küchentür aufging, hörte ich Rufe und Gelächter. Phoebe und ich
mussten unsere Köpfe näher zusammenstecken, um in normaler
Lautstärke miteinander sprechen zu können.
»Hi, Mädchen«, sagte sie.
»Hi. Schön, dass du mich überhaupt sehen
willst.«
»Als wäre ich jemals lange sauer. Ich war wirklich
ziemlich wütend, aber ich konnte dich auch verstehen.« Sie hatte
wieder begonnen, stärker mit dem Akzent ihres Vaters zu
sprechen.
Da ich mich bereits genügend erklärt hatte,
widerstand ich der Versuchung, noch einmal damit anzufangen. »Wie
geht es dir?«
»Gut. Ich werde heute Abend im Laden vorbeisehen.
Wie sieht es dort aus?«
»Gut. Dein Cousin hat mir gesagt, du könntest mir
Amandas Adresse geben. Ich muss mit ihr sprechen.«
»Dieser Germaine! Als Hugh mir erzählt hat, dass er
meinen nichtsnutzigen Cousin in den Laden schickt, hätte ich ihn am
liebsten erwürgt!«
»Wen – Hugh oder Germaine?«
»Beide! Wie konnte er mir das antun?«
»Er wollte doch nur helfen.«
Poppy lachte und mischte sich in unser Gespräch
ein. »Er versucht, dich dazu zu bringen, mit deinem Selbstmitleid
aufzuhören, Mädchen. Letzte Woche bist du mit einem langen Gesicht
zu uns gekommen und hast um deinen Bekannten geweint. Das ist in
Ordnung. Das ist richtig so. Aber inzwischen dauert deine Trauer
schon zu lange. Du tust dir nur noch selbst leid. Du bist wie deine
Mutter, Phoebe – du musst immer irgendetwas zu tun haben.«
»Ich habe zu tun, Poppy.«
»Du hast mit allem Möglichen zu tun, aber mit dir
selbst beschäftigst du dich nicht. Du weißt, dass ich dich liebe,
Mädchen, aber jetzt ist es wirklich an der Zeit, dass du wieder
nach Hause gehst.«
Er richtete seine funkelnden Augen auf mich. »Du
wirst sie doch dazu bringen, wieder in ihre eigene Wohnung
zurückzukehren – nicht wahr, Harper?«
»Ich weiß nicht, Poppy … Sie kann ganz schön
störrisch sein.«
»Das ist wahr.«
»Ihr beide seid schlimmer als Hugh und Mama!«
Poppy kicherte.
»Phoebe, du weißt, dass er recht hat«, sagte
ich.
Sie schnitt eine Grimasse. »Ja. Vor allem nachdem
mich hier keiner mehr in Ruhe lässt!«
Hugh kam mit einem Tablett voller Gläser aus der
Küche und beugte sich auf dem Weg zur Bar zu Phoebe hinunter, um
sie auf die Stirn zu küssen. »Zeig es ihnen, lass dir nur nichts
gefallen, große Schwester.«
Eines der Gläser machte plötzlich einen Salto
rückwärts und sauste auf mich zu, gefolgt von einem inzwischen
vertrauten
gelben Faden. Ich fing es auf. Phoebe stellte es vorsichtig wieder
auf Hughs Tablett und sah mich misstrauisch an.
»Hast du jetzt auch einen Duppy?«, fragte
sie.
»Nur die Gartenvariante, einen Poltergeist«,
erwiderte ich. »Nicht so bösartig wie ein Duppy. Die sind doch
bösartig, oder?«
»Das sind die bösartigsten Wesen, die man sich
vorstellen kann«, erwiderte Poppy.
»Und warum sind sie so bösartig?«, wollte ich
wissen und stocherte in meinem Essen herum. Es war zwar lecker,
aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Zu vieles ging mir
im Kopf herum: der Poltergeist, mein Vater, mentale Wände...
Poppy lehnte sich in seinem Stuhl zurück und
spielte mit seinem Wasserglas. »Duppys sind die Geister, die es
nicht in den Himmel schaffen. Sie gehen irgendwann in den neun
Nächten verloren und kehren dann zur Erde zurück. Aber sie haben
kein Herz zum Fühlen und kein Gehirn zum Denken. Ihre Seele ist
zerbrochen. Die eine Hälfte ist hier und die andere im Jenseits.
Sie spüren nicht, was richtig und was falsch ist. Sie denken nicht
darüber nach, was passiert. Sie tun einfach nur, worauf sie gerade
Lust haben. Sie versetzen dir einen Schlag und zwicken dich oder
machen irgendwelche Dinge kaputt.«
»Und woher weiß man, dass es ein Duppy ist?«
»Man kann sie sehen. Sie sehen aus wie Skelette,
die von einem Nebel umhüllt sind. Wie … Wie nennt man das noch mal?
Irrlichter? So sehen sie aus. Die Geister der Vorfahren kann man
nicht sehen. Die sind durchsichtig wie Luft. Aber ein Duppy ist
verschmutzt und böse. Je länger sie hier auf der Erde verweilen,
desto schlimmer werden sie. Hunde
heulen, wenn Duppys in der Gegend sind. Und man spürt ein
Spinnennetz auf dem Gesicht. Das ist das Zeichen des Duppy.«
Ich war mir zwar nicht sicher, ob man den gelben
Faden als Spinnennetz bezeichnen konnte, aber ich konnte mich noch
gut daran erinnern, wie ich ihn mit meinem Gesicht berührt hatte.
Bei der Untersuchung des Séance-Raumes war ich direkt
hineingestürzt und hatte das Gefühl gehabt, von Spinnweben berührt
zu werden. Die Vorstellung eines Geistes, der immer bösartiger
wird, weil er kein Gewissen hat, schien zu Celia zu passen – und
genauso zu ihrem psychopathischen Herrn und Meister.
»Warum willst du etwas über Duppys wissen?«, fragte
Phoebe. »Vielleicht machen sie dir deshalb jetzt zu
schaffen.«
Ich versuchte mir zu überlegen, welche Geschichte
ich ihr auftischen konnte, aber bei Phoebe war es mir schon immer
schwergefallen zu lügen. Also entschied ich mich für die
Wahrheit.
»Bei Marks Projekt an der Uni ging es um Geister,
und ich glaube, dass es da eine Verbindung zu seinem Tod gibt.
Diese Duppys scheinen ganz ähnlich zu sein wie der Geist, den sie
an der Uni erschaffen haben und …«
»Sie haben an der Uni einen Geist geschaffen? Das
ist ja verrückt!«
Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Deswegen
möchte ich auch mit Amanda sprechen, um zu erfahren, was an jenem
Abend passiert ist, als Mark im Buchladen verletzt wurde.«
Phoebe starrte mich an. »Du meinst also, dass
irgendein Geisterwesen Mark verletzt hat? Ehrlich?«
»Ich weiß es nicht. Aber man bekommt keine
Antworten,
wenn man keine Fragen stellt. Ich bräuchte also Amandas
Adresse.«
Phoebe presste die Lippen aufeinander und runzelte
die Stirn. »Okay, aber sei nett zu ihr.«
»Werde ich.«
Poppy erlaubte Phoebe nicht, Amandas Adresse zu
holen, bis sie aufgegessen hatte. Auch mich wollte er nicht gehen
lassen, bis ich ebenfalls meinen Teller leer hatte. Sobald Phoebe
in der Küche verschwunden war, sah er mich wieder fragend an.
»Was glaubst du wirklich, Harper? Denkst du, ein
Duppy hat Mark umgebracht?«
Ich richtete meine Augen auf den Tisch. »Ich weiß
es ehrlich nicht.«
»Du kannst mir nicht ständig etwas vormachen,
Mädchen. Du weißt etwas, das du lieber nicht wissen würdest.«
»Du musst es nicht auch noch wissen, Poppy«,
erwiderte ich und schüttelte traurig den Kopf.
Er legte eine Hand auf die meine und wartete eine
Weile, aber ich vertraute mich ihm weder an noch schaute ich hoch.
Er tätschelte meine Hand und seufzte, wobei er sehr alt und müde
klang. »Du hast es wirklich nicht leicht mit dir«, sagte er und
nickte nachdenklich.
Sobald Phoebe mit Amandas Adresse zurückgekehrt
war, erfand ich irgendeine Ausrede und ging.
Phoebe und ihr Vater sahen mir mit nachdenklichen
Augen hinterher.