DREIZEHN

Ein Reicher kommt vermutlich leichter ins Himmelreich, als dass ein Landrover von 1972 an einem Samstagnachmittag einen Parkplatz auf Capitol Hill findet. Vor allem, wenn er in Gehweite vom Broadway liegen soll. Nach einer Weile gab ich auf und zahlte dafür, meinen Wagen auf einem winzigen Parkstreifen am nördlichen Ende der Hauptstraße abstellen zu können. An einem anderen Tag hätte ich von meinem Büro am Pioneer Square einfach einen Bus genommen, doch heute musste ich zu viele Leute hintereinander aufsuchen, um das zu Fuß zu bewältigen.
Als ich geparkt hatte, erklang plötzlich eine süßliche Japan-Pop-Melodie mit einem mechanisch klingenden Drumbeat aus meiner Tasche. Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass es sich um mein Handy handelte. Bisher verband ich diesen doofen Song nicht mit einem Telefonanruf. Ich musste den Klingelton dringend ändern. Dazu musste ich allerdings erst einmal herausfinden, wie das ging. Also holte ich das Handy aus der Tasche und hob ab.
»Hi, Harper. Ich dachte, ich würde deinen Pager anrufen …«
»Schon in Ordnung, Ben. Ich habe jetzt ein Handy, das für eine Weile auch meine Pager-Nachrichten entgegennimmt. Wie kann ich dir helfen?«
»Eigentlich wollte ich dir helfen. Ich habe nämlich etwas über das Tischklopfen herausgefunden. Hättest du vielleicht später Zeit, um mich zu treffen? Mara würde eine Zeit lang auf den Nashornjungen aufpassen, sodass ich dir vorführen könnte, was ich jetzt weiß.«
»Das wäre super! Wann und wo?«
»Wie wäre es um vier? Im Five Spot auf der Queen Anne Avenue?«
»Zur Happy Hour? Gut.«
Ben seufzte. »Genau, zur Happy Hour. Eigentlich eher zur Quiet Hour – zumindest für mich.«
Ich lachte. »Verstehe. Wir sehen uns dann dort. Danke, Ben.«
Ich klappte das Telefon zu und steckte es in meine Jackentasche.
Als ich das Harvard Exit Theater erreichte, waren die ersten Filme bereits zur Hälfte gelaufen – ein polnischer und ein amerikanischer Independent, von dem ich noch nie gehört hatte. Ich fragte an der Kasse nach Ian Markine. Die Kassiererin bat mich, im Foyer zu warten, da er gerade im ersten Stock beschäftigt war.
Das Kino befand sich in einem großen, ausdruckslosen Ziegelbau, der auf 19. Jahrhundert getrimmt war. Über der Tür waren die Worte »Women’s Century Club« zu lesen, umgeben von einer Stuckborte. Die Lobby war offenbar vor kurzem renoviert worden und erinnerte an das luxuriöse Wohnzimmer einer selbstbewussten Dame der zwanziger Jahre. Es war ein langer, schmaler Raum mit einem floralen Teppichboden, einem Kamin, gemütlichen Sesseln, bronzefarbenen Art-deco-Lampen und einem schimmernden schwarzen Flügel in einer Ecke. Im Grau konnte ich ein ständiges Flackern silberner Geistergestalten erkennen – Spuren der Erinnerung, die noch an diesen Ort gebunden waren.
Da ich niemanden sah, ging ich erst einmal auf die Toilette.
Als ich am Waschbecken stand und mir die Hände wusch, warf ich einen Blick in den Spiegel. Überrascht zuckte ich zurück. Plötzlich stand jemand hinter mir. Ich drehte mich hastig um, und die beiden Welten überschnitten sich für einen Moment. Bei der Frau, die mit mir in der Toilette war, handelte es sich zweifelsohne um einen Geist. Dann konnte sie noch ein Weilchen warten.
Ich trocknete mir also die Hände ab und drehte mich dann zu ihr. Sie war rundlich und hatte einen intensiven Blick. Ihre dunklen Haare waren zu einem Knoten zusammengebunden, und ihr Kleid war in den Jazz-Clubs der Zwanziger bestimmt der letzte Schrei gewesen. Sie sah mich misstrauisch an.
»Ich hoffe, Sie sind eine vernünftige Frau, auch wenn Sie immer wieder in Wespennester stechen«, sagte sie. Ihre Stimme klang ruhig und gelassen.
»Wie bitte?«
»Ich habe immer daran geglaubt, dass Frauen Männern ebenbürtig sind. Aber beide müssen sie ihre Lorbeeren ehrlich verdienen. Unehrlichkeit ist etwas Widerwärtiges. Diese Brosche ist eine Fälschung. So wie auch ihre Behauptung, zu meiner Familie zu gehören. Wenn ich könnte, würde ich ihr die Brosche ins Gesicht schleudern. Diese ekelhafte Person! Ich hoffe, dass Sie ihr das von mir ausrichten.«
Damit drehte sie sich um und verließ die Toilette, wobei sie sich allerdings im Nebel des Grau auflöste, ehe sie die Tür erreicht hatte.
In diesem Fall beschrieb der Begriff »entgeistert« meine Verfassung wirklich am besten. Ich sah mich im Grau nach ihr um, aber sie war schon zu weit davongeschwebt, um sie noch in dem lebendigen Nebel zwischen den Welten entdecken zu können. »Wer sind Sie?«, rief ich ihr nach, aber sie antwortete nicht. Niemand antwortete mir. Leider blieb mir keine Zeit, im Grau nach ihr zu suchen. Warum war sie bloß derart wütend gewesen?
Kopfschüttelnd verließ ich die Toilette und kehrte in Gedanken versunken in das gemütlich luxuriöse Foyer zurück.
»Hübsch, aber etwas vollgestopft, nicht wahr? Im Grunde Anti-Gatsby – finden Sie nicht?«
Ich drehte mich um und sah mich einem strahlenden Zahnpasta-Lächeln gegenüber. Blaue Augen zwinkerten mich mit routiniertem Charme an. Ein gelber Energiefaden legte sich wie ein Heiligenschein um den Kopf und die Schultern des Mannes.
Ich nickte und lächelte zurückhaltend. »Ja, stimmt. Erinnert eher an ein Fabergé-Ei.« Sein Lächeln wurde noch breiter. Er hatte sogar Grübchen. »Sie müssen Ian Markine sein.« Er war der gut aussehende Weiße, der gemeinsam mit der asiatischen Frau zu den Séancen kam. Ich hatte auf einer der Aufzeichnungen beobachtet, wie er ihre Haare aus ihren Ohrringen befreite, in denen sie sich verfangen hatten.
Seine Augen funkelten. »Ja, der bin ich. Und Sie sind Harper Blaine.«
Ich nickte. Er war etwa so groß wie ich. Während meine braunen Haare jedoch glatt herabhingen, waren die seinen gewellt. Er war wirklich außergewöhnlich attraktiv, was er auch wusste, denn er gab sich betont lässig. Seine Haare waren ein wenig zu zerzaust, sein makellos weißes Hemd ein bisschen zu groß und seine Krawatte locker, aber doch korrekt geknüpft. Ich war mir sicher, dass er viel Zeit damit verbrachte, jung und sexy zu wirken, und war wieder mal froh, mich mit solchen Dingen nie aufzuhalten.
»Sie wollten mit mir über Tuckmans Projekt sprechen – nicht wahr?«
»Genau. Haben Sie etwas Zeit für mich?«
»Oh, ja. Die Filme laufen noch eine Weile, und sonst gibt es gerade auch nichts zu tun. Warum setzen wir uns nicht an den Kamin? Dort sind wir ungestört.«
Ich folgte ihm zu den großen Sesseln, die vor dem Kamin standen. Er setzte sich neben mich, anstatt mir gegenüber, sodass ich mich über die Armlehne beugen musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
»Also – was wollen Sie von mir wissen?« Irgendetwas belustigte ihn, denn er grinste verschmitzt.
»Wann haben Sie begonnen, an den Séancen teilzunehmen, und warum?«
Er lachte, und sein Lachen ließ einen seltsamen Schimmer um ihn herum aufleuchten – kleine Farbfragmente, die sich in einem gebogenen Spiegel zu reflektieren schienen. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.
»Vergangenen Dezember habe ich mich irgendwie … irgendwie ziellos gefühlt. Ich hatte den Eindruck zu stagnieren. Sie wissen schon – man macht immer wieder dasselbe, sieht dieselben Leute, und irgendwann wird es langweilig. Deshalb dachte ich mir, dass ich mir etwas außerhalb des Soziologie-Instituts suchen muss – dort studiere ich -, um endlich mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Ich gebe zu, dass ich jede Gruppe, in der ich mich bewege, genau unter die Lupe nehme. Ist so eine Angewohnheit.«
Er lachte selbstgefällig. »Und ich muss sagen, dass Soziologen meistens leider nicht gerade spannend sind. Sie scheinen immer auf der Hut zu sein. Es gibt wohl kaum etwas, das weiter von einer analysierenden Beobachtung entfernt sein könnte als die Erschaffung eines Poltergeists. Das müssen Sie zugeben! Natürlich denkt man gleich an ein unorganisiertes Kollektiv und so, aber ich versuche trotzdem, es zu genießen, anstatt die ganze Zeit zu analysieren, was da soziologisch genau abläuft.«
»Dann ist es für Sie also in gewisser Weise eine angenehme Abwechslung?«
»Genau. Außerdem ist das eine gute Mischung, die da zusammenkommt.«
»Also interessant?«
Er lachte erneut. »Ja, wirklich interessante Leute. Wir verstehen uns alle prächtig. Ana und ich sind ein paar Mal mit Mark und Ken ausgegangen. War wirklich immer lustig. Na ja … Ich muss zugeben, dass Terry ziemlich schrecklich sein kann, aber da ich mich nicht mit ihm auseinandersetzen muss, ist es im Grunde egal. Meistens macht es großen Spaß, und für mich hat es sich ja auch wirklich gelohnt.«
Ich sah ihn fragend an. »Wie meinen Sie das?«
Er lächelte mich schief an und blickte dann zu Boden. »Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber ich finde es manchmal wirklich schwierig, Ana alles zu bieten. Sie ist das Wichtigste in meinem Leben, aber … Es ist eben auch gut, noch andere Leute zu treffen, neue Freunde zu finden. Es ist wahrscheinlich ziemlich selbstsüchtig von mir und Ana gegenüber nicht sehr nett.«
»Sie meinen Ana Choi – nicht wahr? Sie macht doch auch mit, oder?«
Er blickte auf. »Genau. Bitte erzählen Sie das keinem. Ich möchte nicht, dass Ana glaubt, ich mag die anderen lieber als sie. Wir können beide manchmal ziemlich eifersüchtig sein. Das hier ist doch vertraulich, oder?«, fügte er hastig hinzu. Seine blauen Augen sahen mich beinahe flehend an. Gleichzeitig konnte ich für einen Moment deutlich die Grübchen in seinen Wangen und das Flackern dieser seltsamen Farbe erkennen.
»Natürlich ist unser Gespräch vertraulich, Mr. Markine.« Ich fragte mich, warum er gleich zu Beginn über Ana und ihre gemeinsame Beziehung sprach.
Er seufzte auf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sie wissen gar nicht, wie erleichtert ich bin. Diese ganze Sache mit dem Projekt ist eine unglaubliche Erfahrung für mich, und ich möchte sie nicht ruinieren.«
»Und wie läuft das Projekt Ihrer Meinung nach?«
»Fantastisch! Wirklich ganz großartig! Manchmal ist es sehr aufregend. Zum Beispiel am Mittwoch war wirklich was los.« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Beeindruckend, aber gleichzeitig auch ziemlich ermüdend. Hinterher waren wir alle total kaputt. Echt wow!«
»Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass es sich bei den Erscheinungen um künstlich hervorgerufene Phänomene handeln könnte?«
Er blinzelte und starrte mich an. »Künstlich hervorgerufen? Nein, niemals! Ich meine, das wäre doch … Warum sollte das jemand tun? Wir schaffen gemeinsam so fantastische Dinge, ohne dass uns jemand dabei behilflich sein muss. Außerdem würde uns das doch auffallen. Man kann nichts verstecken, das dazu in der Lage ist, einen Tisch durch das ganze Zimmer tanzen zu lassen. Ich arbeite schon lange in diesem alten Theater und habe hier auf dem Speicher einen ganzen Haufen alter Requisiten entdeckt, mit denen man alle möglichen Tricks machen kann. Aber die Apparate sind viel zu groß. Man würde sie in unserem Zimmer sofort bemerken.«
Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass die modernen Ausrüstungen inzwischen wesentlich besser und ausgefeilter waren als ihre Vorgänger.
Selbst bei meinen früheren Tanzaufführungen war ich an einem kaum sichtbaren Draht über die Bühne geflogen oder durch lautlose Falltüren verschwunden. Aber auch ich musste zugeben, dass ich nicht wusste, wie ein Apparat konstruiert sein müsste, der einen Tisch durch ein Zimmer voller Leute fliegen lassen könnte, ohne dass jemand etwas bemerkte.
»Noch eine Frage, und dann verschwinde ich wieder. Was würden Sie sagen, wenn ich behauptete, dass einer aus Ihrer Gruppe einige der Phänomene erzeugt?«
»Dann würde ich sagen, dass Sie sich irren müssen«, gab er prompt zurück.
»Aber wenn es wahr wäre – wen würden Sie dann am ehesten im Verdacht haben?«
Ian runzelte die Stirn. »Ich beschuldige nur ungern jemanden … Aber wenn ich raten müsste, dann würde ich Ken verdächtigen. Er hat einen etwas hinterhältigen Sinn für Humor, wissen Sie?«
Und ein Auge auf deine Freundin geworfen, dachte ich und fragte mich, ob Ian davon wusste. Es schien ihn jedenfalls nicht weiter zu stören, was die anderen von Ana hielten. Auch sein Stolz wäre wohl nicht angekratzt gewesen, wenn ein anderer Mann an seiner Freundin interessiert wäre. Er kam mir wie ein recht typischer, egozentrischer junger Mann vor, der großartiger wirken wollte, als er war. Mich beeindruckte er allerdings nicht.
Ich stand auf. »Ach, ja. Noch etwas. Ist Ihnen irgendetwas Seltsames aufgefallen, seitdem Sie bei der Gruppe sind? Ich meine, außerhalb der Séancen?«
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete er. »Viele behaupten, dass dieses Kino voller Geister sei. Sogar das Gespenst von Seattles früherer Bürgermeisterin, Bertha Knight Landes, soll sich hier herumtreiben. Aber mir ist bisher nichts aufgefallen. Keine Erscheinungen, keine Dinge, die sich auf geheimnisvolle Weise bewegen. Unser Poltergeist ist durch die Gruppe entstanden. Es gibt ihn also gar nicht außerhalb unseres kleinen Zimmers.« Ian zwinkerte mir zu.
»Verstehe. Ich glaube, das wäre alles. Vielen Dank, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben.«
Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen. »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte er, und wir schüttelten uns die Hände. Für einen Moment legte er seine zweite Hand auf meine. Er wirkte trotz dieser Geste kalt, während mir sein Lächeln etwas zu intim vorkam. »Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte«, fügte er hinzu, »können Sie mich gerne jederzeit anrufen.«
»Vielen Dank«, antwortete ich. Auf einmal lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, der dem ähnelte, den ich beim Anblick des Poltergeistes auf dem Spielplatz gespürt hatte. Dieses Wesen schien die Mitglieder des Séance-Zirkels miteinander zu verknüpfen und war sogar präsent, wenn es im Grau nicht zu sehen war. Mir graute schon jetzt vor dem nächsten Händeschütteln.
Trotz Ians Charme-Offensive war ich froh, mich von ihm verabschieden zu können. Ich begab mich also auf den Weg zum nächsten Treffen.
 
Ich sah zu der Frau hinauf, die an der Kletterwand vor mir hing. Das Sonnenlicht, das plötzlich durch die Wolkendecke drang, stach mir in die Augen. Ich fragte mich, warum Mrs. Stahlqvist im Freien kletterte, obwohl es in der Halle genügend andere Möglichkeiten gegeben hätte und das regnerische Wetter eigentlich nicht dazu einlud, draußen zu sein.
»Mrs. Stahlqvist!«, rief ich zu ihr hoch. »Ich bin Harper Blaine. Wir haben telefoniert. Ich möchte mit Ihnen über Professor Tuckman und sein Projekt sprechen.«
»Gut. Dann schießen Sie los.« Ohne mir auch nur einen Blick zu gönnen, sah sie nach oben und suchte nach der nächsten Möglichkeit, sich weiter hochzuhangeln.
Der Kies, auf dem ich stand, war vom Nieselregen ganz feucht. Er hatte begonnen, als ich von Capitol Hill nach Ballard gefahren war. Es war schwierig, in dieser Nässe in das Grau zu blicken, wobei ich von meinem Platz aus sowieso wenig über Carolyn Knight-Stahlqvist hätte sagen können. Ich konnte nur mit Sicherheit behaupten, dass sie keine Angst vor Höhen hatte. Ich kannte gesunde Zwanzigjährige, die weniger kräftig waren als diese Frau mit vierzig. Ihre blonden Haare, die beinahe die gleiche Farbe hatten wie die ihres Mannes, waren zu einem Zopf zusammengeflochten. Er schwang wie ein Pendel hin und her, während sie auf ihren ersten Überhang zu kletterte.
Das laute Tuten von Bootssirenen und das Rauschen des Verkehrs in unserer Nähe zwang mich dazu zu brüllen. »Es wäre einfacher, wenn Sie zu mir herunterkämen!«
Ihr abfälliges Schnauben war deutlich zu hören. »Ich habe gesagt, dass ich Zeit hätte. Ich habe nicht gesagt, dass ich sie ganz Ihnen widmen könnte.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Also gut. Wann sind Sie denn zur Gruppe gestoßen?«
»Im Januar. Aber das hat Ihnen Dale doch schon alles gesagt!«
»Ja, aber oft haben verheiratete Paare unterschiedliche Erinnerungen.«
»Da bin ich mir sicher. Dale sieht die Welt so, wie er das will.«
»Und wie steht es mit Ihnen?«
»Ich natürlich auch. Geschäftsfrauen müssen sich Gelegenheiten nicht nur schaffen, sondern sie auch beim Schopf packen, wenn sie sich ihnen bieten. Ich schnappte mir Dale, als ich die Chance dazu hatte, und ich werde ihn so lange nicht loslassen, wie ich ihn brauche. So bekommen wir beide das, was wir wollen, und mischen uns ansonsten nicht in das Leben des anderen ein.« Sie schob einen Fuß in eine künstliche Spalte und löste den anderen, um ihn auf einen kleinen Vorsprung weiter oben zu setzen.
»Das klingt ja nicht gerade liebevoll.«
»So ist das Geschäft nun mal. Heißblütig soll man in anderen Dingen sein. Deswegen habe ich Dale nicht geheiratet. Für solche Dinge gibt es junge Männer, deren Ehrgeiz nicht weiter reicht als ihre Lenden.«
»Machen Sie deshalb bei den Séancen mit? Um jemanden zu finden, dessen Lenden Sie erkunden können?«
Ihr Lachen klang kalt und berechnend. »Platon hatte recht, als er behauptete, Frauen seien wie Leihbücher aus der Bibliothek … Er hat nur die Geschlechter verwechselt. Ich kann einen Mann überall vom Regal nehmen und ihn wieder zurückstellen, wenn ich das bekommen habe, was ich wollte. Den meisten gefällt das sogar. Ich muss nicht an irgendeinen bestimmten Ort gehen, um jemanden abzuschleppen. Die meisten Frauen müssen das nicht. Sie glauben nur, dass es nicht richtig wäre, sich das zu nehmen, was sie wollen.«
Sie hangelte sich weiter nach oben und hielt sich an einer Ecke am äußersten Rand der Wand fest. Helles Sonnenlicht ließ ihre feuchte Haut und ihre Kleidung schimmern, und für einen Moment sah es so aus, als ob ein Schmetterling über ihr Gesicht fliegen würde. Sie wirkte wie eine perfekte Film-Diva, bis sie sich wieder bewegte und der Eindruck verschwand.
»Ich bin zu der Gruppe gestoßen, weil Tuck mich eingeladen hat. Vor einiger Zeit habe ich einmal ein paar Kurse bei ihm an der Uni belegt, und wir haben uns sofort verstanden. Er dachte, dass es mir vielleicht Spaß machen würde, da mitzumachen. Und das tut es auch. Es macht mir Spaß, Celia zu erschaffen. Es stellt eine echte Herausforderung dar, gemeinsam ein Wesen zu erschaffen und es dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu tun. Außerdem ist es wirklich eine aufregende Abwechslung zu den normalen Geschäftsbeziehungen, die ich sonst so pflege.«
»Wie erfolgreich ist das Projekt denn?«
»Sehr erfolgreich. Es ist uns bisher gelungen, wirklich unglaubliche Dinge zu vollbringen. Am Anfang gab es noch ein paar Verzögerungen. Und vor kurzem habe ich ein Schmuckstück verloren, was mich etwas ärgert. Aber ansonsten läuft inzwischen alles sehr glatt.«
»Glauben Sie, dass einer der Teilnehmer Ihren Schmuck gestohlen hat?«
»Nein. Er gehörte zum Familienerbe der Knights und war ursprünglich im Besitz meiner Großtante Bertha, die einmal Bürgermeisterin von Seattle war. Er hat also einen großen emotionalen Wert für mich, aber ich bin mir sicher, dass er nur verlegt wurde. Unser Poltergeist versteckt manchmal Sachen und scheint gerade von Schmuck fasziniert zu sein.«
Ich nickte und dachte an Celias Interesse an Anas Ohrringen, das ich auf einem der Aufzeichnungen mitverfolgen konnte. Aber ich erinnerte mich auch an den Geist im Kino, der mir erklärt hatte, dass eine bestimmte Brosche eine Fälschung war. Ob es sich wohl um dasselbe Schmuckstück handelte? Wenn es tatsächlich der Geist von Bertha Knight Landes gewesen war, konnte das durchaus sein. »Glauben Sie daran?«, wollte ich wissen.
»Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.« Sie rutschte auf dem feuchten Vorsprung ab und gab einen dumpfen Laut von sich, als sie ihre Hand in eines der Kreidesäckchen steckte, die an ihrer Hüfte befestigt waren. Dann kletterte sie weiter.
»Glauben Sie, dass die Erscheinungen echt sind?«
»Ja, das glaube ich. Am Anfang hatte ich so meine Zweifel, aber inzwischen bin ich davon überzeugt. Es gibt mehr auf der Welt, als man auf den ersten Blick erkennen kann.«
»Glauben Sie, dass vielleicht irgendwelche Vorgänge künstlich hervorgerufen oder auch verbessert wurden – jetzt oder auch früher einmal?«
Sie lachte erneut ihr kaltes Lachen. »Ich weiß, dass die ersten Phänomene nicht echt waren. Man hat uns sozusagen geholfen. Aber jetzt brauchen wir diese Hilfe nicht mehr. Wir können Celia durch unseren gemeinsam vereinten Geist kontrollieren. Jetzt wird nichts mehr künstlich erzeugt.« Sie kicherte. »Rein gar nichts.«
»Woher wissen Sie das?«
»Mark hat mir erklärt, wie es gemacht wird. Sobald ich wusste, wonach ich suchen muss, war es leicht zu entdecken. Aber jetzt fällt mir nichts mehr auf. Jetzt ist alles genau so, wie es sein soll.« Sie klang ziemlich selbstzufrieden, als sie den Überhang in Angriff nahm. »Wie viel Uhr ist es eigentlich?«, wollte sie wissen.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Zwanzig nach drei«, rief ich nach oben.
»Gut. Dann bin ich fast fertig. Wenn Sie noch Fragen haben, dann sollten Sie die besser jetzt stellen.«
Ich fragte sie, was sie von den anderen in der Gruppe hielte. Sie fand die meisten ganz in Ordnung, obwohl auch sie wie ihr Mann die Collegestudenten als ein bisschen dumm und nicht ihrer Schicht zugehörig empfand. Patricia mochte sie überhaupt nicht und nannte Wayne, den pensionierten Offizier, einen »netten Kerl«. Die einzigen Leute, die sie wirklich zu mögen schien, waren Tuckman und Mark. Es wunderte mich nicht, dass sie sich mit Tuckman verstand, aber ich fragte mich, warum Mark ihr von den falschen Phänomenen erzählt hatte und wie sie wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass er tot war.
Als sie meine Fragen beantwortet hatte, war sie am obersten Punkt der Klettermauer angelangt. Sie hakte einen Karabiner an ein Seil, das nach unten führte, und glitt dann daran zu mir herab. Ihre dünnen Schuhe machten ein knirschendes Geräusch auf dem Kies, als sie neben mir landete.
Carolyn wirkte nicht im Geringsten so, als ob ihr kalt wäre. Ich hingegen unterdrückte ein Zittern. Erst jetzt fiel mir auf, wie nass ich geworden war, während sie über mir geklettert war. Sie atmete etwas schneller als sonst, doch insgesamt schien sie sehr durchtrainiert zu sein. Mit ihren strahlend blauen Augen musterte sie mich von oben bis unten. Schließlich schenkte sie mir ein schmallippiges Lächeln. »Sie können mich Cara nennen. Sonst noch Fragen?«
»Momentan nicht«, erwiderte ich. Es war ein seltsames Gefühl, zur Abwechslung einmal keinen Vorteil durch meine körperliche Größe zu haben. Cara strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das durch nichts zu erschüttern war. Es ärgerte mich ein wenig, dass ich mich durch ihre offensichtliche Anerkennung geschmeichelt fühlte, denn Cara Stahlqvist war eine gnadenlose Opportunistin, die nur ihren Ehrgeiz kannte. Weder innerlich noch äußerlich gab es etwas Weiches an ihr. Sie mochte niemanden außer sich selbst und benutzte die anderen nur, während sie es genoss, sich mit ihnen zu messen.
»Sind Sie bisher mit den Ergebnissen Ihrer Nachforschungen zufrieden?«
»Es ist alles in etwa so, wie ich mir das vorgestellt habe.« Ich warf erneut einen Blick auf meine Uhr und nutzte die Gelegenheit, Cara auch gleich noch im Grau zu mustern, nachdem mich die Sonne jetzt nicht mehr störte. Wie bei den anderen lag auch bei Cara ein dünner gelber Faden um Kopf und Schultern. Aber sonst erinnerte nichts an die seltsame Aura, die Ken umgeben hatte oder die merkwürdigen Farben um Ian.
Sie betrachtete stirnrunzelnd einen blutigen Kratzer an ihrer linken Hand. Einen Ehering trug sie nicht, aber mir fiel das schmale Band ungebräunter Haut an ihrem Ringfinger auf. »Wieviel Uhr ist es?«
»Halb vier.«
»Dann ist Ihre Zeit um.« Sie sah mir erneut in die Augen. »Falls es noch etwas anderes geben sollte, können Sie mich anrufen.«
Ich sah sie scharf an. Ich mochte sie nicht, und ich wollte auch nicht, dass sie mich mochte. »Gut. Ich melde mich vielleicht.«
Daraufhin schenkte sie mir ein noch kühleres Lächeln und ging in das Gebäude. Ich ließ ihr etwas Vorsprung, um in die Umkleidekabinen zu gelangen, ehe ich ihr folgte und zum Vordereingang hinausging.
Als Nächstes fuhr ich nach Queen Anne. Auf der Fahrt dachte ich darüber nach, was mir an der ganzen Sache so seltsam vorkam. Keiner der Teilnehmer schien bisher eine ungewöhnliche Fähigkeit im Grau zu besitzen, was den mächtigen Poltergeist erklärt hätte. Im Gegensatz zu einem Vampir oder einer Hexe besaß keiner magische Kräfte und auch keine starke Verbindung zum Netzwerk – wenn man einmal von dem dünnen gelben Faden absah.
Auch schien keiner das nötige Wissen oder die Gelegenheit zu haben, etwas so zu manipulieren, dass dabei falsche Ergebnisse herauskamen. Ich war noch immer davon überzeugt, dass die Erscheinungen echt waren, obwohl ich nicht wusste, wie es der Gruppe gelungen war, jene Grenze zu überwinden, die vom Philip-Experiment gesteckt worden war. Falls der Poltergeist etwas mit Marks Tod zu tun hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass so etwas ohne die Gruppe möglich gewesen wäre. Und dass alle darin verwickelt waren, nahm ich nun wiederum nicht an.
Ehe ich jedoch mit Tuckman über die Fähigkeiten des Poltergeists sprach, musste ich beweisen können, dass keiner seiner Leute die Finger im Spiel hatte. Ich musste also herausfinden, wieso Celia so mächtig geworden war.
Poltergeist
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