NEUNUNDZWANZIG
Ich starrte wie gebannt auf das wirbelnde,
wütende Wesen in der Flasche. Es fiel mir schwer, es nicht ständig
anzusehen, während ich zu den Danzigers fuhr. Ich wollte das Ding
so schnell wie möglich loswerden – sowohl das Gefängnis als auch
seinen Bewohner -, auch wenn das nicht von Dauer sein konnte. Noch
war ich mir nicht sicher, wie ich es für immer aus meinem Leben
verbannen würde. Hoffentlich hatten Mara und Ben eine Idee.
Nach der Dusche stellte ich fest, dass ich gar
nicht so schlimm aussah, wie ich befürchtet hatte. Ziemlich viel
hatte sich als Schmutz und Dreck herausgestellt. Den Großteil
meiner Klamotten musste ich wegwerfen, denn sie stanken wie ein in
der Sonne verfaulter Fisch. Ich wollte lieber nicht wissen, worum
es sich tatsächlich handelte. Hoffentlich waren zumindest meine
Stiefel und meine Jacke zu retten.
Zu meiner Überraschung hatte ich nur einige Kratzer
abbekommen. So musste ich wenigstens nicht herausfinden, ob
Geisterbakterien Krankheiten übertrugen. Es wäre sonst sicher
typisch für mich gewesen, auf einmal der Grippe von 1918 oder
irgendeiner ausgestorbenen Form der Pocken zu erliegen.
Vorsichtshalber nahm ich ein paar Tabletten und wickelte eine
Bandage um mein Knie. Ich fühlte mich zwar
etwas steif, und alle Glieder taten mir weh, aber insgesamt ging
es mir erstaunlich gut.
Als ich die Stufen zu den Danzigers hochstieg,
tauchte Albert so plötzlich neben mir auf, dass ich zusammenzuckte.
Er starrte auf das Geistergefängnis, das sich in seiner kleinen
Brille widerspiegelte. Ich fragte mich, wieso die Destillierblase
in der Erinnerung einer Brille ein Spiegelbild haben konnte, aber
vermutlich reflektierten Geistererscheinungen andere Geisterdinge.
Vielleicht sah ich auch nur den Inhalt der Flasche in Alberts
Brillengläsern.
Mara öffnete die Tür, und er schwebte ins Haus,
ohne jedoch ganz zu verschwinden. Er musterte mich vielmehr
weiterhin neugierig und schien zu erwarten, dass ich ihm das Gefäß
gab. Ich sah ihn tadelnd an.
»Albert verhält sich seltsam«, sagte ich zu
Mara.
»Ich vermute, dass es dieses Ding ist«, antwortete
sie und zeigte auf die Flasche. »Sieht ja auch interessant
aus.«
»Ich hätte es beinahe einem Kommissar überlassen
müssen«, erklärte ich, als ich im Haus war. »Er dachte, dass es
sich um ein Beweisstück handelt.«
Über uns war ein dumpfer Knall zu hören. Mara
schien ihn gar nicht zu bemerken.
»Und? Ist es das?«, wollte sie wissen.
»Ja, schon. Aber er hätte die Flasche als Erstes
den Forensikern überlassen, und die hätten dann den Korken
herausgezogen. Dann wäre Celia wieder frei. Ehrlich gesagt, hat es
nicht sonderlich viel Spaß gemacht, sie da hineinzubekommen.«
»Der Poltergeist ist da drin? Dann hat es
funktioniert! Freut mich, dass wir nicht immer totalen Blödsinn von
uns geben. Komm doch ins Wohnzimmer. Ben ist gerade
mit Brian nach oben gegangen. Am besten bringen wir das an einem
Ort unter, wo kleine Hände nicht drankommen.«
Mara stellte den Alembik auf das oberste Brett
eines niedrigen Bücherregals. Sie sicherte ihn mit zwei kleinen,
sandgefüllten Geckos, die sie aus einem Korb mit Kinderspielzeug
zog.
»So«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, um
ihr Werk zu bewundern. »Sieht aufregend alchemistisch aus,
was?«
Albert schwebte herbei und warf einen weiteren
neugierigen Blick auf das Gefäß.
»Es sieht nach einer Flasche voller Probleme aus«,
erwiderte ich trocken.
»Ist es auch. Wie ist es dir eigentlich gelungen,
den Polizisten davon abzuhalten, das Ding mitzunehmen?«
Ich konnte hören, wie Ben mit schweren Schritten
die Treppe hinunterkam.
»Ich habe ihm gesagt, dass er erst einmal einen
Durchsuchungsbefehl bräuchte, wenn er es will«, erklärte ich. »Es
hat ihm zwar nicht gefallen, aber bis er die nötigen Papiere
zusammen hat, birgt die Flasche schon keine Gefahr mehr.«
»Hoffen wir’s.«
Ben kam ins Wohnzimmer. Brian hing kopfüber über
seiner Schulter und kicherte. »Bist du bereit, wieder umgedreht zu
werden?«, fragte Ben.
»Neeeeeeeeeein!«, kreischte Brian ausgelassen. Dann
streckte er die Zunge heraus und begann mit ihr zu kreisen.
»Lalalala …«
»Was hast du denn da erwischt?«, wollte Mara
lächelnd wissen.
»Das ist eine vom Aussterben bedrohte
Nashorn-Fledermaus
aus dem pazifischen Nordwesten. Zumindest hoffen wir, dass sie vom
Aussterben bedroht ist. Die hier wiegt nämlich etwa vierzig Pfund
und isst Käsesandwiches.«
Mara begann den nackten Bauch ihres Sohnes zu
kitzeln. »Sollen wir sie domestizieren?«
Brian kreischte begeistert auf.
»Na, dann viel Spaß!«, murmelte ich.
Mara sah mich verschmitzt an. »Stimmt. Da ist der
Zug wahrscheinlich bereits abgefahren. Wir sollten ihn stattdessen
einfach nur kitzeln …«
Brian jaulte, lachte und kreischte, bis er
schließlich erschöpft rief: »Runter! Runter!«
»Also gut«, sagte Ben und ließ ihn sanft mit dem
Kopf nach vorne auf den Teppich abrollen. Brian machte einen
Purzelbaum und brachte sich hinter einem Sessel vor den drohenden
Fingern seiner Mutter in Sicherheit.
Von der Nashorn-Fledermaus fürs Erste befreit, trat
Ben ans Regal und begutachtete das Behältnis mit dem Geist.
»Wow! Es hat funktioniert. Ich kann es beinahe da
drinnen sehen.«
»Solange es nur da drin bleibt«, entgegnete
ich.
»Was willst du jetzt damit machen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber es muss von … Von
der Person, die es kontrolliert, ferngehalten werden.« Ich wollte
seinen Namen nicht nennen. Ich war zwar von seiner Schuld
überzeugt, aber genau betrachtet war er bisher nur ein Verdächtiger
für die Polizei. »Wir müssen die Flasche irgendwo in Sicherheit
bringen, bis der Geist von selbst zerfällt. Ich dachte zuerst an
Carlos …«
»Oh, nein!«, unterbrach mich Mara. »Ich möchte mir
nicht einmal vorstellen, was er alles damit tun könnte!«
Ich nickte. »Genau deshalb bin ich jetzt auch bei
euch
und nicht bei ihm. Ich habe auch keine Ahnung, wie lange dieser
Geist noch seine Energie behalten wird.«
Brian begann hinter dem Sessel zu knurren. Albert
riss sich von dem Poltergeist los und flitzte zu seinem
Spielkameraden. Kurz darauf waren Kichern und Kratzgeräusche hinter
dem Stuhl zu hören.
Mein Knie pochte. Ich ließ mich auf dem Sofa
nieder, das am weitesten von dem kindverseuchten Sessel entfernt
stand. Momentan hatte ich nicht die Kraft, noch einmal einen
Angriff oder auch nur eine Umarmung von Brian über mich ergehen zu
lassen.
Ben, der noch immer Celias Gefängnis betrachtete,
meinte: »Irgendwann sollte der Geist zerfallen. Aber wie du ja
schon sagtest, wissen wir nicht, wann. Je schneller die Gruppe
aufhört, ihm Energie zu liefern, indem sie zum Beispiel an ihn
denkt, desto schneller wird es passieren.«
»Ich habe Tuckman bereits bedrängt, das Interesse
der Gruppe an Celia nicht weiter zu nähren«, sagte ich. »Zwei oder
drei haben sich wahrscheinlich sowieso schon losgesagt. Der Geist
schien kleiner zu sein als das letzte Mal, als ich ihn sah.
Allerdings war er noch immer groß genug, um gehörigen Schaden
anzurichten.«
»Hm. Wie gesagt – je schneller alle das machen,
umso besser.«
»Vielleicht können wir das Ganze ja auch etwas
beschleunigen«, schlug Mara vor. »Du könntest zum Beispiel dazu
beitragen, indem du den Faden entfernst, der noch immer an dir
hängt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das möchte ich
eigentlich erst am Schluss machen, auch wenn das riskant ist. Wenn
sich der Geist irgendwie befreien sollte, muss ich eine Möglichkeit
haben, ihn wiederzufinden. Sein Meister wird versuchen,
ihn erneut an sich zu binden, und das darf ich nicht zulassen. Er
hat bereits mit zwei weiteren Morden gedroht, und das meint er
ernst.«
»Oh«, sagte Mara und zog die Augenbrauen hoch.
»Verstehe. Aber was können wir sonst tun?«, fuhr sie fort. »Wir
betreiben natürlich keinen Exorzismus, aber irgendwie sollten wir
seinen Energieverlust doch beschleunigen können.«
»Vielleicht könnte die Gruppe ja …«, begann
Ben.
Ich schüttelte den Kopf und ließ mich tiefer in die
Sofakissen sinken. »Es gibt keine echte Gruppe mehr. Außerdem
stehen zwei von ihnen ganz oben auf der Liste des Mörders. Wir
können sie also nicht noch einmal zusammentrommeln. Gibt es denn
nicht eine andere Möglichkeit, wie wir den Geist auflösen
könnten?«
Ben sah mich an. »Es ist zwar kein echter Geist.
Aber Energieverlust ist Energieverlust – ganz gleich, warum er
geschieht. Ich schaue mal schnell nach, was ich so dahabe.«
Er stürzte aus dem Zimmer, und wir hörten, wie er
in den Speicher hinauflief.
Ich stieß einen leisen Seufzer aus. Mara musterte
mich neugierig. »Du siehst erschöpft aus.«
»Es war ein langer Tag, und ich glaube nicht, dass
er schon vorbei ist.«
»Vermutlich nicht.«
Brian tauchte hinter dem Sessel auf und kam mit
ausgestreckten Armen auf uns zu.
»Was hast du denn jetzt wieder vor, Kleiner?«,
fragte Mara.
»Brian Nashorn-Fledermaus!«
»Ja, das habe ich auch schon gehört. Und was machen
Nashorn-Fledermäuse?«
»Fliegen, fliegen, fliegen!«, rief Brian und begann
wild mit seinen Armen zu wedeln. Er rannte durch das Wohnzimmer,
seine »Flügel« weit gespannt, und gab erstaunlicherweise keinerlei
Geräusche von sich.
Während der Junge so kreiste, kehrte Ben mit einem
dicken Buch in der Hand zu uns zurück.
»Okay. Ich habe etwas gefunden. Es gibt eine Art
von Standardprozedur, um Energiegebilde durch gezielten
Energieverlust zu schwächen. Und unser Poltergeist ist schließlich
nichts anderes als ein solches Gebilde. Die Anweisungen sind zwar
nicht genau, und wahrscheinlich funktioniert es auch nicht
hundertprozentig, solange Celia noch Energie zugeführt bekommt.
Aber zumindest sollte sie auf diese Weise deutlich geschwächt
werden.«
Ich richtete mich auf. »Und wie soll das genau
funktionieren?«
Ben klappte den Band auf, während Albert auf ihn
zuschwebte – gefolgt von Brian. Gleich darauf verschwanden Junge
und Phantom wieder hinter dem Sessel, und Ben begann mit seiner
Zusammenfassung.
»Laut dem Buch kann man einen Geist dieses Typus
auflösen, indem man seine Eigenschaften und sein Bild zerstört. Er
bezieht seine Stärke aus den Erinnerungen an seine Existenz. Wenn
es die nicht mehr gibt, hat der Geist nichts mehr, woran er sich
klammern kann. Er hat sozusagen seinen Kern verloren und löst sich
auf.«
»Es gibt aber immer noch die Energieleitung im
Grau, die dieses Ding füttert«, gab ich zu bedenken.
»Stimmt«, erwiderte Mara. Sie wirkte nachdenklich.
»Aber sie wurde aus ihrem ursprünglichen Ort gerissen und wird
versuchen, dorthin zurückzukehren. Wenn es dir gelingt, so viel wie
möglich vom häuslichen Umfeld des Geistes
zu zerstören, sollte sich die Leitung wieder an ihre frühere
Stelle begeben.«
»Gut, das könnte vielleicht funktionieren. Aber wie
soll das Ganze genau ablaufen?« Ich wusste, dass solche Vorgänge
nie so einfach waren, wie sie klangen.
Ben warf wieder einen Blick in sein Buch. »Oh.« Er
hielt inne. »Das steht da nicht. Es heißt nur: ›Zerstören Sie seine
Eigenschaften und sein Bild mit Hilfe des passenden Zeremoniells‹.
Aber kein Wort über dieses Zeremoniell. Mara, hast du eine Ahnung,
was das heißen könnte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Beide sahen mich an. Mir rutschte das Herz in die
Hose. »Bitte nicht Carlos«, sagte ich seufzend.
»Ich befürchte schon. Schließlich ist er der
Experte«, erwiderte Mara.
»Ich glaube, er verliert allmählich die Geduld mit
mir. Und vielleicht will er dann das Wesen für sich …«
»Ich werde mitkommen«, bot Mara an.
Wieder flatterte Brian an uns vorbei.
»Oh nein, das wirst du nicht. Diesmal nicht«, sagte
ich. »Wenn er sich dazu bereit erklärt, wird er das nicht tun, weil
du mitkommst und meine Hand hältst. Außerdem habe ich keine Lust,
mir euren Streit anhören zu müssen, wenn Ben dich nicht gehen
lassen will.«
Ich stand auf. »Ich lasse den Geist in der Flasche
bei euch, bis ich mich mit Carlos unterhalten habe. Auf diese Weise
kann er ihn mir nicht abnehmen. Außerdem will ich mich auch noch
darum kümmern, wie ich den Séance-Raum zerstören kann. Der war
nämlich am ehesten Celias Zuhause. Ich rufe euch an, wenn ich mich
mit Carlos besprochen habe, und dann sehen wir weiter.
Einverstanden?«
Mara nickte und lächelte mich zufrieden an.
Ben schloss das Buch. »Einverstanden. Wir bleiben
auf.«
Ich nickte und verließ das Haus der Danzigers. Auf
dem Weg nach draußen holte ich mein Handy heraus und rief Tuckman
an.
Der war nicht im Geringsten daran interessiert, mir
zu helfen. Er weigerte sich, den Séance-Raum auseinanderzunehmen
oder mir auch nur unter die Arme zu greifen, obwohl ich versuchte,
ihn von der Dringlichkeit zu überzeugen.
Nun gut – wenn der Chef nicht will, geht man am
besten zur Sekretärin. Ich setzte mich also in mein Auto und wählte
erneut eine Nummer.
Denise Francisco klang so, als hätte sie eine
Erkältung, als sie abhob.
»Hallo?«
»Hi, Frankie – hier Harper Blaine.«
»Oh. Sie waren auf der Beerdigung, nicht
wahr?«
»Ja.«
»Standen Sie nahe genug, um es auch zu
hören?«
»Was zu hören?«
Sie schnaubte empört, ehe sie antwortete. »Mr.
Supersüß – Sie wissen schon, Ian, der Frauenheld – hat seine
Freundin, diese Chinesin, bedroht. Sie hat ihn anscheinend für den
Inder verlassen.«
Ich seufzte. Einige Leute vertrugen einfach keinen
Stress. Frankie kam mir auf einmal wieder wie eine klatschsüchtige
Fünfzehnjährige vor. »Ich hatte keine Ahnung«, sagte ich. »Aber
eines weiß ich sicher: Wenn es etwas Wichtiges gibt, dann sind Sie
dafür zuständig. Und deshalb rufe ich Sie auch an.«
»Ja?« Sie gab ein Geräusch von sich, als ob eine
Gans
schnauben würde. Wahrscheinlich hatte sie sich gerade die Nase
geputzt. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme klarer. »Worum
geht es?«
»Wir müssen den Séance-Raum auflösen.«
Sie antwortete nicht gleich. »Weiß Tuck davon?«,
fragte sie nach einer Weile.
»Ja, tut er, aber er will es nicht selbst tun. Das
Projekt existiert doch nicht mehr – oder?«
»Stimmt. Sie wollen den Raum also auflösen, damit
sich die Gruppe nicht mehr treffen kann.«
»Genau.«
»Wieso?«
»Wollen Sie die Wahrheit wissen oder eine
überzeugende Lüge?«
»Äh, ich liebe überzeugende Lügen, aber Sie können
mir ruhig die Wahrheit sagen.«
»Celia muss verschwinden. Tuck meint das zwar auch,
aber der einzige Weg, Celia zu verjagen, besteht darin, ihre
vertraute Umgebung zu zerstören. Aber dazu hat Tuck keine Lust. Da
er mal wieder nicht das Richtige tut, dachte ich mir, ich könnte
Sie bitten, mir zu helfen, ehe noch jemand zu Schaden kommt.«
»Mit ›zu Schaden kommen‹ meinen Sie das, was dieser
Eiskönigin Stahlqvist passiert ist? Oder eher den Mord an
Mark?«
»Beides ist nicht schön.«
Ich konnte hören, wie sie tief durchatmete. »Gut,
einverstanden. Wann?«
»Morgen. Hätten Sie da Zeit? Und können Sie den
Schlüssel besorgen?«
»Mir ist alles recht. Wie wäre es mit zehn Uhr? Da
es eine christliche Uni ist, findet sonntags von zehn bis Viertel
vor
elf immer ein Gottesdienst statt. Es wird also niemand im Gebäude
sein. Klingt gut, oder?«
»Ja, klingt gut. Treffen wir uns also um zehn im
St. John.«
»Einverstanden. Bis morgen.«