FÜNFZEHN
Am Sonntagnachmittag klingelte ich an einem
der zahl reichen Namensschilder des Fujisaka-Gebäudes. Mir
antwortete eine zwitschernde Stimme auf Chinesisch. Da ich wusste,
dass ich die richtige Klingel gedrückt hatte, erwiderte ich: »Ich
möchte mit Ana Choi sprechen.«
Daraufhin hörte ich, wie einige Worte auf
Chinesisch gewechselt wurden, dann erklang eine andere Stimme durch
den Lautsprecher: »Hallo, hallo! Ich komme gleich hinunter.«
Die Sprecherin schaltete ab, und ich nutzte die
Zeit, um meinen Blick über die Sixth Avenue South wandern zu
lassen. Ich befand mich am Rand des International District. Das
Herz von Chinatown lag einen Block weiter nördlich und östlich auf
der King Avenue. In dieser Straße fand man jenen internationalen
Mix aus Leuten, mit dem sich die Stadt brüstete und der manchmal
auch als kaschierter Rassismus bezeichnet wurde.
Auf der anderen Seite der Straße stand das alte
Uwajimaya-Kaufhaus mit seinen blauen Dachziegeln und geschwungenen
Firsten. Das Gebäude stand zum Teil leer, nachdem der neue
Uwajimaya-Village-Komplex südlich davon in die Höhe gezogen worden
war. Noch weiter südlich gab es die Enklave Nihonmachi, das
sogenannte Japantown, wo man
an jeder Ecke die fantastischsten chinesischen Bäckereien,
philippinischen Lebensmittelhändler, vietnamesischen Nudelbars und
Tokio-Kaffeehäuser finden konnte.
Das Fujisaka war das einzige moderne Wohngebäude im
International District. Bei den restlichen Häusern handelte es sich
um alte Appartement-Blocks oder Hotels. Teuer und schick schmiegte
es sich an seine älteren, kleineren Nachbarn. Seitdem das noch
höhere Uwajimaya-Village gebaut worden war, hatte es seine Rolle
als Außenseiter verloren.
Hinter mir öffnete sich die Eingangstür. Eine
asiatische Frau kam heraus. Sie trug eine weiße weiche Jacke und
hatte ein rundes Gesicht mit einem recht spitzen Kinn und hohen
Wangenknochen. Ihre Miene wirkte ein wenig reserviert. Ihr
geheimnisvolles orientalisches Flair löste sich jedoch in Luft auf,
als sie mich angrinste. Auf einmal wirkte ihr Gesicht nur noch süß
und fröhlich.
»Sie sind doch Harper – nicht wahr?« Man konnte nur
sehr schwach den chinesischen Akzent hören, der wie ein Schleier
über ihren Worten lag.
»Ja, die bin ich«, erwiderte ich. »Und Sie sind Ana
Choi?« Ich erkannte sie natürlich von den Aufnahmen, wollte aber
trotzdem höflich sein.
Sie nickte. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten.
Meine Eltern haben sich gerade gestritten. Wenn ich da einfach
weggehe, halten sie mich für unhöflich. Deshalb musste ich warten,
bis eine Zeit lang Ruhe herrschte. Erst dann konnte ich ihnen
sagen, dass ich jetzt gehe.«
»Sie leben also noch bei Ihren Eltern«, stellte ich
interessiert fest.
»Ja, wir sind vor zwölf Jahren aus Macao hierher
gezogen, und sie sind sehr altmodisch. Ich selbst bin kein
traditionelles chinesisches Mädchen, aber ich versuche, sie
zufriedenzustellen,
so weit das geht. Manchmal ist es allerdings recht schwer.« Sie
sah sich auf der regenfeuchten Straße um. »Sollen wir los? Wir
können uns doch auch während der Fahrt unterhalten.«
»Klar«, stimmte ich zu. Ich hatte mein Auto auf dem
kaum benutzten Parkplatz des blau gedeckten Gebäudes
abgestellt.
»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich mitnehmen«,
sagte Ana. »Normalerweise fahre ich mit dem Bus, aber am Sonntag
dauert das immer besonders lange. Am Wochenende fährt einer meiner
Busse nur jede Stunde.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Das kommt uns doch
beiden gelegen. Wann sind Sie eigentlich bei dem Projekt
eingestiegen?«
»Letzten Januar. Ian wollte, dass ich mitmache. Er
meinte, dass es bestimmt Spaß machen würde.«
»Tut es das denn?«
Diesmal war es an ihr, mit den Achseln zu zucken.
»Ja, irgendwie schon. Zuerst war es ziemlich doof, aber dann wurde
es besser. Es gefällt mir.«
Wir unterbrachen unser Gespräch, um in den Rover
einzusteigen. Ana lächelte. »Cooles Auto. Ziemlich robust.«
»Ja, es ist nicht schlecht. Außer dem
Benzinverbrauch. Der ist nicht so toll.«
Sie nickte und machte es sich auf ihrem Sitz
bequem. »Okay, was wollen Sie von mir wissen?«
»Wie finden Sie die Gruppe?«
»Ich habe doch schon gesagt, dass es mir da
gefällt.«
»Ja, schon, aber ich meine die Leute. Sagen die
Ihnen auch zu?«, hakte ich nach, ließ den Motor an und lenkte das
Auto in Richtung PNU.
»Ja, die meisten schon.«
Ich beobachtete ihr Spiegelbild in der
Windschutzscheibe. Von diesem Blickwinkel aus konnte ich keine
gelbe Energielinie erkennen. »Gibt es denn jemanden, mit dem Sie
sich nicht verstehen oder bei dem Sie sich unwohl fühlen?«
Sie lachte. »Wissen Sie, das ist mir eigentlich
ziemlich egal. Ich finde die meisten ganz nett, aber ich kenne sie
nicht gut genug, um mir groß Gedanken über sie zu machen. Sie sind
in Ordnung, aber das war es auch schon. Für mich bedeuten sie
nichts Besonderes.«
»Nicht einmal Ian?«
Sie schnitt eine Grimasse und rollte mit den Augen.
»Ach – Ian. Manchmal glaube ich, dass ich sogar ihn nicht mehr mag.
Er kann so gemein und selbstsüchtig sein. Außerdem verbringt er
überhaupt keine Zeit mehr mit mir. Ständig hat er etwas vor, und
wir haben nicht einmal mehr … äh, unser Liebesleben existiert gar
nicht mehr – außer wenn es schlecht läuft. Ich bin der Gruppe nur
beigetreten, weil er mich darum gebeten hat und ich dachte, dass
wir uns dann öfter sehen würden. Doch inzwischen benimmt er sich
manchmal so, als ob es ihm lieber wäre, wenn ich gar nicht mehr
kommen würde.«
Das passte nicht zu Ians Version der Dinge, aber so
etwas überraschte mich schon lange nicht mehr. Ich erinnerte mich
außerdem daran, wie Ana zurückgezuckt war, als Ian ihre Haare aus
den Ohrringen befreit hatte.
»Und wieso glauben Sie, dass es ihm lieber wäre,
wenn Sie nicht mehr kämen?«, hakte ich nach.
»Damit er ungestört mit Cara Stahlqvist flirten
kann. Er ist echt ein Idiot.«
»Wenn er ein solcher Idiot ist, verstehe ich nicht,
warum Sie noch immer hingehen.«
Sie warf mir einen finsteren Blick zu. »Es ist
schließlich auch mein Projekt. Warum sollte ich Ian erlauben, mich
zu verscheuchen? Außerdem … außerdem ist er nicht der Einzige, der
dort zählt.«
»Sie haben mir doch gerade erklärt, dass Ihnen
keiner der anderen etwas bedeutet.«
Sie sah aus dem Fenster. »Das stimmt so nicht
ganz.«
»Treffen Sie dann noch jemanden anderen aus der
Gruppe?«
»Nein, das nicht. Nicht außerhalb der Gruppe.
Manchmal gehen wir zwar zusammen aus, um kurz noch etwas zu trinken
… Und ich unterhalte mich gerne mit ihm. Er redet auch gern mit
mir.«
»Wer denn?«
Sie errötete. »Ken.« Noch immer schaute sie aus dem
Fenster.
Ich nickte. »Weiß Ian davon?«
»Keine Ahnung. Ich glaube nicht. Ken zieht Ian
manchmal auf, und zwar wegen mir. Aber Ian lacht nur darüber. Ich
glaube, er wäre nicht so entspannt, wenn er von Ken wüsste. Aber
noch weiß er nichts.«
»Haben Sie vor, das mit Ken irgendwie
auszubauen?«
Sie seufzte. »Ich weiß nicht. Ich kann nicht
einfach Ian verlassen und sofort mit Ken etwas anfangen. Das wäre
nicht gut. Nicht gut für die Gruppe. Ian ist nicht der Typ Mann,
der es so einfach hinnehmen würde, wenn er verlassen wird. Und
außerdem … Es ist nicht leicht, wissen Sie? Manchmal möchte ich nur
meine Ruhe haben. Ich will keinen großen Ärger verursachen.«
Ich schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Die
drei hatten sich da in eine ziemlich prekäre Lage gebracht. Unglück
zieht nicht nur anderes Unglück an, sondern schafft auch
neues. In der Gruppe herrschten überall erotische Spannungen und
Machtkämpfe, aber irgendwie schien das dazuzugehören.
»Ich wähle einfach nie die richtigen Männer«,
meinte Ana. »Aber zumindest haben meine Eltern nichts gegen Ian.
Wenn ich mit Ken ausginge, würden sie vermutlich
durchdrehen.«
»Warum denn?«
»Mein Vater würde bestimmt meinen, dass er nicht
gut genug für mich wäre. Und meine Mutter stellt sich automatisch
auf die Seite meines Vaters. Das gehört sich so. Für eine
traditionelle chinesische Ehefrau, wissen Sie?«
»Ich verstehe noch immer nicht. Warum ist Ian, der
gemein zu Ihnen ist, für Ihre Eltern in Ordnung, Ken aber nicht,
obwohl er Sie verteidigt?«
Sie sah mich an und blinzelte peinlich berührt.
»Weil Ken braun ist.«
»Wie bitte?«
»Er ist braun. Also nicht weiß.«
»Aber Sie sind doch auch nicht weiß.«
»Natürlich nicht. Aber mein Vater ist ein Rassist.
Er findet, dass Farbige schmutzig oder schlecht sind. Wenn man
schon nicht weiß oder chinesisch ist, dann sollte man zumindest
asiatisch sein.«
»Weiß er denn nicht, dass Indien zu Asien
gehört?«
»Es ist aber nicht der richtige Teil von Asien.
Wenn jemand dunkelhäutiger ist als er, dann ist er in seinen Augen
auch schmutziger. Ich darf mit einem Weißen oder einem Asiaten
ausgehen, aber mit jemandem, der braun ist? Das käme nicht in
Frage. Noch schlimmer wäre es natürlich, wenn ich mit einem
Schwarzen zusammen wäre. Dann würde er kein Wort mehr mit mir
sprechen. Meine Schwester
hatte eine Zeit lang einen schwarzen Freund, und das hat er ihr
noch immer nicht verziehen. Er würde durchdrehen, wenn er wüsste,
dass sie sogar miteinander geschlafen haben.«
»Das kommt mir aber alles reichlich übertrieben
vor.«
»So ist mein Vater eben.« Sie sah mich finster an.
»So … jetzt wissen Sie, warum ich weiterhin zu den Séancen gehe,
obwohl es sicher das Beste wäre, damit aufzuhören. Ich wünschte,
das Leben wäre einfacher. Warum können wir nicht einfach nur alle
glücklich sein? Wenn wir schon einen Poltergeist erschaffen können,
warum dann nicht auch Glück?«
Ich nutzte die Gelegenheit, um zum Thema
zurückzukehren. »Sind Sie sich denn sicher, dass Sie einen Geist
erschaffen haben?«
»Ja.« Sie nickte mit großer Bestimmtheit. »Ich bin
Chinesin. Wir kennen uns mit Geistern aus. Sie sind einfach überall
und leben durch uns. Unser Poltergeist ist also ganz real, auch
wenn wir ihn erzeugt haben.«
»Was meinen Sie mit ›sie leben durch uns‹?«
»Ich meine damit, dass wir ihnen Kraft geben.
Energie. Wir erinnern uns an sie, und sie existieren weiter.
Deshalb ist es auch wichtig, sich an die Vorfahren und die Familie
zu erinnern, denn sonst verschwinden sie einfach. Oder sie werden
wütend, und das ist gar nicht lustig. Wir haben unseren Geist
geschaffen und halten ihn durch unsere Gedanken am Leben. Wenn wir
aufhören, an Celia zu glauben, wird sie einfach
verschwinden.«
»Woher wissen Sie, dass es sich nicht um einen
Schwindel handelt? Dass nicht einfach jemand in der Gruppe falsche
Erscheinungen erzeugt und sie so echt wirken lässt?«
»Das würde Celia sehr wütend machen. Es kann sich
nicht um einen Schwindel handeln. Es würde überhaupt nicht gehen,
dass uns ein Einzelner so hinters Licht führen könnte. Der Teil,
der real ist, würde außerdem wissen, dass jemand das Ganze
manipulieren will. Wie würden Sie sich fühlen, wenn jemand vorgeben
würde, Sie zu sein? So erginge es auch Celia, und dann würde sie
bestimmt versuchen, sich zu rächen.«
»Und wie wäre das mit Ihnen?«, fragte ich und
lenkte den Wagen auf den westlichen Parkplatz der PNU.
Ana sah mich überrascht an, und sie hob ihre
dünnen, gezupften Augenbrauen. »Wie wäre was mit mir?«
»Wenn Sie herausfinden würden, dass jemand Ihnen
etwas vorgaukelt? Wären Sie dann auch wütend?«
»Ja, natürlich wäre ich dann wütend.«
»Und würden Sie sich dafür rächen wollen?«
Sie sah mich belustigt an. »Nein. Ich würde
demjenigen sagen, dass er damit aufhören soll. Celia wäre
diejenige, die sich dafür rächen würde, wenn das nötig wäre.«
»Glauben Sie, dass sie dazu in der Lage ist?«
Sie runzelte die Stirn und starrte nachdenklich vor
sich hin. »Ich weiß nicht. Keine Ahnung.« Dann blickte sie auf.
»Ach, wir sind schon da. Gut. Danke fürs Mitnehmen«, fügte sie
hinzu, öffnete die Tür und stieg aus. »Ich hoffe, ich konnte Ihnen
weiterhelfen.«
»Ja, das konnten Sie durchaus.«
»Cool. Bis bald vielleicht.« Sie warf die Tür zu
und ging auf das St.-John-Gebäude zu. Jetzt konnte ich den hellen,
gelben Faden sehen, der auch um sie gewickelt war. Er zeigte auf
die heiße gelbe Quelle im Fenster von Zimmer zwölf, fast wie eine
Kompassnadel.
Ich blieb noch eine Weile im Auto sitzen und dachte
nach, während ich darauf wartete, dass auch die anderen Mitglieder
der Gruppe eintrafen. Ich wollte nämlich möglichst unbemerkt in
die Beobachtungskabine schlüpfen.
Nach einigen Minuten sah ich, wie Gartner Tuckman
auf das Gebäude zu eilte. In der Hand hielt er eine Aktentasche. Er
gab wieder ganz den finsteren Professor, der schwarz gekleidet
grimmig um sich blickte. Ich folgte ihm ins Haus, achtete aber
darauf, dass ich weit genug hinter ihm blieb. So hatte er die
Möglichkeit, eventuell noch Séance-Mitglieder einzusammeln, die auf
dem Gang auf ihn warteten.
Oben auf der Treppe lag ein unheimlicher Nebel, der
von innen heraus hell leuchtete. Seltsame Spuren wirbelten durch
das Grau. Ich betrachtete sie für einen Moment, verstand aber noch
immer nicht, worum es sich handeln könnte. Eigentümliche Farben
zogen durch die grauen Schwaden und blitzten immer wieder. Dann
drangen sie durch die geschlossene Tür von Raum zwölf und lösten
sich auf. Ich spürte, wie es einen Moment lang einer Strömung
gleich an mir zog, ehe es mich losließ. Seltsamerweise konnte ich
in diesem Licht keine gelben Linien erkennen.
Stirnrunzelnd betrat ich die Beobachtungskabine.
Terry beachtete mich nicht. Ich blieb stehen und schaute durch die
dicke Spiegelscheibe.
Tuckman befand sich bereits im Séance-Zimmer und
stand mit dem Rücken zu uns neben dem Spiegel. Einige der
Teilnehmer hatten sich um den Tisch gesetzt, andere sa ßen noch auf
dem Sofa. Ana war am Tisch, zusammen mit dem einzigen Mitglied, mit
dem ich bisher noch nicht gesprochen hatte – Wayne Hopke, dem
älteren Mann vom Militär. Ian stand in der Nähe des Sofas, wo er
gleichzeitig in Caras Ausschnitt blicken und sich bedrohlich vor
Ken aufbauen konnte. Er wirkte wie ein Racheengel und hatte
offenbar sehr wohl begriffen, was gespielt wurde. Alle sahen
zu Tuckman hin, der einen ruhigen, gelassenen Tonfall anschlug,
wie ich das bisher nicht von ihm gewohnt war.
»… ein trauriger Beginn für die heutige Sitzung«,
sagte er gerade. »Unser Kollege Mark Lupoldi ist bei einem Unfall
ums Leben gekommen. Es ist … eine wahre Tragödie. Da ich weiß, wie
gern wir alle Mark hatten, bedeutet sein Tod nicht nur für unser
Projekt, sondern auch für uns persönlich einen herben
Schlag.«
Tuckman musste früher ebenfalls mal bei einer
Laiengruppe Theater gespielt haben. Seine betont traurige Stimme
und geknickte Haltung wirkten zu perfekt, als dass sie seine wahren
Empfindungen widergespiegelt hätten. Er ließ die Schultern etwas
nach vorne sinken und gab sich ganz den Anschein, als würde er
jeden Augenblick einen weiteren Schlag erwarten. Der Haltung seiner
Arme nach zu urteilen, hielt er seine Hände zusammengepresst, und
ich stellte mir vor, dass seine Knöchel vor Anstrengung ganz weiß
waren. Vermutlich war auch seine Miene dem Anlass entsprechend von
tiefer Trauer gezeichnet.
Ich beobachtete die anderen. In den Gesichtern
spiegelten sich Überraschung, Verblüffung und Schock wider. Cara
schloss die Augen. Sogar durch die dicke Glasscheibe hindurch
konnte ich im Grau Funken sowie gelbe, rote und unheimliche grüne
Schlieren erkennen, die ich inzwischen mit Krankheit und Leid in
Verbindung brachte. Leider konnte ich nicht klar erkennen, zu wem
diese Energieschlieren gehörten. Frustriert knabberte ich an meiner
Unterlippe. Das strikte Protokoll, nach dem das Projekt ablief und
das mir normalerweise angemessen erschienen wäre, machte meine
Aufgabe in diesem Fall doppelt schwer. Doch leider konnte ich
nichts dagegen tun.
»Obwohl dieses Ereignis nichts mit unserem Projekt
zu
tun hat«, fuhr Tuckman fort, »wäre es natürlich mehr als
verständlich, wenn sich jemand von Ihnen heute nicht in der Lage
sieht, an der Séance teilzunehmen, oder vielleicht sogar ganz
aussteigen möchte. Mark war so enthusiastisch und eifrig, wenn es
um das Projekt ging, dass es schwer ist, sich vorzustellen, wie wir
ohne ihn weitermachen sollen. Natürlich hat er einen tiefen
Eindruck bei uns allen hinterlassen. Seine Sicht der Welt hat auch
die unsere ein wenig verändert, und seine offene, großzügige Art
hat uns alle entwaffnet. Wir werden ihn sehr vermissen. Ich weiß,
dass das alles sehr plötzlich geschieht. Aber aus Rücksicht auf
Ihre Gefühle halte ich es für das Beste, wenn wir diese Sitzung
verschieben und uns in aller Ruhe überlegen, ob wir weitermachen
wollen.«
Dale Stahlqvist unterbrach ihn verblüfft. »Was?
Wollen Sie damit sagen, dass wir aufhören sollen?«
Cara schlug die Augen auf, während die anderen
ihren Mann anstarrten.
»Nicht aufhören«, sagte Tuckman und hob die Hände.
»Ich meinte nur, dass wir uns überlegen sollten …«
»Aufzuhören«, schnappte Dale. »Wir sollen das Ganze
hinschmeißen, weil wir ohne Mark nicht weitermachen können, oder?
Dann würden wir doch alles, was wir bisher geschafft haben, Lügen
strafen. Die Gruppe hätte keine Bedeutung, und das glaube ich
einfach nicht. Mark hat genauso hart wie wir alle gearbeitet, und
ich glaube, ihn würde dieser Vorschlag entsetzt haben. Verstehen
Sie mich nicht falsch, Professor, aber das wäre wirklich nicht
richtig.«
Tuckman seufzte betrübt, während die anderen
begannen, ihm ebenfalls zu widersprechen. Sie wollten das Ganze zu
Ende bringen und am besten gleich weitermachen – wegen Mark. Cara
war die Einzige, die nichts sagte, sondern
den Blick gesenkt hielt. Aus ihrer Miene war nichts
abzulesen.
Tuckman hätte eigentlich einen Oscar für seine
schauspielerische Leistung verdient. Er sah weder selbstzufrieden
noch stolz aus, als er schließlich ihrem Wunsch nachgab, so
fortzufahren wie geplant. Er wirkte vielmehr müde und resigniert.
Nach ein paar Minuten entschuldigte er sich und erklärte seinen
Teilnehmern, dass sie beginnen könnten, sobald sie so weit
seien.
Patricia tupfte sich gerade mit einem Taschentuch
die Augen, als Tuckman zu uns in die Beobachtungskabine kam. Ich
fragte mich, warum er beinahe eine Minute auf dem Flur verbracht
hatte. Er strich sich mit den Händen die Haare zurück und setzte
sich. Jetzt sah er doch recht zufrieden mit sich aus.
»Terry«, sagte er. »Notieren Sie, dass die Gruppe
selbstständig beschlossen hat, fortzufahren und dass für den Moment
Mr. Lupoldi nicht ersetzt werden soll.«
Er warf mir einen selbstgefälligen Blick zu und
wandte sich dann wieder seinem Assistenten zu. »Was sagen die
Werte?«
»Bisher ist alles ziemlich normal, auch wenn es
eine kleine Erhöhung der elektromagnetischen Strahlung gab, als Sie
Ihre Rede hielten. Aber jetzt kehrt sie zum Durchschnittswert
zurück.«
Tuckman nickte. »Gut. Dann wollen wir doch einmal
sehen, was sie machen.«
Während der nächsten zehn Minuten saß die Gruppe um
den Tisch herum und sprach über Mark. Sie tauschten Geschichten
über ihn und die gemeinsamen Séancen aus, und für einen Moment
hatte ich das Gefühl, bei einer Totenwache zuzusehen.
Patricia kicherte plötzlich. »Wetten, dass Mark bei
Celia ist«, sagte sie.
»So ein Blödsinn«, murmelte Cara.
Der Tisch gab ein lautes Knackgeräusch von sich und
sprang plötzlich auf und ab.
»Bist du das, Celia?«, wollte Wayne Hopke wissen,
der wie immer das Wort an den Geist richtete.
Der Tisch machte wieder einen Satz und rutschte von
einer Seite zur anderen, wodurch Wayne und Cara von ihren Stühlen
fielen. Ein wahrer Hagel von Klopfgeräuschen entrang sich der
Tischplatte. Die restliche Gruppe sprang auf, um dem Tisch
auszuweichen. Ein kleines Bücherregal fiel um, und mehrere
Kartenspiele sowie Stapel von Zeitschriften ergossen sich über den
Boden.
»Die Temperatur fällt. Die elektromagnetische
Strahlung aber nimmt rasch zu.« Terry warf einen Blick über die
Schulter, um zu sehen, was Tuckman dazu meinte. »Ich empfange
Niederfrequenzen.«
»Woher kommen die?«, fragte der Professor. »Von
drau ßen?«
»Nein, aus dem Zimmer. Noch kann ich nicht sagen,
was es ist.«
»Die analysieren wir später.« Tuckmans Augen wichen
nicht von der Szene, die sich im Zimmer nebenan abspielte.
Der Tisch hatte wieder begonnen, durchs Zimmer zu
rasen, und die Gruppe jagte ihm hinterher. Es fiel ihnen schwer,
ihre Finger auf der Platte zu halten. Die Aktivitäten des Tisches
hatten wirklich nichts mit den Tricks zu tun, die mir Ben in der
Bar gezeigt hatte. Der Tisch wand sich geradezu und gab ein
seltsames Klappergeräusch von sich, während er den Teppich
zerknüllte.
»Celia, bist du da?«, fragte Wayne erneut.
Der Tisch antwortete mit einem lauten Knall.
»Ist da Mark?«, rief Patricia.
Ein weiterer lauter Knall folgte, und dann stürzte
sich der Tisch auf das umgefallene Regal. Der CD-Spieler im Zimmer
gab auf einmal einen Laut von sich, und der Tisch blieb zitternd
stehen. Das Geräusch verwandelte sich in einen seltsam verzerrten
Popsong, und wieder gab es einen Knall.
Etwas schwebte, umgeben von einem roten Licht,
kreisend über dem Tisch. Keuchend stellte sich die Gruppe um das
Möbelstück. Das Licht wurde etwas schwächer, und ich konnte einen
flachen, durchsichtigen Schild etwa in der Größe meiner Handfläche
ausmachen, der sich über der Mitte des Tisches drehte. Welche Kraft
ihn auch immer dort hielt – sie war jedenfalls so stark, das sie
für mich sogar durch die Scheibe sichtbar war. Was ich da erkennen
konnte, gefiel mir gar nicht. Ich starrte auf den karmesinroten
Nebel und hatte auf einmal das Gefühl, magisch von ihm angezogen zu
werden.
Cara stieß einen leisen Schrei aus und begann ihre
Hand auszustrecken. »Das gehört mir!«
Daraufhin wurde ihr das Ding ins Gesicht
geschleudert. Sie stieß erneut einen kurzen Schrei aus und zuckte
zurück. Dann presste sie mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand
auf ihre linke Wange. Sie ließ sich auf den Boden sinken und kroch
Richtung Tür. Der Tisch gab noch ein letztes Mal ein lautes Krachen
von sich, und das unheimliche Licht löste sich allmählich
auf.
»Ich glaube, das war’s«, hörte ich Terry sagen, ehe
ich aus der Beobachtungskabine stürzte.
Im Flur sah ich, wie sich die Tür öffnete und
leuchtend
rote und gelbe Energie über den Boden floss, während Cara aus dem
Raum stolperte. Ihre Wange blutete. Ich ging auf sie zu, kam jedoch
in der plötzlichen Welle übernatürlicher Kraft, die ihr gefolgt
war, ins Wanken. Die beiden Welten prallten aufeinander. Eine
unglaublich schwere Last lag auf einmal auf meinen Schultern. Ich
glaubte, nach unten gepresst zu werden, während ich versuchte, der
heißen Welle aus dem Grau zu entkommen. Stolpernd konzentrierte ich
mich auf Cara Stahlqvist, die dahinter stand.
»Cara«, sagte ich und streckte die Hand aus, um sie
am Arm zu fassen. Der Energiesturm fühlte sich nicht wie der
wütende Geist von Bertha Knight Landes an, der sich auf Cara
gestürzt hatte, um sie als falsche Nichte zu bestrafen. Es war ein
viel brutalerer, ein schrecklicher Sturm.
Meine Glieder waren so schwer geworden, dass ich
sie kaum bewegen konnte, und ich hatte das Gefühl, knietief durch
Schlamm zu waten. Fangarme eines gierigen Horrornebels griffen nach
mir. Ich zitterte am ganzen Körper und zwang meinen Arm dazu, sich
zu bewegen.
Cara stieß mich beiseite und eilte an mir vorbei.
Ich stolperte zurück, als ob sie mich mit einem Knüppel erwischt
hätte, und rang nach Luft. Auf einmal schmeckte ich Eis und
verbrannte Erde gleichzeitig. Ich lehnte mich mit der Schulter an
die Wand, um mich so vom blitzenden, zornigen Rand des Grau
abzustoßen. Endlich gelang es mir, mich zu befreien. Ich war zwar
nur wenige Sekunden in dieser Hölle gewesen, fühlte mich aber so
matt, als ob ich minutenlang in einem tobenden Meer gegen die
Strömung gekämpft hätte. Vor Erschöpfung war mir ganz
schwindlig.
Die Energie, die aus der Tür geflossen war, hatte
sich in kleine Farbstrudel aufgelöst und verebbte. Das, was vom
Poltergeist übrig blieb, hinterließ ein ekliges, abstoßendes
Gefühl – wie giftige Efeuranken, die versuchten, einen zu
umschlingen und niederzureißen.
Diesmal hatte der Poltergeist keine eindeutig
auszumachende Form gehabt, aber ich war mir sicher, dass ich ihn
spürte, als ich mich vom Rand des Grau losriss. Er war viel
schlimmer gewesen als am Tag zuvor bei Patricia. Irgendetwas
stimmte mit Tuckmans Gespenst nicht. Es war eindeutig zu stark. Der
Grund dafür mochte die Energieleitung sein, die durch den
Séance-Raum führte und eigentlich gar nicht hätte da sein sollen.
Doch selbst das erklärte nicht, warum das Wesen einen derartigen
Ekel in mir auslöste. Selbst jetzt noch, nachdem es verschwunden
war, spürte ich ihn deutlich.
Während ich mich noch mit gesenktem Kopf an die
Wand lehnte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, stürzten
einige der anderen Teilnehmer in den Gang hinaus. Sie schienen alle
verwirrt zu sein. Schließlich kam Tuckman mit seinem Assistenten
aus der Beobachtungskabine.
Ich trat zu Terry, während der Professor sich darum
bemühte, seine Leute zu beruhigen.
»Ich brauche die Aufzeichnungen«, erklärte ich.
Terry sah mich aus schmalen Augen abschätzig an.
»Wer glauben Sie eigentlich, dass ich bin? Ihr
Boy?«
Diese Äußerung verblüffte mich. Ich wurde an einem
einzigen Nachmittag mit den beiden Seiten des Rassismus
konfrontiert. Selbst Rassismus war nicht so eindeutig auszumachen,
wie es auf den ersten Blick meist schien. »Wollen Sie damit sagen,
dass ich Sie degradieren will, nur weil ich nach den Aufnahmen
frage?«
»Sie hätten genauso gut Tuck fragen können«,
zischte er wütend.
»Tuckman ist aber nicht für die Überwachung und die
Aufnahmen zuständig. Das sind Sie. Aber wenn Sie nicht in der Lage
sind, über Ihren Schatten zu springen und ganz einfach Ihren Job zu
machen, dann sollte ich vielleicht wirklich besser Tuckman
fragen.«
Terry starrte mich finster an. In der zornigen
Pause, die folgte, hörten wir, was hinter uns gesprochen
wurde.
»Wir hätten nicht an Mark denken sollen«, jammerte
Patricia. »Wahrscheinlich haben wir dadurch seinen Geist gerufen,
und jetzt ist er wütend auf uns.«
Ich warf einen Blick über die Schulter und sah,
dass Tuckman die Lippen zusammenpresste. »Sie sollten keine
voreiligen Schlüsse ziehen, Patricia. Ich kann Ihnen versichern,
dass es bestimmt nicht Mark gewesen ist. Den Messungen nach ist
alles wie immer verlaufen«, schwindelte er. »Das haben allein Sie
erzeugt. Sie alle. Nicht der Geist unseres toten Freundes. Es ist
allein Ihr Werk.«
Cara kehrte langsamen Schrittes zur Gruppe zurück.
Sie presste ein feuchtes Stück Papiertaschentuch an ihre blutige
Wange. Finster musterte sie die anderen.
»Vielleicht hätten wir nicht über Mark sprechen
sollen«, meinte Cara. »Vielleicht hat uns sein Tod doch zu sehr
aufgewühlt.«
»Es muss Marks Geist gewesen sein. Er hat so ganz
anders reagiert als Celia«, beharrte Patricia.
Cara gab ein verächtliches Lachen von sich. »So ein
Bockmist! Das Ganze war eindeutig Celia, genau so wie sie sich in
letzter Zeit aufgeführt hat – einfach gemein. Es gibt keinen
verdammten Geist von Mark! So etwas gibt es nicht!« Sie starrte die
anderen wütend an.
Tuckman schüttelte den Kopf. »Ich kann verstehen,
dass Sie alle etwas aufgebracht sind …«
Dale wandte sich nun ebenfalls Cara zu und
versuchte,
seinen Arm um sie zu legen. »Cara … du blutest ja. Ich bringe dich
ins Krankenhaus.«
Sie stieß ihn wütend zurück. »Lass mich in Ruhe,
Dale. Ich komme auch ohne dich zurecht.« Damit drehte sie sich um
und ging die Treppe hinunter. Ihr Mann starrte ihr hinterher, und
für einen Moment konnte man in seiner Miene deutlich sehen, wie
verletzt er war.
»Sehr weit wird sie nicht kommen«, meinte Ian. »Sie
hat ihre Tasche dagelassen.«
»Oh je«, murmelte Dale und schüttelte seinen
Schmerz ab. »Ich bringe sie ihr wohl besser.« Er ging in den Séance
Raum zurück.
Ich wandte mich wieder Terry zu. »Ich werde in
einer Viertelstunde wiederkommen, um die Aufnahmen abzuholen. Und
ich schrecke nicht davor zurück, Ihnen Ihren Chef auf den Hals zu
hetzen, aber es wäre mir lieber, wenn Sie sich dazu entschließen
könnten, mir selbst die Aufnahmen zu geben. Zwingen Sie mich nicht
dazu, Ihnen Ihre arrogante Miene vom Gesicht zu wischen. Sie würden
ziemlich blöd dastehen, wenn Ihnen eine dürre weiße Zicke wie ich
zeigen würde, wo es langgeht.«
Mit diesen Worten schob ich mich an den Probanden
und Tuckman vorbei, der mir einen neugierigen Blick zuwarf. Am Fuß
der Treppe traf ich auf Cara.
Sie stand vor dem Ausgang und starrte auf etwas in
ihrer Hand. Ich blickte über ihre Schulter und sah einen
cremefarbenen Stein, der bernsteinfarben und braun gesprenkelt und
von einem dunkelgelben Metall umfasst war. Da ich mich mit altem
Schmuck nicht auskannte, konnte ich nicht sagen, ob es sich um ein
echtes oder ein gefälschtes Stück handelte.
»Was ist das?«
Sie hielt für einen Moment die Luft an und warf mir
einen kalten Blick zu. »Das geht Sie gar nichts an.«
»Vielleicht nicht. Es sei denn, es handelt sich um
die Brosche, die Sie verloren haben und die möglicherweise von
einem der Teilnehmer gestohlen wurde.«
Sie runzelte die Stirn. »Also gut. Es ist
tatsächlich meine Brosche.«
»Sie sieht nicht so eindrucksvoll aus, wie ich
erwartet hatte.«
»Sie gehörte meiner Großtante! Bertha Knight –
verdammt, Sie könnten etwas mehr Respekt zeigen. Ich dachte, ich
hätte sie … Ich hätte sie bei Mark liegen gelassen.«
Für einen Moment wirkte sie nicht mehr so kalt und
distanziert wie sonst. Ich musste die Gelegenheit nutzen und etwas
nachbohren, ehe sie wieder zufror. Wir sahen einander an, und ich
legte den Kopf schief. »Wieso haben Sie die Brosche bei Mark
vergessen?«
Sie zögerte.
Ich nicht. »Ich werde Sie so lange fragen, bis Sie
es mir erzählen. Aber da Ihr Mann auf dem Weg zu Ihnen ist, sollten
Sie sich vielleicht etwas beeilen.«
»Oh Gott … Also gut. Ich habe die Brosche am
Mittwoch in Marks Wohnung vergessen. Wir hatten eine Affäre, und
ich wollte nicht, dass die anderen davon erfahren. Also habe ich
behauptet, dass ich sie verloren hätte. Zufrieden?«
»Nein, nicht ganz. Warum sind Sie nicht
zurückgekehrt, um die Brosche zu holen?«
»Ich wollte noch einmal zurück, aber ich
hatte keine Zeit, und Mark reagierte auf keinen meiner Anrufe.
Einer von denen muss sie von Mark bekommen haben … Oder man
hat sie ihm gestohlen«, überlegte Cara laut.
»Warum glauben Sie, dass es jemand aus der Gruppe
war?«, hakte ich nach.
»Es muss jemand aus der Gruppe sein. Celia hat sie
geworfen, aber einer der anderen muss sie dazu gebracht haben. Sie
hat sich in letzter Zeit wirklich verändert. Sie ist gar nicht mehr
wie der Philip-Poltergeist, von dem uns Tuck erzählt hat. Sie ist
richtig grausam und gehässig geworden. Früher hatten wir so viel
Spaß zusammen.«
»Und warum kann es nicht doch Marks Geist gewesen
sein? Vielleicht haben Sie ihn verärgert.«
»Es gibt keine Geister«, fuhr sie mich an. »Wir
haben Celia erfunden. Wir kontrollieren sie – oder zumindest einer
von uns. Sie haben doch gesehen, wie die Sitzung heute lief. Einer
von den anderen hat die Brosche geworfen.«
In diesem Moment hörten wir rasche Schritte auf der
Treppe hinter uns. Cara hielt inne und drehte sich um. Ihr Mann kam
mit ihrer Tasche und ihrer Jacke über dem Arm auf uns zu. Er
lächelte sie an, wirkte jedoch sofort zerknirscht und wütend, als
er die rote Wunde auf ihrer Wange sah.
»Komm, Liebling, wir gehen«, sagte er und legte ihr
die Jacke über die Schultern. »Wir wollen doch nicht, dass dein
schönes Gesicht eine Narbe bekommt, Cara.« Er gab ihr einen Kuss
auf die Stirn und führte sie hinaus.
Cara. Übersetzt bedeutet das »Liebes«.
Ich sah ihnen hinterher, bis die Tür ins Schloss
fiel. Beinahe tat mir Dale Stahlqvist leid. Er hatte eine Trophäe
geheiratet – eine Göttin aus Quecksilber und Stahl -, und jetzt
hatte er sich in sie verliebt. Offenbar hatte er vergessen, dass
sowohl Quecksilber als auch Göttinnen tödlich sein konnten.
Doch in dieser ganzen Geschichte war noch jemand
tödlich.
Jemand hatte bei Mark die Brosche gefunden oder Celia dazu
gebracht, sie zu holen. Es musste eine der Personen sein, die an
den Séancen teilnahmen. Derjenige hatte seine Überlegenheit
deutlich gezeigt, indem er Cara das Schmuckstück vor allen anderen
ins Gesicht geworfen hatte. Es brauchte nicht viel Fantasie, sich
vorzustellen, dass jemand, der sich für derart überlegen hielt,
auch glaubte, gefahrlos einen Mord begehen zu können und dafür
ebenfalls den Poltergeist zu benutzen.
Es konnte jeder sein – einschließlich Dale oder
sogar Cara, die vielleicht so perfekt log, wie ihre Zähne aussahen.
Doch das bezweifelte ich eigentlich. Ihre Verstörung hatte echt
gewirkt – wesentlich echter als ihre Rolle als angebliche
Großnichte von Bertha Knight Landes.
Ich ging wieder die Treppe hinauf, um die Aufnahmen
zu holen. Innerlich bereitete ich mich bereits auf eine
Auseinandersetzung mit Terry und Tuckman vor.