Kapitel 33

 

Nur wenige Festungen verdienen es, bereist zu werden. Tatsächlich offenbaren die meisten erst als Ruine ihre wahre Schönheit.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1

 

»Steh auf! Dein Herr braucht dich!«

Jonan schlug die Decke zur Seite. Er hatte nicht geschlafen, so wie er in keiner Nacht schlief. Die Uniform, die er trug, war frisch gestärkt. Der Kragen drückte gegen seinen Hals.

»Wo ist er?«, fragte er die dunkle Silhouette, der neben seinem Bett stand. Die anderen Soldaten bewegten sich nicht. Zu sechst schliefen sie in dem kleinen fensterlosen Raum.

»In seinem Quartier.«

Jonan zog die Stiefel an und strich sich die Haare glatt. Erst als seine Finger Haarstoppeln berührten, fiel ihm wieder ein, dass ihm der Quartiermeister den Kopf rasiert hatte. Das machen wir bei allen Neuen, hatte er gesagt. Wegen der Läuse.

Zweimal musste Jonan einen Sklaven nach dem Weg fragen, bis er das Zimmer des Fürsten gefunden hatte. Die Tür stand offen. Graues Tageslicht drang hindurch. Es dämmerte. Craymorus kam ihm bereits entgegen. Er wirkte aufgeregt, beinahe euphorisch.

»Ah, neue Uniform, neuer Haarschnitt. Du sieht aus wie ein Soldat«, sagte er, während er sich an Jonan vorbeischob. »Komm, er ist wach.«

»Wer?«

»Korvellan natürlich. Wer denn sonst?«

Sie haben Korvellan gefangen genommen? Jonan fragte sich, wie ihnen das gelungen war.

Craymorus blieb am Treppenabsatz stehen und nahm die Krücken in eine Hand. »Trag mich in den Kerker.« Er lächelte flüchtig. »Ich will mir nicht gerade heute das Genick brechen.«

Jonan lud in sich auf die Schultern. Der Fürst war schwerer, als er gedacht hatte. Er ging die Treppe nach unten und seinen Anweisungen folgend durch eine Tür und eine weitere Treppe hinab. An jedem Absatz standen Soldaten und präsentierten ihre Speere, wenn Craymorus sie passierte.

Der Kerkermeister selbst öffnete ihnen die Tür. Er trug einen Schlüsselring am Gürtel und stellte sich als Nokt vor.

»Du bist neu, oder?«, fragte er Jonan, als er eine weitere Tür öffnete. Es stank nach Kot und Wahnsinn.

»Ja.« Jonan presste die Zähne aufeinander. Lautes Stöhnen drang durch die geschlossenen Zellentüren, so fremd, als wären die Kreaturen hinter diesen Türen nicht mehr menschlich oder noch nie menschlich gewesen. Die Dunkelheit schien ihn erdrücken zu wollen.

»Man gewöhnt sich daran«, sagte Craymorus, aber Jonan spürte, wie sein Herz wild gegen den Käfig seiner Rippen pochte.

»Was sind das für Zellen?«, fragte er, um sich und ihn abzulenken.

»Die der Besessenen«, antwortete Nokt. »Wir töten sie nicht, damit die Dämonen in ihnen gefangen bleiben. In der Dunkelheit sind sie einigermaßen ruhig.«

Jonan spürte, wie Craymorus auf seinem Rücken aufatmete, als sie den Trakt verließen und eine große Höhle mit Unterständen und Zelten durchquerten. Verurteilte und Wärter schienen gemeinsam dort zu leben. Die meisten lagen noch eingerollt in ihre Decken. Der Kerkermeister öffnete zwei weitere Türen, trat aber nicht durch die letzte, sondern blieb stehen.

»Er ist angekettet, aber seid vorsichtig, Herr. Bei diesen Tieren weiß man nie.«

Jonan ließ Craymorus von seinem Rücken und sah sich um. Außer Nokt hielt sich niemand in dem Gang auf. Er würde bis in die Höhle fliehen können, sollte ihn Korvellan als Nachtschatten erkennen. Vielleicht gab es dort einen anderen Ausgang als den durch die Zellen der Besessenen. Er wusste es nicht, so wie er nicht wusste, ob Korvellan ihn überhaupt erkennen würde. Bei dem alten Mann hatte Jonan den Nachtschatten gerochen, wieso, konnte er nicht sagen.

Ich weiß nichts über mich, dachte er.

Craymorus stieß die Tür mit einer Krücke auf und trat ein. Der Raum war klein, die vier Soldaten, die an den Wänden standen, füllten ihn mit ihrem Geruch nach Schweiß; sie hatten Angst. Der Mann, den sie bewachten, saß auf dem Boden. Ketten drückten seine Gliedmaßen nach unten, steckten in Eisenringen, die im Boden verschraubt waren. Der Mann sah auf. Eine tiefe Schnittwunde zog sich von seiner Stirn bis zu seinem Ohr. Jonan bemerkte den schwarzen Faden, mit dem sie genäht worden war.

Craymorus nickte den Soldaten zu. »Lasst uns allein.«

Die Männer drängten sich an Jonan vorbei. Er wollte mit ihnen gehen, doch dann hörte er Craymorus' Stimme. »Nein, du bleibst bei mir.«

»Ja, Herr.«

Jonan schloss die Tür. Die Soldaten standen im Gang, versperrten ihm den einzig möglichen Fluchtweg; er würde nicht an ihnen vorbeikommen, es war zu eng. Er presste die Lippen aufeinander, atmete durch und drehte sich zu dem Gefangenen um.

Korvellan starrte ihn an.

Er weiß es, dachte Jonan. Sein eigenes Gesicht war eine Maske, die nichts verriet. Es war seine letzte Rüstung, jenseits aller Waffen, dem Eisen und dem Leder. Es würde ihn bis in den Tod begleiten.

»Du solltest mich ansehen und nicht meinen Leibgardisten«, sagte Craymorus. »Er kann dir nicht helfen, ich schon.«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das stimmt.« Jonan hörte die Aufforderung, die darin lag. Dann löste Korvellan den Blick von ihm. »Was kann ich für Euch tun, Fürst?«

»Du könntest dich in das verwandeln, was du bist.« Craymorus stand neben einem Tisch und schüttete Wein in einen Kelch. Seine Finger zitterten kaum merklich. »Das ist ehrlicher.«

»Ich bin, was Ihr seht, Fürst.« Korvellan hob die Hände, bis die Ketten sich spannten. »Euer Gefangener.«

»Meine Soldaten behaupten, sie hätten dich bei einem Dorf in der Nähe aufgegriffen. Was hast du da getan?«

»Gefrühstückt.«

Craymorus hob die Augenbrauen. »Und warum frühstückt der Kommandant der Nachtschattenarmee allein in einem Dorf, keine Tagesreise von dieser Festung entfernt?«

Korvellan hob die Schultern. Seine Ketten klirrten. »Weil er die Krieger, die ihn begleiteten, weggeschickt hatte. Weil er auf eine Lüge hereinfiel, die er hätte erkennen müssen. Weil er dumm war.«

»Du scheinst deine Lage nicht ernst zu nehmen, Tier.«

»Das ist richtig.« Korvellan nickte. Sein Tonfall veränderte sich. Er plauderte nicht mehr. »Meine Lage ist nichts im Vergleich zu der Euren.«

Er ließ Craymorus nicht darauf antworten, sondern fuhr fort: »Ist es wahr, dass Nachtschatten Euch, als Ihr noch ein Kind wart, zum Krüppel machten?«

Der Fürst stellte den Becher ab. Jonan verstand nicht, warum er lächelte. »Das ist richtig.«

»Aber sie haben Euch nur die Beine genommen, nicht das Augenlicht, oder?«

»Was …?«

»Warum seht Ihr dann nicht?« Korvellans Stimme durchschnitt den Raum wie ein Messer.

Ein Soldat klopfte von draußen an die Tür.

»Braucht Ihr Hilfe, Herr?«

»Nein«, rief Craymorus. Er sah Korvellan an. »Was soll das heißen?«

»Dass du sehen musst, jedes Mal, wenn du ihr in die Augen blickst. Dass du es bei jeder Berührung spüren musst. Ich habe ihre Leere gerochen.« Der Nachtschatten zog an seinen Ketten. Ein seltsamer Ausdruck erschien in seinem Gesicht, als würde sich das Tier langsam unter die menschliche Fassade schieben und sie ausfüllen. Er schien es ebenfalls zu bemerken, denn er ließ die Schultern sinken und atmete durch. »Ich bin nicht der Feind. Sie ist es.«

Stille breitete sich im Raum aus. Wachs tropfte von den Kerzen an der Wand auf den Boden. Craymorus setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Tisch stand, und senkte den Kopf. Korvellan erhob sich, soweit es seine Ketten zuließen.

»Ich biete dir meine Hilfe an. Schlag sie nicht aus.«

Es war stickig. Die Kerzen flackerten, so als sei draußen eine Tür geöffnet worden. Korvellans Blick blieb auf Craymorus gerichtet. Sein Gesicht war verkniffen und ernst. Jonan wünschte sich, er hätte in seinen Geist blicken und sehen können, ob er ein Spiel trieb oder es ernst meinte.

Redet er von der Fürstin?, fragte er sich. Tohm hatte behauptet, Korvellan und Syrah hätten vor vielen Jahren eine Affäre miteinander gehabt, aber er hatte auch vieles andere behauptet. Jonan wusste nicht, was davon stimmte und was frei erfunden war.

Craymorus räusperte sich. »Hast du solche Angst vor dem Tod«, sagte er, »dass du es vorziehst, dein Leben bei den Besessenen zu verbringen?«

Korvellan schüttelte den Kopf. Es erschien Jonan nicht wie eine Antwort auf Craymorus' Frage.

»Dann wirst du mir sicher sagen, wie viele Nachtschatten dir und der anderen Kreatur folgen, wie sie bewaffnet sind und welche Rüstungen sie tragen.«

Die Stimme des Fürsten klang seltsam belegt. Sein Blick irrte durch den Raum, als könne er an keinem Punkt zur Ruhe kommen.

Er weiß, wovon Korvellan spricht, dachte Jonan. Und es trifft ihn.

»Herr«, begann er, aber ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

Craymorus wirkte erleichtert, als er »Ja!« rief.

Ein Offizier trat ein. Es war ein Mann mittleren Alters mit einem langen Backenbart. Er warf einen kurzen Blick auf den Gefangenen, dann ging er zu Craymorus.

»Meinen Gruß, Kavan«, sagte Korvellan, »und Glückwunsch zur Beförderung.«

Der Mann zögerte, als wolle er antworten, dann beugte er sich zu Craymorus und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das rechte Bein des Fürsten zuckte. Metallschienen quietschten. Craymorus gab dem Offizier ebenso leise eine Antwort; Jonan konnte nichts verstehen. Der Mann nickte und verließ den Raum, ohne Korvellan noch einmal anzusehen.

Craymorus griff nach seinen Krücken. Eine fiel um und rutschte über den Boden. Er fluchte.

Korvellan griff danach. Jonan legte die Hand auf sein Schwert, aber der Nachtschatten schob sie nur zurück. Craymorus zögerte, bevor er sie aufhob, so als wolle er nichts anfassen, dass Korvellan berührt hatte.

»Jonan«, sagte er dann, »trag mich nach oben. – Soldaten!« Er brüllte den Befehl in den Gang hinein. Seine Stimme überschlug sich. »Bringt den Gefangenen auf den Nordturm!«

»Dein Name ist also Jonan.« Korvellan ließ sich von den Soldaten auf die Beine ziehen. Sie zogen die Ketten enger. Es sah schmerzhaft aus, aber er zeigte keine Reaktion.

»Ich werde ihn mir merken.«

Seltsamerweise klangen seine Worte nicht wie eine Drohung.

 

 

Jonan war außer Atem, als er die Spitze des Nordturms erreichte und die Tür nach draußen aufzog. Wind schlug ihm entgegen, fegte die Beklemmung des Kerkers hinweg. Er blinzelte in die aufgehende Sonne. Wolken jagten über den Himmel.

»Ein Sturm kommt auf«, sagte einer der Soldaten, der Korvellan an ihm vorbeischob. Jonan setzte Craymorus ab. Eine Fahne wehte über ihm und warf flatternde Schatten über den Holzboden. Die Mauern, die ihn umgaben, reichten Jonan bis zur Brust. Felder erstreckten sich gelb dahinter. Schwarzer Rauch stieg am Horizont auf.

Craymorus zog sich zur Mauer. »Bringt ihn her.«

Die Soldaten stießen Korvellan nach vorn. Er stolperte und fiel auf die Knie. Jonan griff ihm unter die Schulter und zog ihn hoch. Der Nachtschatten ließ sich gegen ihn fallen, so als könne er sich allein nicht halten, und raunte ihm zu: »Zusammen könnten wir sie schlagen.«

Jonan antwortete nicht. Die Soldaten drängten sich neben ihm an die Mauer. »Da sind sie!«, rief einer unvermittelt und streckte den Arm aus. Ein anderer fluchte.

Jonan drehte den Kopf. Sie kamen über die Hügel, nicht geordnet wie Soldaten, sondern wild und jagend, so als triebe der Wind sie vor sich her. Jonan hörte ihr tausendfaches Gebrüll. Etwas rührte sich in ihm, stieg in seiner Kehle auf. Er griff in die Messerklinge an seinem Gürtel. Schmerz schoss durch seine Hand. Das Gefühl verging.

Craymorus stieß Korvellan eine Krücke in die Seite. »Du bist also nicht der Feind!«, rief er gegen den Wind. »Und was ist mit ihnen?«

Korvellan schien den Schlag nicht zu spüren. Er starrte auf die Hügel. Sein Mund bewegte sich. »Was machst du nur, Schwarzklaue?«, hörte Jonan ihn flüstern. »Bei den Göttern, was tust du da?«

Er schlug mit der Faust gegen die Mauer. Haut platzte von seinen Knöcheln. »Ich kann sie aufhalten«, sagte er lauter. Er sah Craymorus an. »Hörst du, was ich sage? Ich kann sie aufhalten. Schick mich zu ihnen. Sie werden auf mich hören.«

Ein Soldat lachte laut. Craymorus nahm den Blick nicht von den Nachtschatten. »Nein«, sagte er. Seine Nervosität verschwand. Er wirkte ruhig, so als sähe er nach einem langen Weg das Ziel. »Wir werden sie vernichten, jeden Einzelnen.«

»Und womit?« Korvellan schüttelte den Kopf. »Baldericks Armee existiert nicht mehr, du hast keine Soldaten, keine Waffen. Wie willst du sie schlagen?«

»Mit ihnen.«

Jonan folgte Craymorus' Blick. Ein Seitentor war unter ihnen geöffnet worden. Menschen traten heraus. Sie wirkten unsicher, sahen nach oben zum Turm und hinaus auf die Felder. Jonan erkannte Adelus zwischen ihnen. Er winkte Craymorus zu.

»Magier?«

Jonan fragte sich nur kurz, woher Korvellan wusste, was sie waren. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Tür nach unten unbewacht war. Alle Soldaten drängten sich an der Brüstung. Niemand sah hinter sich.

Es ist nicht mein Kampf, dachte er.

»Sie sind nicht stark genug«, hörte er Korvellan sagen, während er langsam zurückwich. Die Lücke, die er hinterließ, schloss sich sofort.

»Selbst, wenn sie stark wie vor dem Krieg wären, könnten sie es nicht schaffen. Sie sind zu langsam.« Korvellans Ketten klirrten bei jeder Bewegung. »Es ist unmöglich.«

Craymorus stellte die Krücken ab und begann die Lederriemen an seinen Beinschienen zu lösen. Jonan runzelte die Stirn, verstand nicht, was er vorhatte. Dann hielt Craymorus die Riemen auch schon in der Hand. Locker fiel seine Hose um die dürren Beine. Ein Soldat drehte den Kopf. Sein Blick weitete sich beinahe erschrocken, dann stieß er den Mann neben sich an.

»Sieh doch!«, hörte Jonan ihn sagen.

Ohne Krücken und ohne Schienen trat Craymorus einen Schritt vor, vorsichtig, so wie ein Seiltänzer hoch über dem Boden. Immer mehr Gesichter drehten sich in seine Richtung. Craymorus schien ihre Aufmerksamkeit zu bemerken. Er hob den Kopf und lächelte, machte einen weiteren Schritt, dann noch einen. Der Schmerz, den Jonan für Falten in seinem Gesicht gehalten hatte, verschwand. Es wirkte auf einmal jung und glatt.

Fremd.

»Wenn das möglich ist –«, Craymorus breitete die Arme aus, »– dann ist alles möglich!«

Der Wind wehte seine Worte über den Turm hinaus, vermischte sie mit dem Gebrüll der heranjagenden Nachtschatten und dem Jubel der Soldaten.

Korvellan ließ die gefesselten Hände sinken. Jonan wandte sich ab.