Kapitel 4

 

Es ist der Krieg und nicht der Frieden, der Spuren hinterlässt. Sie graben sich in das Land und berichten von seiner Geschichte, so wie Narben am Körper eines alten Kriegers. Eine friedliche Provinz mag schön anzuschauen sein, doch zu erzählen hat sie nichts.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

Jonan folgte Ana.

Sie ritt nach Süden, so wie er es erwartet hatte, und sie hielt sich von den großen Straßen fern, wie er es gehofft hatte. Es war eine gefährliche Gegend. So nahe am Großen Fluss gab es viele Milizen. Sie suchten die Dörfer und Wege nach Nachtschatten ab, stellten Fremde zur Rede, folterten und töteten. Bei den meisten, die Jonan aus dem Gebüsch heraus beobachtete, schien es sich um Bauern zu handeln, die selbst genähte Uniformen trugen und auf Pferden saßen, die sie sich nie hätten leisten können. Jonan ahnte, woher die Tiere stammten und die Stoffe der Uniformen.

Er schüttelte sich den Regen aus den Haaren. Einen Moment lang wurde ihm schwindelig, und er musste sich am Hals des Pferdes abstützen. Seine Verletzungen heilten zwar, aber er hatte immer noch Fieber. Jonan wusste, dass er einige Tage Ruhe gebraucht hätte, doch das ließ sich nicht einrichten. Der Abstand zwischen ihm und Ana durfte nicht größer werden.

Zu beiden Seiten des Weges, auf dem er ritt, breiteten sich Wald und Unterholz aus. Hin und wieder sah er Ana durch die Blätter und Zweige, doch meistens folgte er nur den Spuren ihres Pferdes. Anfangs war er näher an ihr geblieben, bis sie sich dann eines Abends plötzlich umgedreht und ihn angeschrien hatte. Beinahe hätte er ihr geantwortet, doch dann hatte er bemerkt, dass sie einen Baum und nicht ihn anschrie. Ruhig war er im Wald stehen geblieben und hatte gewartet, bis sie ihren Fehler erkannt und sich abgewandt hatte. Er bildete sich ein, dass sie enttäuscht gewirkt hatte, obwohl er in der Dunkelheit ihr Gesicht nicht hatte sehen können. Der Gedanke gefiel ihm, und er dachte des Öfteren daran, wenn ihn Müdigkeit und Schmerzen niederzudrücken drohten.

Er hob die Nase in die Luft. Die Bewegung fühlte sich so vertraut an, so natürlich, dass es ihn erschreckte und er den Kopf sofort wieder senkte.

Ich bin kein Tier, dachte er. Die Erinnerung an seine Verwandlung kehrte zurück. Er hatte geglaubt, es würde ihm schwerfallen, sich in dem Körper des Tiers zurechtzufinden, hatte geglaubt, er würde in der ungewohnten Gestalt zu unbeholfen reagieren, um den Kampf noch gewinnen zu können. Doch er hatte sich geirrt. Nicht er beherrschte das Tier, das Tier beherrschte ihn.

Jonan sah auf und ließ warmen Regen in sein Gesicht tropfen. Er hatte sich gefühlt wie ein Ertrinkender, der nach einer Endlosigkeit unter Wasser die Oberfläche durchstieß und klare Luft einatmete. Fast sein ganzes Leben lang hatte er das Tier unterdrückt. Es freizulassen, war eine Erlösung gewesen, die sich nicht wiederholen durfte.

Ich bin kein Tier, wiederholte er in Gedanken, wohl wissend, dass das eine Lüge war. Doch er brauchte diese Lüge. Sie unterschied ihn von den Ungeheuern, die in Somerstorm eingefallen waren.

Jonan wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Sein Blick fiel auf einen Schwarm Krähen, die über einigen Bäumen kreisten. Es waren mehr als zwei Dutzend. Amseln flatterten zwischen ihnen umher. Ein Bussard saß auf einem Baumwipfel, satt und träge. Seit die Angst vor den Nachtschatten das Land beherrschte, musste kein Aasfresser Hunger leiden.

Jonan sah wieder auf den aufgeweichten Boden. Ana musste die Krähen ebenfalls bemerkt haben, denn die Spur ihres Pferdes wich vom Weg ab, so als hätte sie nachsehen wollen, was die Vögel gefunden hatten. Doch dann kehrte die Spur auf den Weg zurück.

 

 

Der Regen wurde stärker. Jonan ritt ein wenig schneller. Die Spuren im Schlamm füllten sich rasch mit Wasser. Ana sah er nicht mehr. Sie hatte sich zu weit von ihm entfernt.

Es knackte laut im Unterholz. Jonan zügelte sein Pferd. Seine freie Hand glitt zu einem der Schwerter, die in seinem Gürtel steckten. Sein Blick suchte den Wald ab und fand eine Gestalt, die ihm langsam entgegenkam. Es war ein Mann. Er saß auf einem Esel und trug durchnässte schwarze Kleidung. Seine Mundwinkel bewegten sich, so als würde er reden, aber über das Geräusch des Regens konnte Jonan nichts verstehen.

Der Esel trabte aus dem Unterholz auf den Weg, senkte den Kopf und begann aus einer Pfütze zu trinken. Sein Reiter ließ ihn gewähren, wartete geduldig, während das Wasser über sein Gesicht rann. Die Zügel hielt er locker. Seine Beine, die zu lang für die Hose waren, berührten fast den Boden. Jonan beachtete er nicht.

Nach einer Weile hob der Esel den Kopf und trabte weiter. Jonan sah ihn näher kommen. Seine Hand berührte den Schwertgriff, legte sich darum. Der Reiter schien ihn nicht zu bemerken. Sein Blick glitt durch Jonan hindurch, so als wären er und sein Tier die einzigen Wesen auf dem Weg. Der Mann sah noch nicht einmal auf, als zwei Pfeile seinen Rücken trafen. Jonan hörte ihren dumpfen Einschlag, sah, wie sich die Pfeilspitzen aus der Brust nach vorne schoben. Blut tropfte von rostigem Eisen.

Der Esel wieherte erschrocken und keilte aus. Der Reiter rutschte von seinem Rücken, während Jonan vom Pferd glitt und es zwischen sich und die Richtung, aus der die Pfeile gekommen waren, brachte. Seine Seite, die ein Schwerthieb aufgerissen hatte, schmerzte so stark, dass er kaum die Zügel halten konnte. Er biss die Zähne zusammen.

Kurz glitt sein Blick zu dem Mann am Boden. Er lag auf dem Bauch. Seine Arme und Beine bewegten sich, als wollte er durch den Schlamm davonschwimmen. Jonan sah in den Wald. Äste knackten, dann lösten sich Gestalten aus den Schatten der Bäume.

»Verdammt gut geschossen«, sagte eine raue Stimme. »Verdammt gut.«

Männer traten auf den Weg. Jonan reichte ein Blick, um alles zu erfassen, was er wissen musste. Es waren fünfzehn, die eine Hälfte fast schon zu alt zum Kämpfen, die andere fast noch zu jung. Zwei der Jungen trugen Bögen in der Hand und Köcher auf dem Rücken. Kurzschwerter steckten in Schlaufen an ihren Gürteln. Die anderen waren mit Schwertern, Äxten, Lanzen und Knüppeln bewaffnet. Die meisten trugen mehr als eine Waffe, sahen aber nicht so aus, als ob sie damit umgehen könnten.

Trotz der Uniformen, die sie anhatten, bewegten sie sich wie Bauern, nicht wie Soldaten. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit verlieh ihnen Sicherheit, nicht ihr Können. Jonan schätzte, dass er fünf von ihnen umbringen musste, dann würden die anderen die Flucht ergreifen.

Er spannte sich an. Seine Muskeln schmerzten, die Wunde in seiner Seite begann noch stärker zu stechen als zuvor.

»Wer seid ihr?«, fragte er, sorgfältig darauf achtend, dass sein Pferd zwischen ihm und den Fremden blieb.

Der Mann mit der rauen Stimme, der eine Art Anführer zu sein schien, trat vor. »Hast du keine Augen im Kopf? Wir sind die fürstliche Miliz.«

»Wir sind das Vorauskommando der fürstlichen Miliz«, sagte ein anderer Mann. Er war dünner als der Anführer und hatte ein faltiges Gesicht, dessen Augen nervös zuckten. Sein Adamsapfel hüpfte bei jedem Wort auf und ab. »Die Hauptstreitmacht lagert nicht weit entfernt von hier.«

Er betonte die Begriffe Vorauskommando und Hauptstreitmacht, als habe er sie irgendwo aufgeschnappt und wisse nicht genau, was sie bedeuteten. Für Jonan bestätigten sie jedoch, was er befürchtet hatte. Die Milizsoldaten waren nicht allein. Wenn auch nur einer von ihnen seinen Klingen entkam, würde jeder selbst ernannte Soldat der Umgebung hinter ihm her sein. Und sie kannten sich aus in diesen Wäldern, er nicht.

»Sei ruhig, Josyff«, sagte der Anführer. »Das geht keinen Fremden was an.«

Er ging zu dem Sterbenden und blieb stehen, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben. Der Mann lag neben einer Pfütze und starrte hinein. Regentropfen verzerrten sein Spiegelbild, Blut färbte es rot. Eine Hand hatte er ausgestreckt, so als wolle er sein Spiegelbild berühren.

»Da bist du ja«, sagte er leise.

Jonan wusste nicht, was das bedeuten sollte. Er nickte in Richtung des Sterbenden. »Wer ist er?«

»Er hat das dunkle Auge.«

»Aber nicht mehr lange, was, Tohm?«, sagte einer der Jungen. Seine Wangen hatten sich vor Aufregung rot gefärbt. Wahrscheinlich hatte er noch nie zuvor jemanden getötet. »Hab ich für gesorgt. Ein Schuss, genau zwischen …«

»Ja, ja.« Tohm ließ ihn nicht ausreden. »Fang lieber mal den Esel ein.«

Der Mann am Boden röchelte. Blut und Speichel bildeten Bläschen auf seinen Lippen.

»Das dunkle Auge«, sagte Tohm erneut. »Er sieht dich an, und du stirbst. Haben sich die Leute hier viel zu lange gefallen lassen. Aber dann kamen wir. Und jetzt sieht er sich selbst an. Ist nur gerecht.«

Er wandte den Blick von dem Sterbenden ab. »Und wer bist du?«

Jonan hob die Schultern. »Jemand, der nach Arbeit sucht.«

»Was für Arbeit?«

»Arbeit wie die eure.« Jonan beobachtete die Männer aus den Augenwinkeln genau. Ihre Blicke waren auf ihren Anführer gerichtet. Aus eigenem Antrieb würden sie nicht handeln.

Tohm nahm die Hände aus den Taschen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du willst also zur fürstlichen Miliz?«, fragte er viel zu laut.

Jonan nickte.

Tohm drehte sich zu seinen Männern um und steckte die Hände wieder in die Taschen. Jonan dachte unwillkürlich an die Gaukler, die er in Braekor gesehen hatte. Er war ein Mann, der Publikum brauchte.

»Und woher«, sagte Tohm immer noch zu laut, »sollen wir wissen, dass du kein Nachtschatten bist?«

»Das finden wir doch ganz schnell raus«, sagte der Junge mit den roten Wangen. Ein paar andere Männer nickten.

Jonan ließ die Zügel seines Pferdes los. Es trabte zum Wegesrand und begann zu grasen. Die Männer sahen die Schwerter an seinem Gürtel. Er legte die Hände darauf und hob den Kopf.

»Ihr beleidigt mich. Entschuldigt euch oder stellt euch meinen Klingen.«

Der Junge lachte. »Du bist allein.«

Jonan schwieg und sah ihn an. Die Wangen des Jungen röteten sich, das Lachen verschwand aus seinem Gesicht. Dann wich er Jonans Blick aus und begann an der Sehne seines Bogens zu zupfen. Auch die anderen erwiderten seinen Blick nicht. Niemand schien es auf einen Kampf anlegen zu wollen.

Josyff räusperte sich. »Nachtschatten sind Tiere«, sagte er langsam, als müsse er über jedes Wort nachdenken. »Sie haben keine Ehre. Man kann sie nicht beleidigen. Man kann ja auch keine Kuh beleidigen. Wenn er sich also beleidigt fühlt, kann er kein Nachtschatten sein, oder?«

Tohm nickte. »Warte hier«, sagte er zu Jonan, dann ging er zu seinen Männern. Sie bildeten einen Kreis um ihn, und sie begannen leise miteinander zu diskutieren. Das Röcheln des Sterbenden war so laut, dass Jonan sie nicht verstehen konnte. Ruhig blieb er stehen. Sein Körper war angespannt, sein Geist wach. Er spürte keine Furcht. Im Orden hatte man ihn gelehrt, dass er ein Werkzeug war. Ein Werkzeug erledigte seine Arbeit, bis es zerbrach. Angst hatte keinen Platz in diesem Dasein. Sein Blick fiel auf die Spuren im Schlamm.

Auch nicht die Angst um einen anderen, dachte er.

Tohm drehte sich um. »Du kannst dich uns anschließen«, sagte er.

Auf den Gesichtern seiner Männer stand Zweifel.

»Und ich frage noch einmal«, sagte einer von ihnen. »Was ist, wenn er doch ein Nachtschatten ist?«

Tohm lächelte. »Dann wird er früher oder später seine Haut umstülpen, und wir werden ihn in Ketten legen und nach Westfall bringen.«

»Wenn du meinst.«

»Ja, das meine ich, und damit ist es beschlossen.« Tohm spuckte aus. »Kommt, wir gehen zurück zum Lager. Es wird bald dunkel.«

Er drehte sich um. Die Blicke einiger Männer streiften Jonan. Sie wirkten immer noch misstrauisch, aber nicht feindlich. Er zögerte.

»Was ist mit ihm?«, fragte er und nickte in Richtung des Sterbenden. Sein Röcheln war leise und unregelmäßig geworden. Es würde nicht mehr lange dauern.

»Was soll mit ihm sein?«, fragte Thom zurück, ohne sich umzudrehen.

Jonan antwortete nicht, griff nur nach den Zügeln seines Pferdes und folgte ihm. Die Spuren, die er hinterließ, füllten sich mit Schlamm und verschwanden.

 

 

Der Regen hörte auf, als sie den Wald verließen und das Feld betraten, auf dem die Miliz lagerte. Jonan blieb überrascht stehen. Er hatte mit dreißig oder vierzig Soldaten gerechnet, aber es schienen mehr als doppelt so viele zu sein. Überall standen Zelte, dazwischen grasten Pferde, Esel und Schafe. Zwei Frauen saßen breitbeinig auf einem Holzzaun. Sie hoben die Röcke, als das Vorauskommando das Lager betrat. Johlen und Pfiffe antworteten ihnen.

Jonan sah sich um. Wachen patrouillierten am Waldrand und an der Straße entlang. Die meisten trugen Uniformen, Schwerter und Lanzen. Einige Lagerfeuer brannten. Auf Karren stapelten sich Kisten und Stoffbündel. Die Jagd auf Nachtschatten zahlte sich aus.

»Gibt es hier noch viele Feinde?«, fragte Jonan, während sie näher herangingen.

Tohm schüttelte den Kopf. »Die meisten haben wir erlegt. Deshalb ziehen wir bald weiter.«

»Wohin?«

»Vielleicht nach Süden, vielleicht nach Norden. Westfall braucht uns, jetzt mehr als je zuvor.«

Jonan wusste, worauf er anspielte. Er hatte zwei Bauern über die verlorene Schlacht und den Tod Baldericks reden hören. Er dachte nicht viel darüber nach. Der Krieg betraf weder ihn noch Ana.

»Da seid ihr ja.« Ein alter Mann stand von einem der Lagerfeuer auf und ging auf Tohm zu. Jonan sah nur wenige junge Männer zwischen den Zelten.

»Es wurde entschieden«, fuhr der alte Mann fort. Er warf Jonan nur einen kurzen Blick zu. »Wir gehen nach Norden, nach Jolla. Dort trennen wir uns, und ihr zieht heim.«

»Was?« Tohm wirkte nicht erfreut. »Wie konntet ihr das entscheiden, während wir unterwegs waren? Derg, der Kampf ist noch nicht gewonnen. Wir müssen weitermachen.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. Es sah aus, als hätten sie die gleiche Unterhaltung schon viele Male geführt. »Wir trennen uns. Es ist bereits entschieden. Morgen früh ziehen wir nach Jolla.«

Josyff trat zu ihnen. »Was ist mit der Beute?«

»Sie wird gerecht geteilt. Niemand wird übergangen.« Derg kratzte sich an den weißen Bartstoppeln. »Hat sich ganz schön was angesammelt.«

»Gut.« Die Verärgerung wich ein wenig aus Tohms Gesicht. »Nur schade, dass wir keinen Lebenden gefunden haben. Du weißt ja, was die Fürstin für einen Lebenden bezahlt.«

»Ich kenne die Gerüchte«, sagte Derg. »Aber wir dürfen nicht gierig sein. Wir haben unserer Fürstin gedient. Jetzt sollten wir die Felder bestellen, damit ihre Soldaten nicht hungern müssen.«

»Ja.« Tohm spuckte aus. »Das sollten wir.«

Er blickte über die Lichtung hinweg in die Ferne, so als sähe er irgendwo am Horizont sein altes Leben. Jonan wusste, was in ihm vorging. Tohm hatte die Macht des Schwertes gespürt. Es würde ihm schwerfallen, die Klinge abzulegen und den Pflug in die Hand zu nehmen, von einem, der Befehle gab, zu einem zu werden, der gehorchte. Im Orden hatte es viele wie Tohm gegeben.

Hinter ihm streckte sich Josyff. »Ich freue mich auf Zuhause. Mein eigenes Bett und endlich nicht mehr selber kochen. Dann können wir auch mal den kleinen Wald hinter der Scheune roden, was?«

Tohm antwortete nicht. Derg lachte und schlug ihm auf die Schulter. »Kopf hoch, mein Freund. Ein ruhiges Leben wird uns allen guttun. Frag den Priester, wenn du daran zweifelst.«

»Den Priester?« Tohms Blick kehrte aus der Weite zurück. »Du hast recht. Ich werde mit ihm reden.« Er sah Jonan an. »Komm mit. Der Priester möchte jeden kennenlernen, der zu uns stößt.«

Derg nickte. »Er ist ein weiser Mann. Sprecht mit ihm. Seine Worte werden euch Halt geben.«

Er schien zu bemerken, dass Jonan zögerte, denn er fügte hinzu: »Mach dir keine Sorgen. Er wird dich nicht zum Beten zwingen und dich auch nicht um Geld bitten.«

»Das stimmt.« Josyff. »Ich war schon oft bei ihm. Er hat mich nie bekehren wollen.«

»Welchem Gott folgt er denn?«, fragte Jonan ohne großes Interesse.

»Er …« Josyff zögerte und sah die Männer um sich herum an. Sie hoben die Schultern.

»Keine Ahnung«, sagte der Junge mit den roten Wangen. »Frag ihn doch, wenn du ihn kennenlernst.«

»Genug geredet. Wen interessiert es, welchen Gott er anbetet? Komm.« Tohm fasste Jonan am Arm und zog ihn mit sich. »Wo ist er?«

»Ich hab ihn eben hinten am Lagerfeuer gesehen«, sagte Derg. »So ein alter Mann braucht viel Wärme.«

»Er ist doch nicht alt«, hörte Jonan Josyff sagen, während er sich mit Tohm entfernte.

»Natürlich ist er das«, antwortete Derg hinter ihm. »Älter als ich in jedem Fall.«

»Nein, er ist viel jünger. Er sieht nur alt aus, weil er nicht so viel frisst wie du.«

Ihre Stimmen wurden leiser, vermischten sich mit den Unterhaltungen der Männer, die an Jonan vorbeigingen und dem gelegentlichen Kichern aus einem der Zelte.

»Wie soll er auch?«, sagte Dergs Stimme zwischen all den anderen. »So ganz ohne Zähne.«

Jonan blieb stehen. Tohms Hand glitt von seinem Arm ab.

»Was ist los?«, fragte Tohm.

»Ich muss mich waschen, bevor ich dem Priester gegenübertrete.« Er war kein guter Lügner, deshalb blieb er so nahe wie möglich an der Wahrheit.

»Hinter der Pferdekoppel fließt ein Bach. Da kannst du dich waschen.« Tohm stellte seine Behauptung nicht infrage, ging jedoch auch nicht weiter. Abwartend blieb er stehen. Jonan spürte seine Blicke, als er an den Zelten vorbei zur Weide ging.

Zwei Jungen, beide nicht älter als zwölf, saßen mit dem Rücken zu ihm auf Zaunpfählen. Seile waren darum geschlungen und bildeten eine provisorische Koppel. Einige Dutzend Pferde standen darauf.

Zwischen einigen Ackergäulen, deren Hufe groß wie Kindsköpfe waren, sah Jonan schlanke Reitpferde, die nervös im Schlamm tänzelten. Reiche Händler hatten solche Pferde, keine Bauern. Jedes einzelne war mehr wert als die Herbsternte eines großen Hofs.

Jonan dachte an die Kleidung der Nachtschattenjäger, an ihre Stiefel und an die Kisten, die er in den Zelten gesehen hatte. Er ahnte, woher ihr Reichtum kam.

Tohm sah ihm immer noch nach. Aus den Augenwinkeln bemerkte Jonan, wie sein Blick ihm folgte. Die beiden Jungen auf den Zaunpfählen ignorierten ihn. Sie redeten über ein Mädchen namens Enna, das den Milizen mit einigen anderen Mädchen und Frauen hinterherzog. Anscheinend war sie die Teuerste von allen.

Jonan hörte das Plätschern des Bachs, noch bevor er ihn sah. Es war kaum mehr als ein Rinnsal, so breit wie der Rücken eines Mannes und knöcheltief. Doch das Wasser war klar. Man konnte die bunten Kiesel sehen, über die es floss.

Jonan ging in die Hocke und brachte scheinbar unabsichtlich die Pferde zwischen sich, Thom und die Jungen auf den Zaunpfählen. Die Wunde in seiner Seite zog, als er sich umdrehte, zu Boden glitt und durch das nasse Gras zur Koppel kroch. Mit einem Schnitt seines Messers durchtrennte er das Seil. Ein Pferd schnaubte nervös, als er sich neben ihm aufrichtete. Jonan griff in seine Mähne und zog sich auf den breiten Rücken. Aus dem Stechen in seiner Seite wurde ein Brennen. Er dachte so wenig darüber nach wie über seine Entscheidung zur Flucht. Das eine konnte er nicht ändern, das andere wollte er nicht.

Mit den Fersen lenkte er das Pferd aus der Koppel. Die anderen Tiere wichen zur Seite. Er spürte die Wärme ihrer Körper durch seine nasse Kleidung. Hinter ihm verstummte die Unterhaltung der Jungen.

»Hey!«, hörte er einen von ihnen rufen.

Jonan schlug dem Pferd die Fersen in die Flanken. Mit einem Sprung überwand es den Bach und galoppierte über die Wiese, dem Waldrand entgegen. Die anderen Pferde liefen mit, angespornt von den Rufen der Jungen und der plötzlichen Bewegung. Jonan ritt geduckt, den Kopf an den Hals der Stute gelegt, die Hände in ihrer Mähne vergraben.

Die Herde fächerte auseinander. Hufe warfen Gras und Schlamm hoch in die Luft. Ihr Trommeln übertönte alle anderen Geräusche.

Jonan sah sich nicht um. Er konnte nicht beeinflussen, was die Miliz tat. Nur sein eigenes Handeln zählte. Das hatte man ihn gelehrt, daran hielt er sich.

Die Stute tauchte in den Wald ein. Es gab kaum Unterholz, das hatten die Männer im Lager längst für ihre Feuer verbraucht.

Jonan wandte sich nach Westen, lenkte das Pferd langsam in einem Bogen um das Lager herum. Hin und wieder konnte er Zelte und umherlaufende Männer durch die Bäume erkennen. Dann zog er sich tiefer in den Wald zurück, bis er nur noch von Braun und Grün umgeben war. Weit südlich des Lagers verließ er den Schutz der Bäume schließlich. Es hatte erneut angefangen zu regnen. Der Wind trieb einen dunklen Vorhang aus Wasser und Kälte über das Land.

Jonan drehte sich um. Der Vorhang trennte ihn von der Welt. Es schien nichts zu geben außer ihm, dem Pferd und dem Regen, genau so, wie er es wollte.

Habe ich richtig gehandelt?, fragte er sich. Er war seinen Instinkten gefolgt, ohne darüber nachzudenken. Vielleicht war es gar nicht Daneel, vor dem er geflohen war, sondern ein harmloser alter Priester. Vielleicht hatte er die Sicherheit der Miliz umsonst gegen die riskante Reise allein eingetauscht.

Vielleicht, aber er glaubte nicht daran. Da war etwas in den Gesichtern der Männern gewesen, eine eigenartige Verzückung, die er nach Gesprächen mit Daneel auch in sich selbst verspürt hatte. Er dachte nicht gern daran, also ließ er den Gedanken fallen und lenkte sein Pferd in Richtung des Großen Flusses. Seine Aufgabe lag vor ihm, nicht hinter ihm.