Kapitel 17

 

Wenn die Zwillingsmonde sich über Srzanizar erheben und das Wasser funkelt wie die Sterne, hält selbst der verkommendste seiner Bewohner inne und denkt an die Ewigkeit.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

»Zehn Goldstücke, dann sag ich euch, was wir wissen.« Tohms Pferd tänzelte nervös. Die Fackel, die einer der Soldaten trug, spiegelte sich als orangefarbenes Licht in den Augen des Tiers. Sie waren zu dritt, zwei junge Wachposten und der ältere Offizier, den sie geweckt hatten, als Tohm seine Forderung stellte.

»Zehn Goldstücke für was?«, fragte der Offizier. Seine Stimme klang belegt. Jonan bemerkte, dass er neue Stiefel trug und ein blitzendes, unbenutzt wirkendes Schwert in seinem Gürtel steckte.

Tohm grinste. »Das erfährst du, wenn du zahlst. Es ist wichtig, mehr sag ich nicht.«

»Verdammt wichtig«, fügte Olaff hinzu. Er und die anderen beiden blieben im Hintergrund und überließen Tohm die Verhandlungen, so wie sie es abgesprochen hatten. Jonan saß so auf seinem Pferd, dass er den Kaserneneingang und das Tor im Auge behalten konnte. Er hatte ein ungutes Gefühl.

Der Offizier räusperte sich und spuckte aus. »Holt ihn vom Pferd.«

Es ging so schnell, dass Tohm erst aufschrie, als er am Boden lag, den Stiefel eines Soldaten auf der Brust.

»Dazu habt ihr kein Recht!«, rief er. Mit den Händen stemmte er sich gegen den Stiefel. »Wir sind die Miliz Westfalls. Wir sind Soldaten wie ihr!«

»Einen Scheiß seid ihr.« Der Offizier trat näher heran, blieb stehen und wischte sich seine Stiefel an Tohms Hose ab. »Sag, was du weißt.«

Jonan warf den anderen einen raschen Blick zu. Sie hielten die Zügel fluchtbereit in den Händen und wirkten nicht so, als hätten sie vor einzugreifen.

Gut, dachte er.

Tohm verdrehte den Kopf und sah seine Männer Hilfe suchend an. Sie wandten den Blick ab. Tohm presste die Lippen zusammen.

»Acht Goldstücke«, sagte er trotzig.

Der Offizier hob die Schultern. »Wenn du nicht anders willst …« Er holte mit dem Fuß aus.

Jonan seufzte. »Die Nachtschatten sind auf dem Weg hierher.«

»Was?« Der Offizier fing seinen Tritt im letzten Moment ab, stolperte und hielt sich an der Schulter eines Soldaten fest. »Was sagst du da?«

Der zweite Soldat nahm seinen Fuß von Tohms Brust. Der stützte sich auf die Ellenbogen. »Hör auf! Sie wollten doch bezahlen.«

»Sie stehen kurz vor der Stadt.« Jonan nickte in Richtung des offenen Tors. »Das solltet ihr vielleicht schließen.«

»Scheiße.« Der Offizier fuhr sich mit der Hand über das kurz geschorene Haar. Die Nacht war so hell, dass Jonan die Angst in seinen Augen sah.

»Sollen wir das Tor schließen?«, fragte der Soldat, an dem er sich immer noch festhielt.

»Ja.« Der Offizier biss sich auf die Lippen. »Und wir müssen die anderen wecken, die Männer vom Hafen abziehen und die Patrouillen zurückholen. Die Türme und …« Er brach ab, setzte dann wieder an. »Doruk, du läufst zum Hafen. Wir haben genügend Waffen. Sorg dafür, dass jeder, der ein Schwert halten kann, auch eines bekommt.« Er gab ihm einen Schlag auf die Schulter. »Worauf wartest du? Lauf schon!«

»Ja, Herr.« Der Soldat drehte sich um.

»Was meinst du«, wandte sich der Offizier an Jonan, »wie lange sie noch brauchen werden?«

»Schwer zu sagen, vielleicht einen Tag oder …«

Ein Geräusch unterbrach ihn. Es klang, als habe jemand einen Sack aus dem Fenster geworfen, aber Jonan hatte das Geräusch schon so oft gehört, dass er genau wusste, was es bedeutete.

»Deckung!«, rief er. Dann rutschte er auch schon vom Pferderücken, nahm die Zügel fest in die Hand und brachte das Tier zwischen sich und das Gewirr aus dunklen Gassen und Hütten, auf das der Soldat zugelaufen war.

Weit war er nicht gekommen. Er lag am Boden, neben einem Fass. Ein Wurfbeil steckte in seinem Hinterkopf. Sein linkes Bein zuckte.

»Alarm!«, schrie der Offizier. Er zog sein Schwert und duckte sich. »Nachtschatten!«

Die Miliz rutschte von ihren Pferden. Tohm stolperte zu einer Kiste und warf sich dahinter. Der zweite Soldat lief auf die Kaserne zu. Ein Armbrustbolzen durchschlug sein Genick.

»Wir werden aus der Stadt angegriffen!«, rief Jonan. Er ließ die Zügel los und ging hinter zwei Fässern in Deckung. »Das sind keine Nachtschatten!«

In der Kaserne wurden Türen geschlagen. Verschlafene Männer stolperten mit Helmen und Schwertern in den Händen nach draußen. Ihre Waffen waren so neu, dass sie im Mondlicht blitzten.

Perfekte Ziele, dachte Jonan »Deckung!«, schrie der Offizier, aber es war zu spät. Pfeile und Armbrustbolzen schossen über ihn hinweg. Männer gingen schreiend zu Boden, manche krochen mit drei oder vier Pfeilen im Körper zurück in die Kaserne.

Schatten huschten über die Dächer. Sie bewegten sich wie Menschen, nicht wie Nachtschatten. Jonans Blick fand den Offizier. Der Mann lehnte am Pfosten eines Wachturms. Ein Pfeil steckte in seiner Wade. Mit schmerzverzerrtem Gesicht brüllte er Befehle über die Schreie der anderen Verletzten und der Sterbenden hinweg: »Geht in Deckung! Sammelt euch in der Kaserne! Die Fackeln aus!«

Schlagartig wurde es hinter den Fenstern dunkel. Jonan zuckte zusammen, als ein Brandpfeil über ihn hinwegflog. Er zog eine Spur aus Feuer hinter sich her wie eine Sternschnuppe, dann bohrte er sich in den Boden.

Eine Pfeilsalve folgte, trieb die wenigen Soldaten, die sich aus der Kaserne gewagt hatten, zurück ins Gebäude.

Sie rücken vor, dachte Jonan. Er dachte nicht darüber nach, wer die Soldaten angriff. Das spielte keine Rolle. Es war nicht sein Kampf. Er drehte sich zu Tohm und den anderen um. Sie waren nicht zu sehen, hatten sich wohl hinter Kisten und Fässer geflüchtet.

Der Platz vor der Kaserne war offen und bot nur wenig Deckung, der Weg zu den Hütten war weit. Jonans Pferd war davongesprungen, allerdings nicht in Panik geraten. Es stand gut zwanzig Schritte von ihm entfernt an der Stadtmauer und fraß Unkraut, das zwischen den Steinen wuchs.

Ein Brandpfeil blieb im Dach der Kaserne stecken. Jonan konnte nicht erkennen, ob es Feuer fing.

»Bleibt im Gebäude!«, schrie der Offizier. Ein Pfeil bohrte sich direkt neben seinem Gesicht in den Pfosten des Wachturms. Er wich zurück.

Aus der Kaserne flogen Pfeile in Richtung der Hütten, aber Jonan glaubte nicht, dass die Soldaten jemanden sahen. Sie schossen aus Angst, das war alles.

Er sah auf, als eine Wolke einen der Monde verdeckte. Schlagartig wurde aus der Silhouette der Stadt ein verschwommener, schwarzer Schatten.

Jonan stieß sich ab. Im gleichen Moment gellten helle Kampfschreie über den Platz. Gestalten stürmten ihm aus den Gassen entgegen, Pfeile rasten auf die Kaserne zu. Jonan hörte Schreie und dumpfe Einschläge. Sein Pferd hob den Kopf und wieherte.

»Angriff! Raus, raus, raus!« Die Stimme des Offiziers überschlug sich. Er hob sein Schwert. Jonan sah drei Angreifer auf ihn zulaufen. Einen Augenblick zögerte er, dann riss er seine Schwerter aus den Scheiden, schleuderte sie hinter den Gestalten her. Die eine Klinge bohrte sich in den Rücken des rechten, die andere in den Kopf des linken Angreifers. Der dritte fuhr herum. Jonan sah, dass es sich um eine Frau handelte.

Er lief ihr entgegen, tauchte unter ihrem Schlag weg und zog seine Schwerter aus den Leichen. Mühelos parierte er den Schwertstreich seiner Gegnerin. Dann schlug er mit überkreuzten Schwertern zu, wobei der Hals der Frau zwischen die Klingen geriet wie zwischen die Schenkel einer Schere; gleichzeitig riss er die beiden Waffen auseinander und trennten ihr so blitzschnell den Kopf von den Schultern.

Hinter ihm stürmten Soldaten aus der Kaserne. Es roch nach Rauch. Der Offizier senkte sein Schwert. Er wirkte verstört, hatte vielleicht schon den Tod vor Augen gesehen.

Jonan schob ihn zurück in die Deckung des Wachturms. »Wer sind die?«

»Sie nennen sich Todesmasken.« Der Offizier atmete schwer. Jonan bemerkte den dunklen Blutfleck auf seiner Brust. »Diese Bande beherrscht die halbe Stadt. Wir dachten, wir wären stark genug, um sie endgültig zu vertreiben …« Er hustete und stützte sich schwer auf sein Schwert. Blut und Speichel sammelten sich in seinen Mundwinkeln. »Du musst den Wachen am Hafen Bescheid sagen. Wir dachten, sie würden zu fliehen versuchen, deshalb haben wir dort unten alles abgeriegelt, aber das …« Er schüttelte den Kopf. »Wer hätte damit gerechnet?«

Ein Flehen lag in seinem Blick, so als wolle er von Jonan hören, dass niemand das, was geschehen war, hätte ahnen können, dass er keinen Fehler gemacht hätte, dass man ihm nicht die Schuld geben würde.

»Ich sage ihnen Bescheid«, antwortete Jonan, bevor er darüber nachdenken konnte. »Warte hier.«

Der Offizier nickte. Blut rann aus seinem Mund. Jonan wusste, dass er das Ende des Kampfes nicht mehr erleben würde.

Er drehte sich um. Im Schatten des Wachturms bemerkte ihn niemand. Die Angreiferinnen – er sah nur Frauen, keinen einzigen Mann – drängten die Soldaten in die Kaserne zurück. Sie würden siegreich sein, daran zweifelte er nicht. Er wusste nicht, ob das gut oder schlecht war oder für wen es gut oder schlecht sein würde.

Ich bin nicht hier wegen den Banditen oder den Soldaten, dachte er, als er sich aus dem Schatten des Wachturms löste, ich bin hier wegen Ana. Und bei dieser Suche kann mir die Stadtwache eher behilflich sein als ihre Gegner.

Jonan hielt sich dicht an der Mauer. Sein Pferd graste immer noch. Er schwang sich auf seinen Rücken.

»Warte!«, rief eine Stimme hinter ihm. Es war Tohm, aber Jonan drehte sich nicht um. An den Hals des Pferdes gepresst, galoppierte er los. Er hörte Schreie und Rufe, einige von Männern, andere von Frauen. Er wusste nicht, ob sie ihm galten. Links von ihm bewegte sich etwas auf dem Dach. Er sah einen Speer und wich nach rechts aus.

Ein Pfeil zupfte an seinem Hemdsärmel. Dann war er auch schon auf der anderen Seite des Platzes. Mehrere Gassen und eine Straße gingen von ihm ab. Jonan glaubte die Bogenschützen, die sich darin verbargen, zu spüren. Es standen Marktkarren herum und Kisten, aber es war kein Mensch zu sehen.

Sein Blick fiel auf einen Spalt zwischen zwei Hütten, dunkel und so schmal, dass ein Pferd vielleicht knapp hindurchpasste. Er zog an den Zügeln, bog von der Gasse ab, die sich vor ihm erstreckte, und galoppierte auf den Durchgang zu. Mit jedem Blinzeln schien er enger zu werden. Sein Pferd scheute, aber Jonan trieb es weiter an. Weniger als einen Steinwurf trennten ihn noch von dem Spalt.

Zu eng. Von einem Moment zum anderen wusste er, dass er es nicht schaffen würde. Doch es war zu spät. Mit angstgeweiteten Augen galoppierte sein Pferd dem Spalt entgegen – und hinein.