Kapitel 22
Die Reise auf dem großen Fluss birgt viele Gefahren: Piraten, Untiefen, Stürme und Stromschnellen. Die häufigste ist jedoch die Langeweile, hervorgerufen durch die Untätigkeit und die endlose blaue Fläche des Wassers. Nicht selten schlägt sie in eine Leidenschaft um, von der man sich, steht man mit beiden Füßen wieder auf festem Boden, kopfschüttelnd abwendet.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
»Reib deine Stirn mit Algen ein, bevor du dich schlafen legst. Das hilft gegen die Träume«, sagte Nungo'was.
Sie zog einen Eimer mit Wasser an Deck und wusch sich Gesicht und Hände. Es war ihr dritter Morgen auf dem Fluss und der dritte, an dem sie aus Alpträumen hochgeschreckt war.
Nungo'was blieb neben ihr stehen.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte er, als Ana sich das Gesicht mit dem Hemdsärmel abtrocknete. »Ich könnte dir ein paar Algen machen.«
Auf dem Schiff schienen Algen eine Art Maka zu sein, eine Pflanze, die zu allem gut war. Die Matrosen frittierten sie, aßen sie als Salat, kühlten Wunden damit, tranken sie als Schnaps und knüpften Schlafmatten aus den getrockneten Stängeln.
»Danke, ich bin nicht hungrig«, sagte Ana.
Nungo'was zog seine Hose hoch. Er hatte sie mit einem Strick zusammengebunden, und sein behaarter Bauch hing darüber wie ein prall gefüllter Wassersack. »Vielleicht später?«
»Ja, vielleicht.« Ana wandte sich ab und ging zum Bug, wo sie unter einem der Rettungsboote ihr Lager aufgeschlagen hatte. Erys lehnte an der Reling und sah ihr entgegen, der Ewige Gardist stand neben ihr. Wie die anderen Frauen auch trug sie das Gesichtstuch nicht mehr, das in Srzanizar das Erkennungszeichen der Todesmasken gewesen war. Die Stadt existierte nicht mehr. Alle Geheimnisse, die es dort einmal gegeben hatten, waren auf dem Schiff ohne Bedeutung.
»Der Junge ist sehr freundlich«, sagte sie zu Ana. Der Wind spielte mit ihrem Haar, wirbelte es über ihr Gesicht. Sie zog einen Stoffstreifen aus der Tasche und band es zusammen.
Ana stützte die Ellenbogen auf die Reling. »Im Moment sind alle freundlich. Sie wissen, dass sie nur euretwegen am Leben sind.«
»Unsertwegen«, korrigierte Erys. »Aber er ist freundlicher zu dir als zu allen anderen. Sei vorsichtig. Ein fürstlicher Bastard käme uns sehr ungelegen.«
Ana drehte den Kopf, damit Erys nicht sah, wie sie errötete. »So freundlich ist er auch wieder nicht, und ich bin nicht so dumm.«
Eine Weile herrschte Stille neben ihr, dann sagte Erys: »Du hast recht. Es tut mir leid. Du bist die Fürstin. Ich sollte dein Urteilsvermögen nicht anzweifeln.«
Sie machte eine Pause, dann spürte Ana ihre Hand auf ihrem Arm. »Aber vielleicht kannst du mir eine Sorge nehmen, Fürstin, indem du nicht mehr so oft mit dem Jungen redest.«
Es war keine unverschämte Bitte, entschied Ana, und sie nickte. »Ich werde darüber nachdenken.«
Die Frauen hatten den Bug des Fährschiffs zu ihrem Gebiet erklärt. Dort standen die drei vergitterten Ochsenkarren mit den Gefangenen, der eine mit Gittern aus Bambus, die beiden anderen, in denen die Stadtsoldaten hockten, mit Eisenstäben. Die Ochsen und Pferde waren daneben festgebunden. Die anderen Flüchtlinge hielten Abstand zu ihnen und drängten sich im Heck und unter Deck zusammen.
Ana schätzte, dass weit über hundert Menschen an Bord waren. Die meisten am Deck starrten vor sich hin und schienen noch nicht so ganz begriffen zu haben, was geschehen war. Andere standen an der Reling und versuchten mit kleinen Netzen und Angelschnüren Nahrung an Bord zu ziehen. Es gab nur zwei Feuerstellen, die Tag und Nacht von Matrosen bewacht wurden. Wer etwas gekocht haben wollte, musste dafür bezahlen. Nur Erys und ihre Banditinnen bekamen alles umsonst.
Es war ihr unangenehm, dass die Menschen, mit denen sie sich eine Zelle geteilt hatte, in Käfigen sitzen mussten. Nur Nungo'was hatte Erys herausgelassen. Er war Matrose und wurde an Bord gebraucht. Doch am Ende der Reise erwartete auch ihn die Sklaverei, ebenso wie die anderen und die gefangenen Soldaten der Stadtwache.
Ana wollte nicht daran denken. Merie sah sie noch nicht einmal an.
Sie war müde. Die Träume lagen wie ein Schatten über ihrem Geist. Sie wünschte, sich an sie zu erinnern, aber wenn sie morgens erwachte, war da nur eine verwehende Panik und ein dumpfer Druck.
Sie schloss die Augen und dachte an den brennenden Pfeil am Nachthimmel. Der Gedanke nahm den Druck von ihr. Sie sah in den Himmel hinauf. Er war wolkenlos. Die Sonne hing über dem Wasser. Das Fährschiff fuhr nach Südosten, schätzte sie, aber lag Westfall nicht nördlich von Srzanizar?
Sie zögerte. Es kam ihr wie ein Vertrauensbruch vor, Erys danach zu fragen, aber sie wusste, dass der Gedanke sie nicht loslassen würde, bevor sie ihn ausgesprochen hatte.
»Wohin fahren wir?«
Der Moment der Stille war Antwort genug. Trotzdem fuhr Ana fort. »Wir fahren nach Charbont, richtig?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil es besser so ist.« Erys ergriff Anas Hand.
Ana zog sie zurück. »Wer sagt das?«
»Ich.« Erys seufzte. »Es tut mir leid, ich hätte es mit dir besprechen sollen, aber es ist so viel passiert, ich war mit meinen Gedanken woanders.«
Ihr Blick glitt über Anas Gesicht, und sie wirkte nervös. »Es geht um die Sklaven. Sie sind unser Kapital. Aber der einzige Händler, den ich kenne und der eine so große Lieferung abnehmen würde, lebt in Charbont. Deshalb fahren wir dorthin. Es ist wirklich kein großer Umweg.«
»Nein, das ist es nicht«, sagte Ana. Mühsam verdrängte sie das Misstrauen aus ihrer Stimme. »Wie heißt dieser Sklavenhändler?«
»Slergg Ogivers«, antwortete Erys. ohne zu zögern. »Kennst du ihn?«
Ana nickte. Sie kannte ihn tatsächlich. Ihr Vater hatte oft von ihm gesprochen. Der Name war so ungewöhnlich, dass sie sich ihn gemerkt hatte.
Erys streckte erneut die Hand aus. Dieses Mal ließ Ana die Berührung zu. »Ana, ich wollte dich nicht belügen, es war wirklich ein Versehen. Glaubst du mir das?«
»Ja«, sagte Ana. Nein, dachte sie.
»Gut. Dann hoffe ich, dass du mir verzeihen kannst.« Erys lächelte, aber als Ana nicht antwortete, drehte sie sich um und ging. Der Gardist blieb einen Moment stehen, dann folgte er ihr. Obwohl er seit mehreren Tagen in der Sonne stand, war seine Haut noch nicht einmal gerötet.
Ana sah Erys nach und fragte sich, was sie vor ihr verbarg.
Den ganzen restlichen Tag über hielt Ana sich von Erys fern. Schließlich, als die Sonne über dem Fluss untergegangen war und der Nachthimmel alle Gesichter in graue Schemen verwandelte, kehrte sie zum Lager der Todesmasken zurück.
»Ich hab Algen und Fisch für dich aufgehoben«, sagte Nungo'was, als sie an einer der Feuerstellen vorbeiging.
Ana hatte vergessen, dass sie seit dem letzten Abend nichts mehr gegessen hatte. Ihr Magen knurrte.
»Danke«, sagte sie und nahm ihm den Holznapf aus der Hand.
»Du kannst hier bei mir essen.« Nungo'was rückte zur Seite und gab ein Stück seiner Schlafmatte frei. »Ist schön weich.«
Sie schüttelte den Kopf und wollte weitergehen, aber er hielt sie auf.
»Kannst du etwas für uns tun?«, fragte er leise.
»Was meinst du?« Es war eine feige Antwort, denn Ana wusste genau, wovon er sprach.
Nungo'was nickte in Richtung der Käfige. »Wir sollen in den Süden, dabei haben wir niemandem etwas getan. Nicht so wie die Soldaten. Wir sind nur einfache Leute. Kannst du uns nicht helfen?«
Ana hatte gewusst, dass jemand diese Frage stellen würde. nur vorbereitet hatte sie sich nicht darauf, »ich weiß nicht«, sagte sie. »Wir brauchen das Geld aus euren Verkäufen.« Der Satz raubte ihr den Appetit. Sie stellte den Napf zurück.
»Aber es geht doch nur um zwei alte Leute, ein Kind und …« Er hob beinahe entschuldigend die Schultern. »… einen Matrosen, den keiner haben will. Reichen euch die Soldaten nicht?«
Ana zögerte. Nungo'was schien zu spüren, dass er etwas in ihr berührte. »Warum redest du nicht mit Erys darüber? Sie wird auf dich hören. Du bist schließlich ihre Herrin.«
Bin ich das?, fragte sich Ana. Doch dann nickte sie. »Ich rede mit ihr.«
Sie spürte Nungo'was' Blicke in ihrem Rücken, als sie an den Frauen vorbei zu Erys ging, die etwas abseits auf einer Matte saß. Seit sie Purro und die anderen zurückgelassen hatte, war sie oft allein.
»Ich muss mit dir sprechen«, sagte Ana und setzte sich neben sie.
»Worüber?« Die Frage klang weder neugierig noch unfreundlich.
»Die Sklaven. Ogivers wird nichts mit ihnen anfangen können. Ich möchte, dass sie freigelassen werden.«
»Aha.« Erys drehte ein Stück frittierte Algen zwischen ihren Fingern. »Und dann?«
Ana wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie hob die Schultern. »Sie kehren nach Hause zurück und leben ihr Leben?«
Auf dem Oberdeck begann jemand, auf einer Flöte zu spielen. Erys legte die Algen zurück und leckte sich die Finger sauber. »Sie wissen, wer du bist. Wenn sie nach Hause zurückkehren, kommen sie vielleicht auf die Idee, ihr Wissen zu verkaufen. Du bist mehr wert, als sie in einem Leben verdienen könnten. Ogivers wird sie in den Süden verkaufen, und kein Sklave kehrt aus dem Süden zurück, das weißt du so gut wie ich.«
Ana presste die Lippen zusammen und schwieg. Es machte sie wütend, dass Erys recht hatte.
»Weißt du noch«, fuhr Erys fort, »als ich sagte, es müssten viele sterben, bevor du und ich bekommen, was wir wollen?« Ihre Stimme wurde sanft. »Jetzt kennst du ihre Gesichter.«
Ana zog die Knie an und legte das Kinn darauf. »Sie haben mir nichts getan.«
»Aber das werden sie, wenn du sie gehen lässt. Willst du sterben, damit sie leben können?« Es gab nur eine Antwort darauf, aber Erys zwang sie nicht, sie auszusprechen. »Es gibt ein Sprichwort: Ein hoher Baum wirft einen großen Schatten.«
»Ich kenne es«, sagte Ana. Sie sah Erys nicht an.
»Dann weißt du auch, dass in seinem Schatten viele kleine Pflanzen eingehen. Das ist ihr Schicksal.« Erys stand auf. »Ein großer Mann hat das mal zu mir gesagt.« Sie nahm den halb vollen Napf und kippte ihn über der Reling aus.
Ana hob den Kopf. »Ich will eine Dienerin«, sagte sie. Trotz sprach aus ihren Worten. »Eine Fürstin braucht eine Dienerin.«
Erys drehte sich um. Der Themawechsel schien sie zu irritieren. »Natürlich. Du wirst eine bekommen.«
»Ich will Merie. Sie wird die ganze Zeit bei mir sein und niemandem etwas verraten können. Sie muss nicht in den Süden.«
Trotz der Dunkelheit glaubte sie Erys' Ärger zu sehen. Er tat ihr gut.
»Bist du bereit, dein und mein Leben darauf zu verwetten?«
»Ja«, sagte Ana, bevor sie darüber nachdenken konnte. Auf dem Oberdeck beendete der Flötenspieler seine Melodie. Es wurde ruhig auf dem Schiff.
Erys wandte sich ab. »Dann wirst du sie bekommen, Fürstin.«
»Gut.« Ana stand auf. »Veranlasse, dass man sie aus dem Käfig holt.«
Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Lager. Erst als sie Nungo'was' fragenden Blick sah, verging ihre Freude über den Sieg. Langsam schüttelte sie den Kopf, Nungo'was neigte seinen und schwieg.