Kapitel 35

 

Fragt man in Somerstorm, welche Jahreszeit die schlimmste ist, so erhält man häufig zur Antwort, es sei der Sommer, weil dessen Milde einen für kurze Zeit an die Gnade der Götter glauben ließe.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1

 

Der Winter kam.

Gerit stand an der Küchentür und sah hinaus auf den Innenhof. Schnee und die Asche der Feuerstellen bildeten einen schmutzig grauen Teppich auf den Steinen. Seit Tagen schneite es. Die Pässe waren bereits unpassierbar, das hatte er von den Hirten im Dorf gehört. Bis zum Frühjahr würden weder Menschen, Nachtschatten noch Nachrichten Somerstorm erreichen. Der Krieg war so weit entfernt wie seine Lüge.

Gut, dachte er.

»Wo sie wohl sind?«, fragte Mamee. Sie trat hinter Gerit und legte ihm das Kinn auf die Schulter. Ihre Lippen berührten seinen Hals.

»Wer?«, fragte er.

»Korvellan, Schwarzklaue und die anderen. Wir haben schon lange nichts mehr von ihnen gehört.«

»Wir werden es erfahren, wenn der Schnee schmilzt«, sagte Gerit und wünschte sich, es würde nie geschehen.

»Aber bist du nicht neugierig?«

Nein, dachte er und nickte. »Natürlich, aber dadurch werden wir es nicht früher erfahren.«

Auf einem der Wachtürme winkte ein Nachtschatten. Ein anderer sprang von der Mauer und ging zum Tor. Jemand kam.

Gerit spürte einen Stich, so wie jedes Mal, wenn das Tor geöffnet wurde, und atmete auf, als drei Ochsenkarren voller Gold in den Hof rollten. Nachtschatten begleiteten den Transport, aber auf den Kutschböcken saßen Menschen. Sie überwachten die Zählung des Goldes und nahmen ihren Anteil mit zurück in die Mine, so wie Korvellan es ihnen zugesichert hatte. Seit die Nachtschatten die Mine übernommen hatten, war kein Arbeiter geflohen. Sie lieferten mehr Gold als je zuvor.

»Was glaubst du, wer siegen wird?«, fragte Mamee.

»Ich weiß es nicht.«

»Und auf wen hoffst du?«

Gerit hatte sich diese Frage schon oft gestellt. Manchmal beantwortete er sie ohne Zögern mit Menschen, andere Male mit Nachtschatten.

Mamee missverstand sein Schweigen. Sie strich ihm über die Wange. »Tut mir leid. Ich sollte dich so etwas nicht fragen.«

Er griff nach ihrer Hand und küsste sie. »Ist nicht schlimm. Wir reden später darüber. Ich muss mich um die Goldlieferung kümmern.«

Er zog den schweren Mantel aus Ziegenfell an, der neben der Tür an einem Haken hing. Mamee trat vor ihn, als er die Tür öffnen wollte, und sah ihn an. »Manchmal weiß ich nicht, wer du bist.«

Er hatte keine Ahnung, welche Antwort sie von ihm erwartete, also lächelte er nur und zog die Tür auf. Kälte schlug ihm entgegen. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Die Arbeiter verbeugten sich, als sie ihn sahen, die Nachtschatten nickten ihm nur zu.

»Hattet ihr eine gute Fahrt, Maccus?« Der kräftige, dunkelhaarige Mann, den Gerit angesprochen hatte, sprang vom Kutschbock, nickte und schüttelte Schnee von der Wolldecke, die um seine Schultern hing. »Ja, Minherr. Der Schnee hat uns nicht aufgehalten.«

Gerit sah die Nachtschatten an.

Die beiden anderen Arbeiter begannen die Strohballen abzuladen, unter denen das Gold versteckt war. Sie hießen Burek und Zjrat. Gerit hatte sich ihre Namen eingeprägt und achtete darauf, sie stets damit anzusprechen. Wie wichtig das war, hatte er während seiner Zeit in der Küche erkannt.

Zu zweit trugen die Arbeiter die Kisten voller Goldklumpen in die Küche und stellten sie neben der Tür ab. Gerit folgte ihnen. Er nahm eine in Samt eingeschlagene Waage aus dem Regal und stellte sie auf den Tisch. Sie hatte seinem Vater gehört. Er hatte die Ausbeute der Mine stets allein in seinem Gemach gewogen und die Zahlen auf Pergamentrollen eingetragen, die er eingeschlossen in einem Schreibtisch aufbewahrte. Außer ihm hatte niemand gewusst, wie viel Gold dort tatsächlich gefördert wurde. Seit Korvellan wusste es jeder Arbeiter. Bis ins Dorf hatte sich der Reichtum herumgesprochen. Fast jeden Tag tauchte jemand an der Mine auf und bat um Arbeit.

Mamee stellte Brot, Schmalz und Krüge mit heißem Gewürzwein auf den Tisch. Die Nachtschatten setzten sich nicht zu den Arbeitern, sondern blieben drinnen vor der Tür stehen, nachdem sie sie geschlossen hatten. Nebelläufer hatte ihnen geraten, Gerit nie mit dem Gold allein zu lassen. Mamee hatte es ihm verraten. Es störte ihn nicht. Er hatte nicht vor, jemanden zu betrügen.

Gerit wartete, bis die Arbeiter gegessen und getrunken hatten, dann begann er das Gold zu wiegen. Es waren unscheinbare Klumpen, kaum von Steinen zu unterscheiden. Manche waren groß wie ein Hühnerei, andere wie ein Kindskopf. Das Gold war so schwer, dass in jeder der zwei Dutzend Kisten nur der Boden bedeckt war.

Gerit sah die Arbeiter über die Waagschalen hinweg an. Sie waren merkwürdig still an diesem Nachmittag. Normalerweise erzählte ihm Maccus von seinen acht Töchtern und der Frau, die sich weigerte, ihm einen Sohn zu gebären.

»Ist in der Mine alles in Ordnung?«, fragte Gerit. Ihm fiel der kurze Blick auf, den sich Burek und Zjrat zuwarfen.

»Ja, Minherr«, sagte Maccus. Die anderen beiden nickten. Ihre Lüge hing zwischen ihnen und Gerit in der Luft. Er tat so, als würde er sie nicht bemerken. In der Backstube hörte er Mamee arbeiten. Wenn Menschen kamen, hielt sie sich von ihm fern. Sie hatten nie darüber gesprochen. Sie tat es einfach.

»Das sieht nach einer guten Ausbeute aus«, sagte Gerit in die Stille hinein.

»Wir haben einen neuen G…« Burek brach ab.

»Einen neuen Stollen angefangen«, sagte Maccus. »Da fällt einem das Gold fast schon in den Schoß.«

Burek neigte den Kopf und betrachtete den Boden. Seine Wangen röteten sich. Gerit glaubte nicht, dass der Wein dafür verantwortlich war.

»So ist es, Minherr«, fügte Zjrat hinzu.

Bis zum Abend wogen und zählten sie das Gold. Die ganze Zeit über blieben die Nachtschatten an der Tür stehen. Gerit bemerkte, dass Maccus ab und zu einen Blick auf sie warf, so als störten sie ihn. Das hatte er bei keinem anderen Besuch getan. Wie fast alle in Somerstorm hatte er die Nachtschatten längst als die neuen Herren der Festung akzeptiert.

»Ihr könnt gern bis zum Morgen bleiben, wenn ihr möchtet«, sagte Gerit, während die Arbeiter ihr Gold in eine der Kisten legten und mit Stroh bedeckten.

Maccus schüttelte den Kopf. »Danke, Minherr, aber wir wollen zurück zur Mine. Die Ochsen finden den Weg auch bei Nacht.«

»Wie ihr meint.«

Auch das war seltsam. Gerade Maccus zögerte die Abfahrt sonst weit hinaus, damit er und die anderen in den weichen Betten des Haupthauses schlafen konnten, die Gerit ihnen für gewöhnlich überließ.

»Dann sollen Krieger euch begleiten.«

»Nein.« Maccus antwortete schnell, als hätte er die Frage bereits erwartet. »Sie sollen den Weg bei Nacht nicht zweimal gehen müssen. Uns wird nichts geschehen, Minherr.«

Er stand auf und ging zur Tür. Burek und Zjrat folgten ihm.

Gerit ging mit ihnen zu den Ochsenkarren und half ihnen, die Tiere wieder einzuspannen. Einer der Nachtschatten blieb in der Küche, der andere trat heraus, streckte sich und rülpste.

»Braucht ihr Hilfe?«, rief er dann.

Gerit nickte. »Gern.«

Er bückte sich, um einen Lederriemen unter dem Bauch eines Ochsen festzuschnallen.

Plötzlich war Maccus neben ihm. »Kommt zur Mine, Minherr«, flüsterte er. »Am besten morgen. Es ist wichtig.«

Der Nachtschatten trat heran. Maccus stand auf und ging zum zweiten Karren. Er sprach Gerit nicht noch einmal an.

 

 

Gerit schlief nur wenig in dieser Nacht. Der Steinfußboden erschien ihm zu hart, die Decke zu warm, die Geräusche der schlafenden Nachtschatten zu laut. Immer wieder setzte er sich auf und sah aus dem Fenster, aber es blieb dunkel. Die Nacht schien nicht enden zu wollen.

Irgendwann war er wohl doch eingeschlafen, denn als er die Augen öffnete, waren die meisten anderen bereits aufgestanden. Der Geruch von frischem Brot drang aus der Backstube in die Küche. Gerit schlug die Decke beiseite und warf einen Blick in den Innenhof. Es hatte aufgehört zu schneien. Die Wolken, die über den Türmen hingen, waren weiß. Sonnenstrahlen blitzten zwischen ihnen auf.

Er ging in die Backstube und ließ sich ein frisches dunkles Brot in Stoff einschlagen. Aus dem Vorratsraum holte er einige Zwiebeln und steckte sie in die Taschen seines Mantels.

»Wenn jemand fragt«, sagte er zu Silberstreif und Zarah, den beiden Nachtschatten, die an diesem Morgen das Brot backten, »ich bin zur Mine geritten, um mir den neuen Stollen anzusehen, den sie gegraben haben. Bis morgen Abend sollte ich zurück sein.«

Die beiden nickten. Sie waren nicht verwandt, verbrachten jedoch so viel Zeit miteinander, dass sie manchmal wie Zwillinge wirkten. Gerit mochte sie, Mamee nicht.

Er verließ die Küche und holte seinen Hengst aus dem Stall. Er legte ihm das Zaumzeug an und eine Decke auf den Rücken. Weder das Pferd noch er brauchten einen Sattel. Nach der langen Reise kannten sie sich gut genug.

»Wo willst du hin?« Nebelläufer lehnte am Stalltor, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Zur Mine«, sagte Gerit. Es hätte keinen Sinn gemacht zu lügen. Die Nachtschatten, die die Mine bewachten, würden ihn ohnehin bemerken. »Ich will mir den neuen Stollen ansehen.«

»Ihr Menschen seid seltsam. Grabt in der Erde herum, als ob ihr nicht schon früh genug darin liegen würdet.« Nebelläufer schüttelte den Kopf. Er redete lauter als nötig. »Das ist keine Arbeit für einen Krieger.«

Es war eine Beleidigung. Gerit hörte sie, ebenso wie die Nachtschatten, die über den Innenhof gingen, und die Wachen auf der Mauer über ihm.

Er zog sich auf den Rücken des Hengstes und griff nach den Zügeln. »Nein«, sagte er. »Das ist keine Arbeit für Krieger, sondern für die, die den Kriegern Rüstungen anlegen und Schwerter in die Hand geben, die ihnen Katapulte und Schiffe bauen. Ohne unser Gold sind deine Krieger nur etwas, in das man Pfeile schießt.«

Er rammte dem Hengst die Fersen in die Flanken. Nebelläufer stolperte zur Seite, als das Pferd an ihm vorbeigaloppierte. Er musste sich an der Stalltür festhalten, sonst wäre er gestürzt.

Gerit ignorierte ihn und verließ die Festung durch das offen stehende Tor. Nebelläufer würde nie sein Freund werden, aber solange er auf jede Beleidigung des Nachtschattens eine Antwort wusste, respektierte er ihn zumindest. Mehr war nicht nötig.

Der Weg zur Mine führte Gerit vom Hügel, auf dem die Festung stand, ins Tal und weiter nach Norden. Ihm begegneten nur wenige Menschen, ein paar Jungen, die Feuerholz suchten, und eine alte Frau, die ihm zwei Säcke voll mit Maka-Wurzeln anbot. Er lehnte ab und schenkte ihr die Hälfte seiner Zwiebeln. Sie bedankte sich nicht.

Seit die Nachtschatten Somerstorm erobert hatten, war Gerit nicht mehr zur Mine geritten. Sein Vater hatte ihn früher einige Male mitgenommen. Er hatte Angst in den Stollen gehabt, nicht vor der Dunkelheit und dem Fels, sondern vor dem Hass in den Augen der Sklaven.

»Die Furcht vor Strafe verwandelt Hass in Demut«, hatte sein Vater, der Fürst, gesagt, als er Gerit an der Reihe von Galgen vorbeigeführt hatte, die den Eingang der Mine zu beiden Seiten säumten. Dahinter hingen ausgemergelte Gestalten in Prangern. Sie stöhnten und wimmerten. Ein paar baten den Fürst um Gnade, aber er ging an ihnen vorbei, als wären ihre Körper Grashalme am Wegesrand und ihre Stimmen nicht mehr als das Säuseln des Windes.

»Nur über Demut kann man herrschen.« Die Stimme seines Vaters hallte durch seine Gedanken. »Vergiss das nicht.«

Gerit strich mit den Fingern über die Narben auf seiner Wange. Selbst durch die Handschuhe spürte er sie. Du hattest unrecht, dachte er. Hass ist stärker als Furcht.

Die Mine lag am Rande der weißen Zunge, des gewaltigen Gletschers, der das ewige Eis des Nordens nach Somerstorm trug. Berge ragten zu beiden Seiten der Zunge empor, schroff und spitz wie die Zähne eines Riesen. An diesen Bergen endete die Welt. Jenseits von ihnen, so hieß es, war es so kalt, dass selbst die Luft zu Eis wurde und alles Leben erstickte.

Als Kind hatte Gerit sich oft gefragt, ob das stimmte, doch niemand hatte ihm darauf eine Antwort geben können.

Er ritt den Bergen entgegen. Der Boden unter ihm wurde felsig. Geröll bedeckte die Ebene zu beiden Seiten des Wegs.

Die Galgen und Pranger waren verschwunden, das war das Erste, was Gerit bemerkte, als er die Mine vor sich sah. Nur die Wachtürme waren geblieben, aber die Nachtschatten darauf blickten auf den Weg hinaus, nicht auf die Arbeiter unter ihnen. Männer und Frauen, deren Körper schwarz vom Staub des Berges waren, kletterten über steile Holztreppen in ihn hinein. Ochsen drehten ein breites Holzrad und zogen damit Säcke voller Gold aus der Erde. Zwei Nachtschatten und zwei Menschen gingen zwischen ihnen auf und ab, achteten darauf, dass möglichst wenig Gold gestohlen wurde. Die Arbeiter waren fast nackt. So tief im Berg war es warm.

Gerit winkte den Nachtschatten zu, dann wandte er sich an eine der menschlichen Wachen. »Wo finde ich Maccus?«

»Stollen drei, Minherr. Ein Läufer wird Euch führen.« Er pfiff auf zwei Fingern. Ein kleines Mädchen, nicht älter als sechs, das mit anderen Kindern zwischen dem Geröll gespielt hatte, kam heran.

»Stollen drei«, sagte der Wachmann und zeigte dabei auf Gerit.

Das Mädchen nickte. Unter dem Staub konnte Gerit seine Haarfarbe nicht erkennen. »Komm«, sagte die Kleine und nahm ihn an der Hand. Ihre Handfläche war voller Schwielen.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Amba«, sagte das Mädchen. »Und du?«

Er nannte seinen Namen, aber sie schien nicht zu wissen, wer er war.

Sie führte ihn zu den Stufen im Fels. Es war eine Wendeltreppe. Sie schraubte sich tief in die Erde. Fackeln hingen an den Wänden und erhellten ausgetretene hohe Stufen, die man aus dem Fels geschlagen hatte. Arbeiter kamen ihnen entgegen. Amba sprach jeden mit Namen an. Die meisten lächelten.

Gerit bemerkte die Gänge, die von der Wendeltreppe abgingen. In manchen hingen Fackeln. Er hörte Stimmen und das Geräusch von Spitzhacken und Schaufeln. In der Mitte der Wendeltreppe wurden volle Säcke an Seilen nach oben und leere nach unten geschickt. Arbeiter zogen sie aus den Gängen und hängten sie an Metallhaken. Es roch nach Ruß und Erde.

Amba lief in einen Stollen. »Maccus?«

»Ja?«

»Jemand will dich sprechen.«

Sie kehrte zu Gerit zurück. »Er ist dort hinten.«

»Danke.« Er wollte ihr eine Belohnung geben, wusste jedoch nicht, was. Brot und Zwiebeln erschienen ihm unangemessen, also lächelte er nur. Sie lächelte zurück, sprang von den Stufen in den tiefen Schacht, bekam eines der Seile zu fassen und ließ sich zwischen den Goldsäcken nach oben ziehen.

Gerit ging in den Stollen. Fackeln erhellten Stützbalken. Überall hockten Männer am Boden und schlugen mit Spitzhacken auf den Fels ein. In den Wänden glitzerte es. Er zog einen Handschuh aus und strich darüber. Sie waren kühl und feucht. Als er die Hand zurückzog, glitzerten auch seine Fingerspitzen.

Maccus kam ihm entgegen und wischte seine Hände an einem fast schwarzen Lendenschurz ab. »Danke, dass Ihr so schnell gekommen seid, Minherr«, sagte er. Seine Augen leuchteten hell in seinem staubigen Gesicht. »Kommt.«

»Was willst du mir zeigen?«, fragte Gerit, aber Maccus schüttelte mit einem Blick auf die anderen Arbeiter den Kopf. »Nicht hier.«

Er klopfte einem Mann auf die Schulter. Als er den Kopf hob, sah Gerit, dass es Burek war. Wortlos stand er auf und schloss sich ihnen an.

Der Gang wurde enger. Die beiden Männer nahmen Fackeln aus den Halterungen. Sie schienen auf eine Wand zuzugehen, bogen jedoch kurz davor ab. Der Gang endete. Gerit sah sich um. Sie waren allein. Sein Nacken begann zu kribbeln.

»Was wollt ihr mir zeigen?«, fragte er. Seine Stimme verriet seine Nervosität.

Maccus richtete die Fackel auf einen Felsen. Dahinter erkannte Gerit einen Spalt, den er zunächst für einen Schatten gehalten hatte. Der Spalt war gerade breit genug für einen Menschen.

»Ich habe ihn vor ein paar Tagen entdeckt, als ich die Stollen abging«, sagte Burek leise. Er quetschte sich hindurch. »Wir machen das regelmäßig, um nach Schwachstellen zu suchen, damit die Stollen nicht einbrechen. Ist nicht ganz ungefährlich hier unten.«

Gerit folgte ihm. Ein warmer Wind schien durch den Spalt zu wehen. Wasser plätscherte. »Ist das ein Fluss?«, fragte er.

»Ja.« Maccus hielt die Fackel in den Stollen, der vor ihnen lag. Er wirkte nicht wie etwas, das Menschen erbaut hatten. Die Wände waren glatt. Es gab keine Stützbalken. Gerit sah nach unten, als sein Fuß gegen etwas stieß. Es war eine Muschel.

»Wir sind gleich da«, sagte Maccus. Er legte die Fackel auf den Boden. »Die brauchen wir nicht mehr.«

Er hatte recht. Die Wände selbst schienen zu leuchten. Das Licht war bläulich, so wie Sonnenschein am Grund eines Sees.

Gerit blieb stehen, als er das Ende des Gangs erreichte und sah, was dahinter lag. Er hob den Kopf, ließ den Blick durch den gewaltigen Raum gleiten. »Eine Höhle«, sagte er. Seine Stimme hallte von den Wänden wider, von Felsen, die so glatt waren, dass er sein Gesicht darin sah, hallte durch Gänge und über Felsbrücken, die sich hoch über ihm entlangzogen.

Ein Fluss lief durch die Mitte der Höhle. Er war kaum breiter als ein Bach. Sein Wasser war so schwarz, dass er den Grund des Flusses nicht ausmachen konnte. Sein Blick verfing sich an den Felsen, die aus dem Boden emporragten, an Linien, denen sich sein Auge verwehrte. Ihm wurde schwindelig, als er versuchte, ihnen zu folgen. Er ging zu einem der Felsen und berührte ihn. Er war warm.

»Ganz schön seltsam, was?«, sagte Burek. Er klang stolz, so als hätte er mit seiner Entdeckung die Höhle erst geschaffen. »Ich wollte den Nachtschatten Bescheid sagen, aber als ich ihn sah, dachte ich, das soll ein anderer entscheiden.«

Gerit riss sich mühsam vom Anblick des Felsens los. »Wen sah?«

»Ihn.«

Es war ein Mann. Gerit hatte ihn zwischen den Felsen nicht bemerkt. Er stand am Fluss, mit dem Rücken zum Gang, aus dem Gerit gekommen war. Wasser umspülte seine nackten Füße. Seine Uniform war zerrissen, die Abzeichen verrostet.

»Er ist aus Westfall«, sagte Gerit. »Habt ihr ihn hier gefunden?«

»Ja. Er stand einfach so da.« Burek hob die Schultern. »Keine Ahnung, wo er hergekommen ist.«

»Warum sieht er uns nicht an?«

Maccus klatschte in die Hände. »Hey!«, rief er. »Dreh dich um!«

Tausendfach hallte seine Stimme durch die Höhle. Das Klatschen verlor sich in Gängen, die tief in die Dunkelheit führten.

Der Mann hob den Kopf. Er hatte dichtes blondes Haar. Gerit sah, wie sich seine Füße bewegten. Sie drehten sich langsam. Die Zehen waren schwarz und aufgeplatzt. Er würde sie verlieren.

Langsam drehte sich auch der Oberkörper. Der Mann spreizte die Hände vom Körper ab, als könne er kaum das Gleichgewicht halten. Seine Finger waren schwarz wie seine Zehen.

Dann sah Gerit das Gesicht.

Die Kälte hatte ihm die Nase und die Lippen genommen, aber Gerit erkannte ihn trotzdem.

»Rickard?« Er brachte den Namen kaum hervor.

Rickard öffnete den Mund. Schwarzer Sand rieselte ihm aus den Mundwinkeln in den Kragen.