Kapitel 25

 

Die Festungen und Schlösser Westfalls zählen zu den schönsten der vier Königreiche. Seit den Tagen der Vergangenen hat kein Katapult ihre Mauern gesprengt und keine Magie ihre Steine zum Einsturz gebracht. Gelangweilt gleitet das Auge des Reisenden über ihre Vollkommenheit.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1

 

Im ersten Licht des neuen Tages ließen sie die Festung hinter sich. Es war ein ruhiger Morgen. Die Straßen waren leer. Nur einige Männer hockten noch am Straßenrand und in den Hauseingängen, zu betrunken, um zu arbeiten, zu wach, um zu schlafen. Gelegentlich rief jemand mit rauer Stimme: »Lang lebe das Fürstenpaar!«, doch niemand nahm den Ruf auf; er verhallte in der Stille, zwischen leeren Fässern und zertretenen Blumen.

Craymorus sah durch einen Schlitz im dunklen Vorhang nach draußen. Leutnant Garrsy hatte die Fenster der Kutsche verhängen lassen, damit niemand sehen konnte, wer darin saß. Die Fürstin wünscht keine Gerüchte, hatte er gesagt.

Und Gerüchte würde es geben, wenn sich herumsprach, dass der Fürst nur wenige Stunden nach seiner Hochzeit die Stadt verließ. Deshalb, so glaubte Craymorus, hatte Syrah sich so vehement gegen seine Abreise ausgesprochen. Die Furcht, das Gesicht zu verlieren, schien sogar noch ihre Gier nach Macht zu übertreffen. Craymorus merkte sich diese Erkenntnis.

Fünf Soldaten begleiteten ihn auf seiner Reise, Leutnant Garrsy und vier Palastwachen. Sie trugen dunkle Umhänge, unter denen ihre Schwerter hervorstachen, und Lederrüstungen ohne Wappen. Man hätte sie für Söldner halten können, die einen reichen Händler beschützten. Einer von ihnen saß auf dem Kutschbock, die anderen ritten auf Pferden.

Craymorus atmete auf, als das Rumpeln der Kutsche nachließ. Sie hatten die Stadt mit ihren Gassen aus Kopfsteinpflaster verlassen. Die Räder rollten über eine staubige Straße, die durch die Hügel und vorbei an Bauernhöfen und Weizenfeldern führte. Vögel sangen in den Bäumen. Ein Hahn krähte weit entfernt.

Craymorus zog den Vorhang zurück und ließ die Landschaft an sich vorbeiziehen. Er sah eine Bäuerin, die Kleidung an einem Bach wusch, und einen kleinen Jungen, der über ihr in einer Astgabel saß und mit den Füßen baumelte. Alles wirkte friedlich, so als wären die Nachtschatten nur ein Alptraum, der mit dem Tageslicht verweht war.

Garrsy lenkte sein Pferd an die Kutsche heran und neigte den Kopf. »Mein Fürst«, sagte er. »Wir haben die Stadt nach Westen verlassen, so wie Ihr befohlen habt. Bald werden wir eine Kreuzung erreichen. Welchen Weg sollen wir dort einschlagen?«

Craymorus hatte niemandem gesagt, wohin die Reise führen würde. Selbst Mellie kannte das Ziel nicht. Er wusste selbst nicht genau, weshalb er auf ihre Fragen geschwiegen hatte. Vielleicht fürchtete er ebenso sehr wie Syrah, sein Gesicht zu verlieren.

Er räusperte sich. »Kennt Ihr den Weg zur Stadt der Magier, Leutnant?«

»Ja, mein Fürst.«

»Dann führt uns dorthin.«

»Ja, Herr.«

Craymorus griff nach einer der Schriftrollen, die neben ihm auf der gepolsterten Sitzbank lagen. Er hatte sie mitgenommen, um die Reise zu verkürzen. Er begann die Lederriemen zu öffnen, mit denen sie verschnürt waren, bemerkte dann jedoch, dass Garrsy immer noch neben der Kutsche ritt.

Er sah ihn an.

»Habt Ihr noch eine Frage, Leutnant?«

Garrsy fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Die Lederhandschuhe, die er trug und die seine Arme bis zu den Ellenbogen bedeckten, knarrten bei jeder Bewegung. Sie sahen neu aus, so wie der Rest seiner Rüstung.

»Herr«, sagte er. »Wenn es nicht allzu vermessen ist, würde ich gern wissen, wie es von dort aus weitergeht und was unser Ziel ist.«

Craymorus ließ die Schriftrolle sinken. »Die Stadt der Magier ist unser Ziel.«

Garrsy öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schloss ihn aber sofort wieder. Gefühle glitten wie Schatten über sein Gesicht. Enttäuschung, Verwirrung, sogar Ärger. Er war jung, jünger noch als Rickard, und er hatte wahrscheinlich sein Schicksal verflucht, als die Armeen Westfalls ohne ihn in den Krieg gezogen waren. Craymorus glaubte ihn zu verstehen.

»Die Stadt der Magier ist weit wichtiger, als Ihr denkt«, sagte Craymorus, auch wenn er wusste, dass Garrsy keine Erklärung zustand. »Wartet ab.«

»Ja, Herr.«

Garrsy ritt zurück an die Spitze des Trupps. Craymorus beobachtete, wie er sich mit einem der anderen Soldaten unterhielt. Nach einem Moment schüttelte der andere Soldat den Kopf und lachte. Einzelne Worte ihrer Unterhaltung wehten Craymorus entgegen. Hügel und Schande.

Natürlich, dachte er, während er den Vorhang zuzog. Der Krähenhügel. Das ist alles, woran sie denken.

Er griff nach der Schriftrolle, breitete sie auf seinen Knien aus und begann zu lesen. Nach nur wenigen Zeilen legte er sie wieder beiseite. In der abgedunkelten Kutsche waren die Symbole kaum zu erkennen. Öffnen wollte er den Vorhang jedoch auch nicht. Er ahnte, was er in den Blicken der Soldaten sehen würde.

Fünfzehn Jahre waren seit der Schlacht um den Krähenhügel, dem Tag der Schande, vergangen. Doch niemand hatte vergessen, was damals geschehen war. Sein eigener Name verband ihn untrennbar damit, so wie der Name eines jeden Magiers.

Er lehnte den Kopf an die Polster in seinem Rücken und lauschte auf die Geräusche der Kutsche. Gefangen in ihrem Halbdunkel konnte er seinen eigenen Zweifeln nicht entfliehen. Hatte er tatsächlich gesehen, was er zu sehen geglaubt hatte, oder war er nur auf den Trick eines geschickten Gauklers hereingefallen? Er war sich sicher gewesen, doch nun war er es nicht mehr. Wenn er sich irrte, würde bald ganz Westfall über ihn lachen. Soldaten redeten viel und gern. Unser neuer Fürst, würden sie sagen, ein Krüppel und ein Narr.

Die vier Tage, die zwischen ihm und seinem Ziel lagen, erschienen Craymorus auf einmal endlos. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen, doch seine Gedanken ließen ihn nicht los. Er dachte an die Nachtschatten, die wie ein Steppenbrand im Norden Westfalls wüteten, an Syrah, die ihn mehr hasste als je ein Mensch zuvor, und an Mellie. Doch vor allem dachte er an die Stadt der Magier.

Gegen Mittag hielt die Kutsche an einem kleinen See an. Die Soldaten ließen die Pferde trinken und fressen. Craymorus hörte, wie die Männer redeten und gegen einen Baum urinierten. Es war warm geworden. Die Sonne hing über der Kutsche und heizte sie auf. Ein Geruch nach altem Holz und schwerem Stoff stieg auf wie Nebel aus Wasser. Trotzdem öffnete Craymorus nicht die Vorhänge, noch bat er die Männer, ihm beim Aussteigen zu helfen. Seine Krücken lagen unter ihm auf dem Boden.

Er hob eine auf und zog damit die Vorratskiste zu sich, die während der Fahrt auf die andere Seite gerutscht war. Ein voller Wasserschlauch lag darin, ein Laib Brot, ein Topf mit Schmalz, ein paar Äpfel und ein Weinschlauch. Er trank ein wenig Wasser. Hunger hatte er nicht. Die Kutsche schaukelte unter ihm, als einer der Soldaten auf den Kutschbock kletterte. Es ging weiter.

In dem beständigen Halbdunkel schien die Zeit stillzustehen, doch irgendwann konnte Craymorus seine auf der Sitzbank ausgestreckten Beine kaum noch auszumachen. Es wurde Abend.

Sie schlugen ihr Nachtlager auf einer Wiese neben einem Bach auf. Die Männer saßen rund um das Lagerfeuer auf ihren zusammengerollten Decken. Craymorus, der als Einziger auf einem Stuhl saß, ragte aus ihnen empor. Die Unterhaltungen glitten unter ihm vorbei. Die Männer redeten über Nichtigkeiten, über Huren in der Stadt, über Soldaten, deren Namen ihm nicht vertraut waren, und über ihre Familien. Ab und zu sahen sie zu ihm auf, wandten die Blicke aber gleich wieder ab. Er fühlte sich fremd zwischen ihnen.

Sie aßen Fische, die einer der Soldaten – ein ehemaliger Fischer namens Kurd – gefangen hatte, dann legten sie sich schlafen. Craymorus schlief in der Kutsche, die anderen unter freiem Himmel.

Am nächsten Morgen setzten sie die Reise kurz nach Sonnenaufgang fort. Dieses Mal schloss Craymorus die Vorhänge nicht. Er war lange genug allein mit seinen Gedanken gewesen. Sie drehten sich nur noch im Kreis.

Er ließ sich von der Landschaft ablenken. Bauernhöfe, Felder und kleine Dörfer zogen an ihm vorbei. Der einzige Hinweis auf den Krieg waren die leeren Weiden, auf denen das Gras fast hüfthoch stand. Vor dem Marsch nach Norden hatte Fürst Balderick die meisten Pferde, Kühe und Schafe Westfalls requirieren lassen. Craymorus wusste nicht genug über die Provinz, um einschätzen zu können, ob eine Hungersnot im Winter drohte. Er hätte Garrsy fragen können, doch er bezweifelte, dass der ihm die Wahrheit gesagt hätte.

Nach einer Weile wurde die Gegend wieder hügeliger und die Dörfer weniger. Bäume standen rechts und links der Straße, und die Kutsche rollte schließlich durch einen Wald. Die Soldaten ritten enger nebeneinander, ihre Unterhaltungen erstarben. Sie wirkten angespannt.

Craymorus winkte Garrsy heran.

»Erwartet Ihr Schwierigkeiten, Leutnant?«

Garrsys Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Nein, mein Fürst. Alles ist friedlich. Macht Euch keine Sorgen.«

Er klang, als würde er mit einem Kind sprechen. Craymorus ging nicht darauf ein, suchte stattdessen den Wald mit Blicken ab, so wie es auch die Soldaten taten. Die Bäume standen so dicht beisammen, dass kaum Licht durch ihre Kronen drang. Gestrüpp bedeckte den Boden. Craymorus sah einen Ameisenhaufen, der so groß wie eine Kuh war.

Bis zum Nachmittag hielt die Spannung an, dann lichtete sich der Wald, und die Soldaten nahmen ihre Unterhaltungen wieder auf. Sie wirkten erleichtert. Craymorus war es ebenfalls, auch wenn er nicht wusste, warum.

Kopfschüttelnd griff er nach einer Schriftrolle, doch im gleichen Moment schrie Kurd, der ehemalige Fischer: »Da!«

Craymorus ließ die Schriftrolle fallen und sah aus dem Fenster. Kurd galoppierte bereits hinein in den Wald. Er hielt die Zügel mit einer Hand fest. Mit der anderen griff er nach seinem Schwert. Tomas, ein schlacksiger Mann, der Garrsys Vater hätte sein können, folgte Kurd. Craymorus sah ihre Pferde zwischen den Bäumen. Muster aus Schatten und Sonnenstrahlen glitten über ihre Körper und die ihrer Reiter.

Die Kutsche wurde langsamer.

»Weiterfahren!« Garrsys Stimme überschlug sich fast. »Nicht anhalten!«

Der Kutscher ließ die Zügel knallen. Die Schriftrolle rutschte zu Boden. Craymorus' Krücken klapperten, seine Beine pochten dumpf. Er zog die Lederriemen der Metallschienen fest. Die Kutsche war so schmal, dass er sich mit beiden Händen an den Seitenwänden abstützen konnte.

Garrsy tauchte neben dem Fenster auf. »Was ist los?«, rief Craymorus ihm zu.

Im ersten Moment schien es, als wolle der Leutnant ihn ignorieren, dann drehte er ihm doch das Gesicht zu.

»Ein Wegelagerer, mein Fürst. Kein Grund zur Sorge. Meine Männer …«

Gebrüll unterbrach ihn. Garrsy zügelte sein Pferd. Craymorus sah Gesichter zwischen den Bäumen auftauchen, dann war die Kutsche auch schon an ihnen vorbei.

Craymorus zog sich an das Fenster heran und sah nach hinten. Garrsy hatte das Schwert gezogen und schlug auf zerlumpte Gestalten ein. Craymorus bemerkte, dass sie die verblichenen Farben Westfalls trugen. Ein Mann lag bereits am Boden.

»Dreh um!«, schrie Craymorus dem Kutscher zu. »Hilf deinem Herrn!«

Die Kutsche fuhr weiter. Craymorus drehte den Kopf, sah zum Kutschbock hinauf. Tropfen benetzten sein Gesicht, so als habe es zu nieseln begonnen. Sie schmeckten salzig.

Er schob sich weiter aus dem Fenster. Der dunkle Umhang des Kutschers blähte sich auf wie die Flügel eines Raben. Eine Axt steckte in seinem Rücken und heftete den Stoff an. Eine zweite steckte in seinem Hinterkopf. Blut lief über seine Haare und sammelte sich als Tropfen in seinen Haarspitzen. Der Fahrtwind trug sie Craymorus entgegen. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und wischte das Blut ab.

Der Kutscher war tot, die Kutsche wurde langsamer. Hinter Craymorus wieherte ein Pferd. Er warf einen Blick zurück.

Die beiden Soldaten, die den Wegelagerer verfolgt hatten, sprengten aus dem Dickicht hinein in den Kampf und versuchten die Angreifer mit den massigen Pferdekörpern umzuwerfen und niederzureiten. Doch die Männer wichen ihnen immer wieder aus. Mit Kurzschwertern und Messern stachen sie nach Pferdebäuchen und Sattelgurten.

Eines der Tiere blutete am Hals. Ein abgetrennter Zügel lag im Staub. Noch saßen die Soldaten auf ihren Pferden, aber die Angreifer – Craymorus zählte sieben – wurden mit jedem Hieb und jedem Stich dreister.

Die Kutsche blieb stehen. Craymorus drehte den Kopf. Der tote Soldat saß beinahe aufrecht auf dem Kutschbock. Das Gewicht der Axt zog seinen Kopf nach hinten und ließ ihn mit geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen in den Himmel starren. Seine Hände, die immer noch die schlaffen Zügel festhielten, lagen auf den Oberschenkeln.

Ein Mann schrie, ein anderer brüllte voller Triumph.

Craymorus sah sich um. Der ältere Soldat, dessen Namen er nicht kannte, war vom Pferd gerissen worden und lag am Boden. Zwei Männer hockten über ihm und hackten mit Schwertern auf ihn ein. Er bewegte sich nicht. Garrsy und der andere Soldat wurden von fünf anderen Männern ins Unterholz gedrängt. Ihre Pferde stiegen auf und wieherten. Die Soldaten konnten sich kaum im Sattel halten.

Die beiden, die über dem Soldaten gehockt hatten, standen auf. Ihre Kleidung war blutverschmiert wie die Schürzen von Schlachtern. Sie sahen zur Kutsche. Der eine stieß den anderen an. Dann liefen sie los.

»Flieht, mein Fürst!«, rief Garrsy.

Craymorus' Mund wurde trocken. »Hey!«, schrie er den Pferden zu. »Los!«

Sie rührten sich nicht. Er tastete nach einer Krücke und schob sie durch das Fenster, lehnte sich so weit vor, wie er konnte. Der Holzrahmen drückte gegen seine Hüften. Seine Beine, die von den Metallschienen gehalten wurden, hingen fast waagerecht in der Luft.

Er streckte die Arme aus und schrie die Pferde an. Mit der Spitze der Krücke hieb er gegen den Kutschbock. Eines der beiden Tiere schlug mit dem Schwanz, so als wolle es eine Fliege verscheuchen. Craymorus beugte sich noch weiter vor und stieß mit der Krücke nach ihm. Die Spitze berührte die Deichsel, mehr jedoch nicht. Aus den Augenwinkeln sah er die Männer näher kommen. Sie trugen zerrissene Uniformen und wirkten verwahrlost.

Deserteure, dachte er.

Angst krampfte seinen Magen zusammen. Mit der Krücke in der Hand ließ er sich zurück in die Kutsche fallen. Er schrie auf, als seine Beine auf die Kante der Sitzbank schlugen. Er griff nach der zweiten Krücke. In Gedanken stieß er bereits die Tür auf, zog sich bis zur Deichsel und entriss dem toten Kutscher die Zügel. Besser von den Pferden zu Tode geschleift zu werden, als Deserteuren in die Hände zu fallen. Er hatte gesehen, wie man in Westfall mit ihnen umging. Sie würden ihm keine Gnade erweisen.

Sein Körper sabotierte die Geschwindigkeit seiner Gedanken. In der Enge der Kutsche bewegte er sich ungeschickt und quälend langsam. Auch nach all den Jahren schien sein Geist noch nicht begriffen zu haben, dass er Herrscher einer Ruine war.

Craymorus drehte sich. Seine Beine schleiften über den Boden. Eine Metallschiene blieb an der Vorratskiste hängen und zog sie mit sich. Er streckte die Hand aus und zog die Verriegelung der rechten Tür zurück. Die Deserteure liefen auf die linke Seite zu. Vielleicht würde die Zeit reichen, die sie benötigten, um auf die andere Seite zu gelangen.

Er stieß die Tür auf, aber sie federte sofort wieder zurück. Überrascht sah er auf. Eine Hand legte sich über ihn auf den Holzrahmen. Ein Schatten fiel in die Kutsche, dann tauchte das Gesicht eines Mannes auf. Es war ein hässliches, fleischiges Gesicht voller roter Flecken und verschorfter Wunden.

»Ich hab ihn!«, rief der Mann mit einer Stimme, so hässlich wie sein Gesicht.

Craymorus stieß mit einer Krücke nach ihm. Es knirschte. Der Mann schrie und verschwand. Craymorus hörte, wie er zu Boden fiel. Rasch zog er die Tür zu und verriegelte sie. Erst dann bemerkte er die Sinnlosigkeit dieses Tuns. Die Fenster waren so groß, dass ein Mann hindurchpasste, die Kutsche so eng, dass er keinem Schwerthieb ausweichen konnte.

»Das Schwein hat mich geschlagen!«, schrie die hässliche Stimme draußen. Eine andere lachte.

Craymorus nahm die Krücke in beide Hände, hielt sie wie einen Speer. Er dachte nicht mehr an eine Flucht, nicht mehr an einen Plan, nur noch an das nächste Gesicht im Fenster der Kutsche.

Als es auftauchte, stach er danach, doch es zuckte rechtzeitig zur Seite. »Verdammt schnell für einen Krüppel«, hörte er die fremde Stimme sagen. »Aber ich bin schneller.«

Er antwortete nicht. Sein Blick war starr auf das Fenster gerichtet. Die Muskeln in seinen Armen spannten sich an. Er zuckte zusammen, als ein Stein neben ihm gegen die Wand flog und auf die Sitzbank fiel.

»Na, was machst du jetzt?«, rief die Stimme. Sie war dunkel. Craymorus glaubte, das Grinsen in ihr zu hören.

Sie spielen mit mir, dachte er.

»Bringt sie doch endlich um!«, schrie jemand draußen. Craymorus nahm an, dass die Soldaten gemeint waren.

Eine Hand griff plötzlich in seine Haare. Er schrie auf und duckte sich. Mit der Krücke stach er nach dem Mann, der den Arm durch das linke Fenster gesteckt hatte. Er streifte ihn an der Schulter, dann prellte ihm ein Schlag die Krücke aus den Händen. Sie wurde durch das Fenster nach draußen gezogen.

Die hässliche Stimme grölte, die dunkle lachte. Craymorus griff nach der zweiten Krücke. Sie lag unter ihm, hatte sich zwischen den Sitzen und Kisten verkantet. Er zog daran mit schmerzenden Händen, bekam sie jedoch nicht frei. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er verachtete sich dafür.

»Wer hat dich denn zum Fürsten gemacht?«, fragte die dunkle Stimme. Craymorus hob den Kopf und wischte sich die Tränen von den Wangen.

Einer der Deserteure stützte die Ellbogen auf den Fensterrahmen und sah ihn an. Lachfalten umgaben seine Augen, aber sein Mund war hart und verkniffen.

Craymorus ließ die Arme sinken. »Was wollt ihr?«

»Wir wollten Gold, Waren – alles, was du besitzt.« Der Deserteur zog die Nase hoch. »Das war, bevor wir wussten, wer du bist. Der Fürst.«

Das hässliche Gesicht tauchte neben ihm auf. Es war blutverschmiert und verquollen. Sein Blick musterte Craymorus und blieb an den Metallschienen hängen. »Bei den Vergangenen, was denkt man sich bloß in Westfall, Laas?«

Laas richtete sich auf. Eine Hand verschwand und kehrte mit einem langen Messer zurück. »Hol ihn raus.«

Der Hässliche nickte, öffnete die Tür und …

Ein Pfeil nagelte seine Hand gegen das Holz. Craymorus blinzelte, der Mann schrie und ging in die Knie.

Ein zweiter und dritter Pfeil bohrte sich knarrend in seine Brust. Aus dem Schrei wurde ein Wimmern.

Laas duckte sich hinter der Tür, verlor so das Innere der Kutsche aus den Augen.

Craymorus kroch auf den Sterbenden zu und zog ein Schwert aus dessen Gürtel. Der Mann sah ihn an. Seine Lippen bewegten sich. Blut und Speichel vermischten sich zu einem rötlichen Schaum. Craymorus wandte den Blick ab.

Rufe und Schreie hallten durch den Wald. Er konnte nicht sehen, was hinter ihm geschah. Der Kampf hatte sich zwischen die Bäume verlagert.

Craymorus schob seine Beine unter die Sitzbank und richtete seinen Oberkörper auf. Der Schmerz schoss ihm bis in den Rücken und ließ ihn würgen. Er kämpfte gegen die Übelkeit und hob das Schwert mit beiden Händen über den Kopf. Er sah Laas' Beine im Spalt unter der offenen Tür. Seine Füße drehten sich, als wolle er in den Wald fliehen.

Craymorus stach zu, zielte aber nicht auf die Beine, sondern durch das Fenster der Tür. Er spürte, wie die Klinge auf Widerstand stieß und dann mit nassem Geräusch tiefer in ihr Ziel eindrang. Die Kraft, die er in den Stich gelegt hatte, trieb ihn nach vom. Er verlor das Gleichgewicht, ließ das Schwert los und hielt sich an der Tür fest. Sie schwang weiter auf, und der Sterbende, der an ihr hing, rutschte über den Boden. Eines der Kutschpferde wieherte. Die Räder begannen sich zu drehen.

Craymorus zog sich an der Tür hoch. Seine Beine waren immer noch unter der Sitzbank verkantet. Hilflos hing er zwischen Tür und Kutsche über dem Boden.

Laas tauchte weniger als eine Armlänge vor ihm auf. Das Schwert, mit dem Craymorus zugestoßen hatte, steckte zwischen Schulter und Hals. Blut sprudelte im Rhythmus seines Herzschlags aus der Wunde. Sein Gesicht war bleich, seine Augen glänzten. Er hielt immer noch das Messer in der Hand, holte damit aus.

Ein Schatten glitt an Craymorus vorbei. Eine Schulter rammte Laas, zwei Hände brachen ihm mit einer Drehung das Genick.

Die Pferde tänzelten nervös. Das rechte machte einen Satz nach vorn, das linke wieherte. Mit einem Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung.

Craymorus hielt sich fest, sah undeutlich, wie eine Gestalt zuerst auf den Kutschbock und dann auf eines der Pferde sprang. Die Bewegungen waren geschmeidig und schnell, beinahe wie die eines Tiers.

Die Kutsche hielt an. Craymorus hustete. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er schrak zusammen.

»Ihr seid in Sicherheit«, sagte eine Männerstimme. Craymorus ließ sich von den fremden Händen zurück in die Kutsche helfen. Ihm wurde ein Wasserschlauch gereicht. Er ließ das kühle Nass über sein Gesicht laufen und blinzelte.

Vor ihm stand ein Mann, nicht älter als er. Auch er trug die Farben Westfalls, aber seine Haut war zu dunkel für diese Gegend. Er musste aus dem Süden stammen, vielleicht aus Hala'nar.

Craymorus reichte ihm den Wasserschlauch zurück. »Ihr habt mir das Leben gerettet«, sagte er. »Danke.«

Der Mann trank und schwieg.

»Mein Fürst! Mein Fürst!« Garrsys Stimme überschlug sich beinahe. Er kam näher, umringt von einigen Uniformierten, die nicht wie Soldaten, aber auch nicht wie Wegelagerer aussahen.

Der Fremde zuckte kurz zusammen, dann hatte er sich auch schon wieder in der Gewalt und verkorkte den Wasserschlauch.

Craymorus entging die Bewegung nicht. Er lächelte. »Ihr wisst jetzt wohl, wer ich bin. Ich würde gern Euren Namen erfahren.«

Der Mann nickte.

»Jonan«, sagte er.