Kapitel 8
Die alte Hochsprache der Könige sollte dem Reisenden, der sich unter den Herrschern dieser Welt zu bewegen gedenkt, vertraut sein. Mit ihren mehr als dreihundert Anredeformen lässt sich jede Nuance höfischen Lebens beschreiben. Diese abschreckende Komplexität gleicht sie durch ein geradezu primitives Vokabular in allen anderen Bereichen aus. So gibt es nur ein Wort, um Handwerkstätigkeiten aller Art auszudrücken und kein einziges für »Arbeit«.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 1
Craymorus folgte Mellie durch eine schmale Tür, hinter der Holz für den Winter gelagert wurde, und zog den Schleier von seinem Kopf. In dem Verschlag war es dunkel. Draußen auf dem Burghof zerstreute sich die Menge. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung, teils Trauer wegen des getöteten Fürsten und seines verschollenen Sohnes Rickard, teils Überraschung über Fürstin Syrahs Entscheidung, Cascyr, den König ohne Land, zu ehelichen, aber auch Sorge, weil alle einen Angriff der Nachtschatten befürchteten.
Mellie schloss die Tür hinter sich und umarmte Craymorus. Er spürte die Wärme ihrer Haut durch den dünnen Stoff seines Hemdes, roch den Staub in ihren Haaren und das Salz ihres Schweißes.
»Ich habe dich vermisst«, flüsterte er. Seine Hand strich über ihren Rücken. Sie trug einen langen Umhang mit zurückgeschlagener Kapuze. Es war ein anderer als der, den sie bei ihrer Flucht getragen hatte.
»Jeden Morgen und jeden Abend«, sagte Mellie, »habe ich darum gebetet, dass du noch lebst. Als ich dich dann gerade sah …«
Sie legte den Kopf gegen seine Brust.
»Du weißt, was geschehen ist?«, fragte er.
Er spürte ihr Nicken. »Auf den Straßen wurde von nichts anderem gesprochen.« Ihre Haare kitzelten sein Gesicht. »Ist es wahr, dass auch Rickard tot ist?«
»Er war in Somerstorm, als der Winter kam.«
»Dann ist das Versprechen, das du ihm gabst, nicht mehr bindend. Du kannst die Suche nach seiner Verlobten abbrechen und dich mit anderen, wichtigen Dingen befassen.«
Craymorus löste sich aus ihrer Umarmung. Da war sie, die berechnende Entschlossenheit, die immer wieder aus Mellie hervorbrach. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
»War deine Reise erfolgreich?«, fragte er steif.
»Das war sie.« Mellie lehnte sich an einen Holzstapel. Das Tageslicht, das durch die Ritzen der Wände drang, malte ein weißes Gitter auf ihr Gesicht. Nur ihre Augen blieben im Dunkel.
»Die Tochter der Fürstin war in Boshalam, genau wie meine Tante gesagt hatte«, erzählte sie. »Es war leicht, sie zu finden.« Mellie legte eine Hand auf Craymorus' Krücke, so als wäre das Holz ein Teil seines Körpers. »Craymorus, ihr Name ist Merie, und sie hat das gleiche Mal am Hals, das auch die Fürstin trägt. Es ist ihre Tochter, daran gibt es keinen Zweifel.«
Ihre Begeisterung sprang nicht auf ihn über.
»Hast du mit ihr gesprochen?«
Mellies Hand rutschte von seiner Krücke. Seine Reaktion schien sie zu enttäuschen. »Ich habe mehr als nur das getan. Ich habe Merie an einen sicheren Ort gebracht.«
»Wurde sie nicht bewacht?«
»Das Gold, das du mir mitgegeben hast, war den Bewachern wichtiger als ihr Auftrag.«
Craymorus runzelte die Stirn. Weniger als ein Dutzend Münzen hatten sich in dem Lederbeutel befunden. Es erschien ihm seltsam, dass die Fürstin für eine solch wichtige Aufgabe Männer ausgesucht hatte, die sich so leicht bestechen ließen.
»Fürst Baldericks Niederlage hatte alle sehr mitgenommen«, erklärte Mellie, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Ich glaube, sie waren froh, die Verantwortung loszuwerden.«
Sie lächelte. »Warum freut dich unser Triumph nicht?«
Craymorus sah sich nach einem Hocker oder einer anderen Sitzgelegenheit um, fand aber nichts. Seine Beine schmerzten.
»Weil das, was wir hier tun …« Er brach ab, suchte nach den richtigen Worten. »Wir sind nicht für Intrigen und Machtkämpfe geboren. Das ist ein Spiel für Könige und Fürsten, nicht für Gelehrte und Zofen.«
Das Lächeln verschwand nicht aus Mellies Gesicht. Sie trat einen Schritt vor. Ihre weiche trockene Hand strich über Craymorus' Wange.
»Aber du hast längst angefangen, es zu spielen«, sagte sie.
Er wartete, aber sie fügte nichts hinzu, schien zu glauben, dass es keiner weiteren Erklärungen bedurfte.
Sie hatte recht.
Zu viel war geschehen. Er hatte die Fürstin erpresst und den König ohne Land belogen. Rickard, mit seiner offenen leichten Art, hätte die Schuld, die Craymorus dadurch auf sich geladen hatte, einfach beiseitegelacht, hätte seine Mutter mit einem Kuss auf die Wange und Cascyr mit einem Schlag auf die Schulter beruhigt. Doch Rickard war nicht mehr da. Es gab nur noch Craymorus und Mellie und das Mädchen irgendwo dort draußen. Er fragte nicht, wohin Merie gebracht worden war. Er wollte nicht, dass Mellie ihn belog.
Ein Schatten fiel kühl und dunkel über sein Gesicht. Craymorus sah durch die Ritzen zwischen den Wandbrettern. Einer der beiden Gardisten, die Cascyr ihm aufgezwungen halte, ging langsam an dem Verschlag vorbei. Suchend glitt sein Blick über die Menge, die sich auf dem Burghof zerstreute.
Craymorus legte sich den Zeigefinger auf die Lippen. Mellies Augen weiteten sich, als sie den Gardisten vor dem Verschlag entdeckte. Sie krallte ihre Hand in Craymorus' Arm. Ihre Angst schien die Luft aufzuladen, knisterte bei jedem kurzen, hektischen Atemzug, den sie tat.
Warum?, fragte sich Craymorus. Warum fürchtet sie den Gardisten so sehr?
Draußen sah sich der Soldat noch einmal um. Die eingefallenen Lippen über seinem Mund ließen sein Kinn spitz hervorstechen. Wie alle Soldaten der Ewigen Garde war er zahnlos. An einem der ersten Abende in Gesellschaft seiner neuen Bewacher hatte Craymorus sie gefragt, weshalb das so war, doch sie hatten ihn nur angesehen und geschwiegen.
Der zweite Gardist tauchte vor dem Verschlag auf und blieb neben dem anderen stehen. Craymorus hörte, wie Mellie die Luft einzog und anhielt. Er hätte sie gern in den Arm genommen, aber er wagte es nicht, den Arm auszustrecken. Seine Krücken hielten ihn aufrecht. Er durfte nicht stürzen.
Die beiden Gardisten blieben nebeneinander stehen. Durch die Ritzen sah Craymorus ihre Gesichter, unterbrochen von hervorstehenden Holzsplittern. Sie schienen nicht miteinander zu reden, nur reglos dazustehen. Nach einem Moment wandten sie sich ab und gingen mit der Präzision von Figuren in einem Glockenspiel in entgegengesetzte Richtungen davon.
Mellie atmete aus.
»Du musst keine Angst vor ihnen haben«, sagte Craymorus. »Sie haben keinen Grund, dir etwas zu tun.«
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Finger zitterten. »Es heißt, sie könnten Gedanken lesen.«
Manchmal vergaß er, dass sie trotz all ihres Ehrgeizes eine Zofe war, die ihre Bildung aus Backstuben, Tavernen und Schlafzimmern der Burg hatte.
»Kein Mensch kann Gedanken lesen«, sagte er. »Früher einmal konnten sie es, als die Magie noch stark war, doch das ist längst vorbei.«
Vorsichtig nahm er die rechte Hand von seiner Krücke und strich ihr über die Wange. Er konnte ihre Haut kaum spüren. »Sie werden dir nichts tun, hab keine Angst.«
Sie nahm seine Hand in die ihre. Craymorus senkte den Blick und betrachtete seine. Sie war hart, von Schwielen und Narben überzogen. Nicht die Hand eines Gelehrten, die Hand eines Krüppels, die fast ein Leben lang eine Krücke gehalten hatte. Und in ihr lag Mellies Hand, so weiß und weich wie die einer Fürstin, nicht rot und rau wie die eines Sklaven.
Unsere Hände zeigen uns, wer wir wirklich sind, dachte Craymorus. Er zog seine Hand zurück und stützte sich wieder auf die Krücke.
Mellie sah ihn an. »Willst du nicht wissen, was ich im Hof gemeint habe«, fragte sie, »als ich dir sagte, dass du Fürstin Syrah heiraten würdest?«
Nein, wollte er antworten. Ich will nichts davon wissen. »Ja«, sagte er.
Sie lächelte erneut. »Auf dem Weg zurück habe ich lange darüber nachgedacht. Es ist gut, dass wir Syrahs Nachtschattenbastard haben, aber wir dürfen uns nicht auf diesem Sieg ausruhen. Die …«
Craymorus erlaubte es den Schmerzen in seinen Beinen und Schultern, ihre Worte zu übertönen. Er ahnte längst, was sie sagen würde, dass die Sicherheit, die sie sich durch Fürstin Syrahs Erpressung erkauft hatten, nur vorübergehend war, dass Syrah und Cascyr hinter verschlossenen Türen Pläne für den Tod der Erpresser schmieden würden, während Soldaten und Informanten das Land nach dem Mädchen durchkämmten. Ihr Tod war nur eine Frage der Zeit.
Mellies Worte durchdrangen den Schmerz wie ein Windstoß den Nebel. »Aber wenn du der Fürst von Somerstorm wärst, könntest du Cascyr der Burg verweisen und Syrah isolieren. Die Macht, die du hättest …«
»Ich muss nachdenken«, unterbrach Craymorus sie. Er drehte sich um und stieß die Tür mit einer Krücke auf. Sonnenlicht stach in seine Augen. Die Krämpfe in seinen Beinen ließen nach, als er sich über den Burghof dem Haupteingang entgegenzog. Seine Bewacher waren nicht zu sehen.
Einige Arbeiter hatten damit begonnen, die Tribünen abzubauen. Einer der Männer stieß einen anderen an und zeigte auf Craymorus. Dann nahmen beide ihre Mützen ab und winkten ihm zu. Er tat so, als bemerke er das nicht.
In den Tavernen und Gasthäusern Westfalls sprach man oft über ihn, das wusste er. Viele glaubten, dass er an einer Wunderwaffe gegen die Nachtschatten arbeitete. Sie ahnten nicht, dass er noch nicht einmal wusste, was die Nachtschatten eigentlich waren.
Kurz vor dem Haupteingang bog er nach links ab. Aus den Augenwinkeln blickte er über den Hof. Mellie war ihm nicht gefolgt.
Der Soldat, der die eisenbeschlagene Holztür bewachte, zog die Riegel zurück, als er Craymorus sah.
»Ich sage Bescheid, Mylord.« Er verschwand in dem dunklen Gang jenseits der Tür. Nur wenig später erhellte Fackelschein die Wände, dann kehrte der Wächter mit zwei anderen Soldaten zurück. Sie wussten bereits, was sie zu tun hatten.
Der Wächter nahm Craymorus' Krücken, die anderen beiden stützten ihn auf dem Weg nach unten. Die Treppenstufen waren so schmal und ausgetreten, dass er sie allein nicht überwinden konnte. Die Soldaten hatten die Aufgabe, ihn zu stützen. Nur tragen durften sie ihn nicht. Das hatte er ihnen am ersten Tag verboten.
»Danke«, sagte er am Ende der Treppe. »Ihr könnt gehen.«
Mit dem Schlüssel, den er stets in der Tasche trug, öffnete er die schwere Tür am Ende des Gangs. Es war der Weg, den die Henker nahmen, wenn sie nicht in der Burg gesehen werden wollten. Und es war der Weg, den Craymorus nahm, wenn er nachdenken wollte.
Er schloss die letzte Tür hinter sich. Der Raum war kühl und roch nach Kot. Kerzenlicht erhellte ihn, riss steinerne Wände und von der Decke hängende Ketten aus der Dunkelheit. Craymorus setzte sich auf den Stuhl, der stets für ihn bereitstand, und lehnte die Krücken an den Tisch, auf dem Papier, Feder und Tinte standen.
»Es hat geregnet letzte Nacht«, sagte er zu der reglosen Gestalt, die angekettet in der Mitte des Raums hockte. »Seit dem Morgen scheint die Sonne, aber in den Schatten ist es kalt.«
Jedes Mal begann er seine Unterhaltung mit einer Beschreibung des Wetters. Manchmal reagierte der Nachtschatten darauf, manchmal nicht. An diesem Tag schien er nicht bereit zu einem Gespräch zu sein.
Craymorus war das recht. Er lockerte die Lederriemen an seinen Beinschienen und lehnte sich zurück. Der Nachtschatten, ein Junge, der in die Sklaverei hatte verkauft werden sollen, zog sich die Decke über die Brust. An den Stellen, die nicht von dünnem beigefarbenem Fell oder Schorf bedeckt waren, war seine Haut bleich. Es war der einzige Nachtschatten, der je lebend gefangen genommen worden war, jedenfalls soweit Craymorus dies wusste. Er war selbst dabei gewesen, als sich der Junge auf der Fähre nach Westfall verwandelt hatte.
Nicht nur die Ketten hielten ihn gefangen, sondern auch sein Körper, der seit Wochen in einer Form, die sich irgendwo zwischen Mensch und Nachtschatten befand, verharrte; er konnte sich nur noch kriechend bewegen.
Craymorus schloss die Augen und lauschte dem leisen Klirren der Ketten. »Wir haben mehr gemein, als du glaubst«, sagte er leise. Der Nachtschatten schwieg, so wie er es erwartet hatte.
Ich kann das nicht tun, dachte er. So ein Mann bin ich nicht.
Die Vorstellung, Fürstin Syrah zu einer Heirat zu zwingen, erschien ihm lächerlich, auch wenn er verstand, was Mellie auf die Idee gebracht hatte. Einen Krüppel ohne Adelstitel zu heiraten, wäre eine kaum zu ertragende Demütigung für die Fürstin. Ihm ein Kind zu gebären …
Craymorus öffnete die Augen, so wie ein Priester, der sich selbst bei einem blasphemischen Gedanken ertappt hatte. Der Nachtschatten sah ihn aus seinem einen braunen Auge an. Das andere hatte man ihm unter der Folter genommen. Fell wuchs in der leeren Augenhöhle.
»Ich werde es nicht tun«, sagte Craymorus. Es erleichterte ihn, die Worte laut auszusprechen. Der Nachtschatten leckte sich mit seiner langen Wolfszunge über menschliche Lippen. Dann hob er den Kopf.
Nur einen Moment später wurde die Tür aufgestoßen. Vier Soldaten in den goldpolierten Rüstungen der fürstlichen Leibgarde traten ein. Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihren Brustplatten.
Ihr Anführer, ein Offizier, den Craymorus schon einige Male ins Gemach der Fürstin hatte gehen sehen, nickte ihm zu. Die anderen Soldaten sahen sich um. In ihren Blicken lagen Ekel und Ablehnung. Niemand suchte die Folterstätten freiwillig auf.
Was müssen sie nur von mir denken?, fragte er sich.
»Fürstin Syrah wünscht Euch zu sprechen«, sagte der Offizier; Craymorus fiel ein, dass er Rafal hieß.
Er zog die Riemen seiner Beinschienen fest. »Bitte sagt ihr, dass ich mich umziehe und sie aufsuchen werde.«
Rafal sah ihn an. »Sofort.«
Einer seiner Soldaten legte die Hand auf seinen Schwertknauf.
»Ja, natürlich«, sagte Craymorus. Er griff nach seinen Krücken. Eine rutschte ihm aus der Hand und fiel laut krachend auf den Steinboden.
Rafal hob sie auf und nahm ihm die andere aus der Hand. »Wir werden Euch tragen. Zu Eurer eigenen Sicherheit.«
Craymorus schwieg, als Hände nach ihm griffen und ihn hochhoben. Der Blick des Nachtschatten folgte ihm, bis der letzte Soldat die Tür schloss.
Die Soldaten hatten Craymorus vor der Tür, die zu den Gemächern der Fürstin führte, abgesetzt. Rafal war im Inneren verschwunden. Craymorus hörte seine dumpfe Stimme, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde.
Er war so nervös, dass er zusammenzuckte, als die Tür geöffnet wurde. »Sie erwartet Euch«, sagte Rafal und gab den Weg frei.
Craymorus zog sich an ihm vorbei in den Raum, der jenseits der Tür lag. Der Offizier blieb einen Moment im Türrahmen stehen, so als wolle er seine Herrin nicht verlassen, dann schloss er die Tür von außen.
Craymorus war noch nie in Fürstin Syrahs Gemächern gewesen, dafür hatte es auch keinen Grund gegeben. Er hatte auch nie bewusst darüber nachgedacht, wie sie wohl leben mochte, trotzdem überraschte es ihn, dass er in einem Raum stand, der fast ein Spiegelbild seines eigenen zu sein schien. Sogar die Jagdszenen auf den Wandteppichen wirkten vertraut.
Es gab ein Bett, das hinter einem halb durchsichtigen Vorhang verborgen war, einen Tisch mit einer Weinkaraffe, Kelchen und einem Obstteller, Stühle, Sessel und Wandregale, in denen sich nichts außer ein paar leeren Schalen befand. Im Gegensatz zu Craymorus' Raum gab es noch eine zweite Tür neben dem Bett. Er wusste nicht, wohin sie führte.
Fürstin Syrah stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster. Sie hatte die festliche Kleidung gegen eine einfache Robe mit Pelzkragen getauscht. Es war immer kühl in der Festung, egal, wie warm es draußen war.
Craymorus wartete. Es gehörte sich nicht, die Fürstin anzusprechen, bevor man selbst angesprochen worden war. Sein linkes Bein zitterte, drohte einzuknicken. Er hatte die Riemen der Schienen nicht fest genug angezogen. Sein Knie fand keinen Halt und schlug rhythmisch gegen die Scharniere. Die Metallstangen klirrten. Es klang wie die Ketten eines Gefangenen.
»Was willst du?«
Fürstin Syrah drehte sich nicht zu ihm um. Sie benutzte die alte Hochsprache, um ihn nicht mit dem Du eines Dieners oder eines Vertrauten anzusprechen, sondern mit dem eines Verbündeten, den man verabscheut, gegen den man jedoch nichts unternehmen kann.
Sie weiß es, dachte Craymorus. Er fragte sich, was er antworten solle, aber Syrah kam ihm zuvor. »Du hast uns alle getäuscht – Rickard, Balderick, mich, sogar Cascyr. Der schüchterne Krüppel, der loyale Freund, der junge Gelehrte. Und dann …«
Ihre Stimme brach, ein kurzer Moment der Schwäche. Sie räusperte sich. »Sag mir«, fuhr sie fort, »wie hast du die … wie hast du dieses Ding am Leben gehalten? Alles Menschliche war ihm genommen, aber es lebte, bis es seine Botschaft überbracht hatte. Wie? Magie?«
»Ich habe …«
… keine Ahnung, wovon Ihr redet, wollte Craymorus sagen, doch die Fürstin ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich will es nicht wissen. Nur eines: Ist sie wohlauf?«
Sie musste nicht sagen, wen sie meinte. Craymorus wusste es auch so. »Ja«, sagte er, »das ist sie.«
Er sah, wie sich ihre Schultern hoben, so als wäre ein Gewicht von ihnen genommen. Syrah drehte sich um. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen kalt und grau wie der Stein der Wände.
»Also was willst du, Krüppel?«, fragte sie erneut. Ihre Wortwahl war neutral, das Wort »Krüppel« keine Beleidigung, sondern eine Tatsache.
Craymorus' Knie schlug dennoch heftiger gegen die Scharniere, ein plötzlicher Krampf krümmte seinen Fuß zusammen. Er presste die Lippen aufeinander, kämpfte gegen den Schmerz an. Sein Blick blieb an Fürstin Syrahs dünnen, blutleeren Lippen hängen, an den winzigen Falten in ihren Mundwinkeln.
Sie lächelte. Sie lächelte, um ihm zu zeigen, dass sie den Schmerz sah, dass sie wusste, dass er ein Leben lang ein Krüppel bleiben würde, egal, was er auch von ihr erpresste und erzwang. Es lag kein Hass in diesem Lächeln, denn sie sah nichts in ihm, was Hass wert gewesen wäre, nur Abscheu und Verachtung.
Du wirst mich hassen, dachte Craymorus durch den grellen, dröhnenden Schmerz. Das Zucken seines Beins, die Krämpfe, das Quietschen der Scharniere und das Klirren des Metalls waren wie ein Schrei, der in seiner Kehle steckte und nicht hinauskonnte.
Als er ihn schließlich freiließ, tat er es auf die einzige Weise, die ihm blieb.
»Ich will, dass du mich heiratest«, stieß er hervor.
Sein Bein knickte ein, die Krücken rutschten über den Stein. Mit dem Rücken prallte er gegen die Wand, rutschte an ihr nach unten, bis er atemlos auf dem Boden saß. Die Krämpfe lösten sich, die Schmerzen verschwanden.
Er blinzelte Tränen aus seinen Augen und sah zu Syrah empor. Ihr Gesicht war starr, das Lächeln das einer Maske.
»Ich verstehe«, sagte sie. Der Hass in ihrer Stimme war eine kühle Brise auf Craymorus' Gesicht.