Kapitel 20

 

Von den Wachtürmen der prächtigen Königsfestung in den Hügeln über Srzanizar genießt man die Aussicht auf die zahlreichen Tempel der Stadt. Der größte ist der Göttin der Diebe gewidmet, was niemanden überraschen sollte.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

Ana folgte Erys durch das Gewirr der Gassen. Die Angst vor den Nachtschatten trieb sie an, verdrängte den Gedanken an Jonan. Es herrschte keine Panik in den Gassen, die sie durchquerten, nur ab und zu trafen sie auf Menschen. Ana wollte sie warnen, aber sie waren zu weit entfernt, zumindest sagte sie sich das.

Erys schwieg, blieb aber manchmal stehen und sah nach Norden, wo roter Feuerschein einen neuen, fremden Morgen schuf. Das Tuch vor ihrem Gesicht verbarg jedes Gefühl.

Nach einer Weile verließen sie die kleinen Gassen und bogen nach rechts in eine Straße ab, die gepflastert und breit genug für zwei Karren war. Unbeflaggte Fahnenmasten säumten den Weg. Rechts und links standen große, halb verfallene Hütten in gleichmäßigen Abständen nebeneinander.

Dort hinten ist die Kaserne, dachte Ana.

Sie erreichten den Platz. Das Dach der Kaserne war eingestürzt. Ein Wachturm hatte es durchschlagen, und das Stadttor stand offen.

»Wo sind die Soldaten?«, fragte Ana.

Erys sah sich um, bevor sie antwortete, und Ana hörte den Stolz in ihrer Stimme. »Wir haben gesiegt, die meisten der Soldaten sind tot, der Rest hat sich ergeben.«

Zwei Frauen mit Tüchern vor den Gesichtern standen am Tor Wache. Sie nickten Erys zu, als sie an ihnen vorbeiging. Eine verbeugte sich vor Ana, die andere ignorierte sie. Der Ewige Gardist stand an der Mauer. Als Erys näher kam, trat er heran und folgte ihr. Sie musste ihm befohlen haben zurückzubleiben.

Fackeln erhellten den Platz. Im Staub lagen Leichen in den Uniformen der Stadtwache. Erys' Banditinnen durchsuchten sie, packten Münzen, Schmuck und Stiefel in Säcke, Waffen in Kisten. Pferde standen gesattelt vor der Kaserne. Ana hörte lautes Klirren, dann traten Männer aus dem Eingang. Sie waren nackt, einige blutverschmiert. Man hatte sie an Händen und Füßen zusammengekettet. Die überlebenden Soldaten.

Banditinnen mit den Gesichtstüchern der Todesmasken führten sie zu zwei vergitterten Ochsenkarren. Wahrscheinlich dienten sie den Stadtwachen zum Gefangenentransport. Nun sollten sie selbst darin weggeschafft werden. Eine rundliche Banditin namens Klarie, die sie von der Küchenarbeit kannte, löste sich aus der Gruppe und ging Erys und ihr entgegen. »Das sind alle Überlebenden«, sagte sie leise. »Es sind fast ein Dutzend. Wir wollten sie in unser Quartier bringen, bis du entscheidest, was mit ihnen geschehen soll.«

Erys schüttelte den Kopf. »Nein, wir werden sie zum Hafen schaffen, zu den Fährschiffen. Lauf mit zwei anderen zum Quartier und sag Purro Bescheid. Helft ihm, die Sklaven ebenfalls zum Hafen zu schaffen. Wir treffen uns dort.«

Klarie schaute die Anführerin der Todesmasken erstaunt an. »Wir verschwinden von hier?«

Erys nickte. »Ja, und zwar so schnell wie möglich.« Sie sah nach Norden, aber Bäume verdeckten den Himmel. »Beeilt euch.«

»Wie du wünschst.« Klarie wollte sich abwenden, blieb dann jedoch stehen. »Warum?«

Ana hielt es nicht mehr aus. »Weil die Nachtschatten die Stadt niederbrennen! Wir müssen hier weg!«

Klarie stieß ein Keuchen unter dem Gesichtstuch hervor. »Ist das wahr?«

»Ja.« Erys winkte bereits eine andere Todesmaske zu sich. »Geh jetzt.«

Klarie ging zu einem der Pferde. Ana hätte sie am liebsten getreten, so langsam bewegte sie sich. Begriff sie denn nicht, dass der Tod in die Stadt kam?

»Sind die Karren fertig beladen?«, hörte sie Erys fragen.

»Ja«, sagte die Banditin, die ihr gegenüberstand.

»Gut. Wir brechen sofort auf. Es geht zum Hafen, dort treffen wir uns mit Purro und den anderen und schnappen uns eins der Flussschiffe. Wer reiten kann, nimmt sich ein Pferd, eine Armbrust und einen Speer, der Rest Schwerter anstatt Speere.«

Die Banditin zögerte einen Moment. Ana öffnete den Mund, um sie zur Eile anzutreiben, aber da sagte die Todesmaske bereits: »Was ist mit unseren Toten?«

»Sie bleiben hier. Lange werden sie nicht allein sein.« Erys sah erneut nach Norden. Ana spürte einen Stich im Magen, als sie bemerkte, dass man den Feuerschein bereits über den Bäumen ausmachen konnte. »Beeilt euch!«

»Ja, Erys.« Die Frau lief zurück zu den Karren.

Erys wandte sich an Ana. »Mach dir keine Sorgen. Die Nachtschatten kennen sich hier nicht aus. Sie werden länger zum Hafen brauchen als wir.«

»Ich hoffe es.« Ana zog ihr Gesichtstuch zurecht. Um sie herum saßen die Frauen auf. Zwei nahmen die Zügel der Ochsen in die Hand und zogen sie auf das Tor zu. Die Tiere muhten und setzten sich langsam in Bewegung. Niemand sagte etwas. Selbst die Soldaten in den Käfigen waren ruhig.

Ana nahm sich einen alten Hengst. Sein Maul war vernarbt, sein Blick stumpf; er reagierte nicht, als Ana ihm über die Mähne strich und die Zügel in die Hand nahm. Zusammen mit Erys reihte sie sich in die Gruppe der Todesmasken ein. Vier ritten vor den Karren, die anderen ritten oder gingen dahinter her. Am Ende der breiten Straße bogen sie links in eine Gasse ein, die den Berg hinunterführte.

Eine alte Frau, die auf einem Hüttendach hockte, sah sie und lachte meckernd wie eine Ziege.

»Geschieht euch recht!«, rief sie den Männern im Käfig zu. »Habt uns lang genug ausgepresst!«

»Ich schlag dir das Lachen aus dem Gesicht, Hexe!«, rief einer der Soldaten zurück. Er hatte kurz geschorene blonde Haare und einen muskulösen Körper. Sein Kopf stieß gegen die Eisenstangen des Käfigs, als er sich aufzurichten versuchte. »Warte nur ab!«

Die alte Frau machte eine Geste, die Ana unter ihrem Gesichtstuch erröten ließ, und der Soldat antwortete mit einem Wort, das sie noch nie gehört hatte, und trat wütend gegen die Gitterstäbe.

»Ihr wollt zum Hafen?«, fragte die alte Frau. »Auf eines der Fährschiffe?«

Ana hätte beinahe geantwortet, schwieg dann aber. Auch die anderen ignorierten die Frage.

Der Blick der alten Frau glitt über die Karren, die Säcke und die Kisten voller Waffen. »Schafft ihr das alles auf ein Schiff?« Die Schadenfreude in ihrer Stimme war in Misstrauen umgeschlagen.

Ana ritt mit gesenktem Kopf an der Hütte vorbei. Sie wagte es nicht, nach oben zu sehen.

»Ihr haut ab, oder? Ihr lasst uns allein. Warum?« Die alte Frau folgte ihnen über die Dächer, so als ginge sie eine Treppe mit breiten Stufen hinunter.

Menschen auf der Straße hoben die Köpfe. Einige sahen sich um. Ein betrunkener Nachtschwärmer schrie: »Was brüllst du hier rum, Alte?«

Sie winkte ab und blieb stehen. Erleichtert bemerkte Ana die schmale Gasse zwischen zwei Hütten. Die alte Frau würde es nicht wagen, darüber hinwegzuspringen.

»Ist es wegen des Feuers?«, hörte sie ihre Stimme. »Ist es schlimmer, als es aussieht? Wird die ganze Stadt brennen? Flieht ihr deswegen?«

Die alte Frau blieb hinter ihnen zurück, schrie ihre Fragen immer lauter. Ihr Gebrüll lockte die Menschen aus den Hütten, andere kletterten auf Dächer und sahen nach Norden. Wie der Rauch eines Feuers breitete sich Angst hinter Ana aus.

Obwohl sie erst am Hafen verabredet waren, stieß Klarie, die Erys zum Quartier ihrer Bande geschickt hatte, zu ihnen. Sie saß auf dem Bock eines Karrens, dessen Ladefläche ebenfalls vergittert war, so wie die Gefängniskarren der Stadtwachen, nur dass dessen Gitter nicht aus Eisen, sondern aus Bambus waren.

Nungo'was, Merie und die anderen hockten in dem Käfig. Hetie, Marta und Purro sah sie nicht, und es fehlte auch eine der Todesmasken, die Klarie begleitet hatten.

Erys hatte ihr Pferd gestoppt, besah sich die zwei Karren und sagte dann zu Klarie: »Wo sind Purro und Ellian?« Offenbar war Ellian die fehlende Todesmaske.

»Diese grauhaarige Furie – Marta heißt sie, glaub ich – hat sich und ihre Tochter in der Zelle angebunden und tobt wie eine Wilde«, berichtete Klarie. »Purro und Ellian wollen sie zum Hafen bringen, wenn sie sich etwas beruhigt haben.«

»Narren.« Erys schüttelte voller Unverständnis den Kopf. »Wir werden nicht auf sie warten.«

Das war alles, was sie sagte. Es lagen weder Sorge noch Zorn in ihrer Stimme. Purro und Ellian waren ihrer Anweisung nicht gefolgt und hatten damit ihr Schicksal selbst besiegelt. Es schien sie nicht weiter zu kümmern, was mit ihnen geschah.

Ana war sich sicher, dass Purro viel für Erys empfand. Erys aber schien ein Herz aus Stein zu haben.

Der Tross setzte seinen Weg zum Hafen fort. Immer mehr Menschen verließen die Hütten, und Panik machte sich breit. Die Todesmasken kamen nur noch langsam voran. Ängstliche Rufe waren zu hören:

»Das Feuer greift über!«

»Die Stadt brennt!«

»Die Todesmasken fliehen!«

Ana beugte sich im Sattel zu Erys hinüber. »Wir sollten die Karren zurücklassen«, sagte sie leise. »Sie halten uns nur auf.«

»Nein. Die Gefangenen werden wir gegen gute Rüstung und Bewaffnung eintauschen.«

Deshalb also hatte sie die überlebenden Soldaten der Stadtwache mitgenommen. Wie die anderen Gefangenen sollten sie ihr gutes Geld bringen.

»Du solltest Wert auf das Aussehen deiner Eskorte legen«, fügte Erys hinzu.

Ich lege Wert auf mein Leben, wollte Ana erwidern, schwieg jedoch. Ein paar Männer liefen an ihnen vorbei, um die Stadt Hals über Kopf zu verlassen. Am liebsten hätte sie sich ihnen angeschlossen, hätte die Karren, die Angst und den roten Himmel hinter sich gelassen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Erys.

Sie nickte, aber ihr Blick folgte den Männern. Sie stellte sich vor, wie sie aus der Gruppe ausscherte, ihrem alten Pferd die Fersen in die Flanken rammte und über das Kopfsteinpflaster zum Hafen galoppierte Ihre Hände schlossen sich fest um die Zügel. Ihr Mund wurde trocken. Der Drang zur Flucht war beinahe übermenschlich.

Du solltest Wert auf das Aussehen deiner Eskorte legen. Erys' Worte hallten in ihr nach, berührten etwas in ihr, brachten sie dazu, die Zügel lockerer zu fassen und sich dem Rhythmus der Gruppe hinter den Karren anzupassen. Die Furcht blieb, aber etwas anderes kam hinzu, das sie nicht genau bestimmen konnte.

Verantwortung, dachte sie, Stolz. Erys hatte ihr Untertanen gebracht, und eine Fürstin verließ ihre Untertanen nicht.

»Du wirst das alles lernen«, sagte Erys. Sie schien Anas Gedanken erraten zu haben. »Ich werde dir dabei helfen.«

Schweigend ritten sie weiter und näherten sich dem Großen Fluss. Nach und nach wurde es eng auf dem Weg. Als sie das Ende des Hügels erreichten und in eine der breiten Gassen, die zum Hafen führten, abbiegen wollten, blieben die Karren stehen.

Ein Strom von Menschen schob sich an ihnen vorbei. Die meisten trugen Säcke und Kisten, schoben Handkarren mit Möbeln oder Kranken vor sich her. Wer nichts trug, hatte die Arme vor dem Körper angewinkelt, um ein wenig Platz zwischen sich und dem Rücken der Person zu schaffen, die vor ihm ging.

Es wurde kaum gesprochen. Nur ab und zu rief jemand einen Namen oder fluchte. Einige Kinder weinten.

Ana sah keine Verletzten. Sie fragte sich, ob die Menschen nur vor dem Feuer flohen und gar nichts von den Nachtschatten ahnten.

Die beiden Todesmasken, die vor dem Karren ritten, drehten sich in ihren Sätteln um und breiteten die Arme in einer hilflosen Geste aus. Mit den Karren konnten sie sich nicht in den Strom der Flüchtlinge einreihen, ohne Menschen niederzutrampeln.

Neben Ana antwortete Erys ihnen mit einigen knappen Handzeichen. Die Frauen zögerten einen Moment, dann nickten sie und griffen nach den Speeren, die sie in Schlaufen auf dem Rücken trugen. Ihre Pferde wieherten, als sie von Fersentritten in die Menge getrieben wurden.

Menschen wichen zurück, wurden von den Nachkommenden wieder nach vorn gedrängt. Schreie, eher wütend als verängstigt, brandeten in der Gasse auf wie ein plötzlicher Wind.

Mit den stumpfen Enden ihrer Speere trieben die Reiterinnen die Menge zurück. Die Gefangenen richteten sich in ihren Käfigen auf, soweit es ging, legten die Köpfe schräg, um sehen zu können, was sich vor ihnen abspielte.

»Trampelt das Pack nieder!«, brüllte ein dicker nackter Mann mit Backenbart. Er hatte die Hände so fest um eine Käfigstange gelegt, dass es aussah, als wolle er sie erwürgen.

»Genau!«, schrie einer der Stadtwachen. »Stecht sie ab, wenn sie nicht weichen wollen!«

Sie schienen vergessen zu haben, dass sie Gefangene waren, dass die Bande der Todesmasken sie in die Sklaverei führen würde. Für diesen einen Moment standen sie alle auf einer Seite.

Die Karren setzten sich wieder in Bewegung, nutzten die Lücke, die Pferde und Speere geschaffen hatten. Ana folgte ihnen an Erys' Seite. Ihr Blick glitt über verkniffene Gesichter und Augen, in denen Wut und Angst flackerten. Wenn die Todesmasken eines Tages zurückkehrten, würde man sie in Srzanizar wohl kaum willkommen heißen.

Vor Ana trieben die Reiterinnen die Menge weiter auseinander, schufen Freiräume, in die die Karren hineinglitten wie Boote ins Wasser. Und dann endlich sah sie den Hafen. Er lag hinter einer Reihe hölzerner Warenlager. Fackeln erhellten Stege, die sich weit in den Fluss schoben. Sie waren voller Menschen. Fischerboote stießen sich davon ab und führen an im Wasser treibenden Stühlen vorbei auf den Großen Fluss hinaus. Ana sah eine Kuh, die dem Ufer entgegenschwamm, und Händler, die auf Fässern stehend Plätze auf den Fährschiffen anboten.

Trotz des Einsatzes der Speere kamen die Ochsenkarren mit den Gefangenen kaum noch weiter. Die Reiterinnen drückten die Flüchtlinge mit den Körpern ihrer Pferde zur Seite, doch auch das half kaum. Ana stellte sich in den Steigbügeln auf und sah über die wogende Menge hinweg zu den Fähren. Es handelte sich um ein halbes Dutzend mehrstöckiger Schiffe. Die Fahnen, die von ihren Masten wehten, zeigten an, welche Städte sie anliefen. Ana erkannte die Farben Westfalls und die von Charbont.

In quälender Langsamkeit näherten sie sich den Flussschiffen. Immer wieder richtete sich Ana im Sattel auf. Das Mondlicht reichte aus, um zu erkennen, wie voll die Schiffe bereits waren, und es wurden immer mehr Waren und Menschen darauf verladen.

Ana blickte zurück. Der Wind wehte schwarzen Rauch in die Stadt. Feuerschein ließ das Licht der Sterne verlöschen. Flammen tanzten auf den Dächern. Sie wirkten tollkühn, lustvoll, lebendig.

Ana schüttelte den Gedanken ab.

»Es gibt nicht mehr genug Platz.«

Das Gerücht tauchte plötzlich und von allen Seiten auf. Die Menge geriet in Bewegung, wogte von den Warenlagern zu den Stegen und wieder zurück. Anas Pferd strauchelte, als es gegen eine liegen gebliebene Kiste trat. Ana krallte sich in seine Mähne, um nicht den Halt zu verlieren. Erys fasste sie am Arm und zog sie zurück in den Sattel.

Sie wirkte angespannt, drehte ständig den Kopf und hob das Kinn, so als lausche sie auf etwas. Vielleicht, dachte Ana, wartete sie auf Purro, Hetie und die anderen.

Ana war weniger als einen Steinwurf von den Schiffen entfernt, als sich ein neues Geräusch in das Keuchen, Fluchen und Rufen der Menge mischte. Es schien von weit weg zu kommen und klang wie das Summen großer Insekten, Wespen oder Hornissen.

Auch andere hörten es und sahen sich um. Ana konnte nicht erkennen, woher es kam. Die Hügel verzerrten es zu sehr. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie die Handzeichen, die Erys den Frauen hinter ihr gab. Sie schlossen auf, stießen die Flüchtlinge mit den stumpfen Speerenden zur Seite, bis sie mit Ana auf einer Höhe waren.

Wie Leibwächter, dachte sie.

Das Geräusch wurde lauter, klarer. Die Banditinnen neben Ana drehten ihre Speere um. Das Licht der Fackeln brach sich in den Metallspitzen. Im gleichen Moment schälten sich einzelne Laute aus dem Summen heraus.

Schreie. Irgendwo in den Gassen schrien Menschen in Todesangst. Die Menge am Hafen nahm den Schrei auf, drängte in plötzlicher Panik den Stegen entgegen. Holz splitterte, Karren fielen um, Anas Pferd scheute und tänzelte zur Seite. Eine Frau stürzte. Einen Moment lang sah Ana ihre blonden Haaren zwischen den Beinen der Flüchtenden, dann war sie verschwunden.

Panik raubte der Menge den Verstand. Blindlings schob sie sich den Stegen entgegen. Sie begrub Kinder und Ziegen unter sich, zermalmte Holz, Ton und Knochen. Geländer barsten, Menschen stürzten neben den Stegen ins Wasser, wurden von den Nachfolgenden niedergedrückt und ertranken. Über die Schreie hinweg hörte Ana das Muhen einer Kuh. Das Tier trat um sich. Seine Hufe trafen Köpfe. Seine langen blutverschmierten Hörner spießten Menschen auf und schleuderten sie zur Seite. Die Flüchtenden, die dem Tier entgegengeschoben wurden, schrien und stemmten sich gegen die hinter ihnen drängenden, doch sie konnten nichts ausrichten. Sie fielen unter Hufen und Hörnern, bis die Kuh auf ihren Leichen ausrutschte und selbst Opfer der Menge wurde.

»Zu den Fährschiffen!«, schrie Erys plötzlich. »Nehmt den ersten Kahn!«

Es schien sie nicht mehr zu interessieren, wer sie hörte. Doch die Todesmasken zögerten. Mit den Speeren in der Hand saßen sie auf ihren Pferden.

Erys drängte ihr Pferd an Ana vorbei. Sie entriss einer Banditin den Speer und stieß ihn einem Mann in den Rücken. Er verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.

»Los!«

Ihr Ruf riss die Frauen aus ihrer Erstarrung. Einige hoben ihre Speere, diejenigen, die an den Karren hingen, ihre Schwerter. Vorsichtig, so als wollten sie niemanden verletzen, drückten sie mit den Klingen gegen die Körper, die sie umgaben. Eine junge Frau fuhr herum und wollte mit wütenden Schreien auf eines der Pferde einschlagen; sie fiel förmlich in den Speer hinein. Die Maskierte musste mit dem Fuß gegen ihre Brust treten, um ihn frei zu bekommen. Als die Frau unter den Pferdehufen verschwand, stach die Banditin bereits auf den nächsten ein. Die anderen schlossen zu ihr auf, bildeten eine Reihe wie Soldaten und töteten sich den Weg frei.

»Schützt die Fürstin!«

Erst als Pferdeleiber sie auf beiden Seiten einrahmten, begriff Ana, dass Erys von ihr gesprochen hatte.

Langsam setzte sich der Karren in Bewegung. Ana hörte, wie die Hufe und Holzräder Körper zermalmten, sah, wie Menschen aufgespießt und aufgeschlitzt wurden. Sie wollte sich die Hände auf die Ohren pressen und die Augen schließen, aber sie widerstand dem Drang.

Ich bin ihre Fürstin, dachte sie. Meine Schwäche ist ihre Schwäche.

Nur wenige sahen, was die Todesmasken taten. Ihre Rufe verhallten unbeachtet. In dieser Menge war jeder allein. Als der Wind drehte und den Rauch von den Hügeln über den Hafen wehte, sah Ana die Flussschiffe bereits vor sich. Die Fahne Charbonts wehte über dem ersten. Es lag tief im Wasser. Hunderte standen an Deck, einige waren sogar auf einen der zwei Masten geklettert. Und immer mehr Menschen kamen über Leitern und Planken an Deck, sprangen von den Stegen ins Wasser und zogen sich an den Ankerketten empor. Matrosen versuchten eine Planke einzuholen, aber die Menge drängte sie zurück.

Erys richtete sich im Sattel auf. »Das ist unser Schiff. Holt es euch!«

Ana sah sie an. Rauch wehte an ihnen vorbei auf das Wasser. »Es fährt nach Charbont.«

»Es fährt, wohin wir wollen.« Erys legte mit der Armbrust an und erschoss einen Mann, der am Anker emporkletterte. »Sobald wir dafür gesorgt haben, dass es überhaupt fährt.«

Die Schwertkämpferinnen sprangen von den Karren und liefen über die Planken an Bord. Ihre Klingen schienen zu Sensen zu werden, die Menschen vor ihnen zu Gras. Erys' Pfeile trafen die, die sich auf die Masten flüchteten. Die meisten sprangen jedoch ins Wasser und schwammen dem zweiten Schiff entgegen. Ana sah ihnen nach. Einige hatten die Ankerketten bereits erreicht und zogen sich an ihnen hoch. Fässer und Kisten trafen sie, warfen sie in den Fluss zurück. An der Reling standen Menschen mit weiteren Wurfgeschossen in den Händen. Leichen, in denen Pfeile steckten, trieben mit dem Gesicht nach unten neben dem Schiff.

Sie tun, was wir tun, dachte Ana. Der Gedanke beruhigte sie nicht.

Die Ochsenkarren fuhren über sich biegende Planken an Bord, Ana und die Reiterinnen folgten ihnen. Es waren immer noch Menschen an Bord. Sie drängten sich in einer Ecke zusammen, aber die Todesmasken ließen sie in Ruhe, kappten nur die Taue und stießen die Planken von der Reling.

Erys sprang vom Pferd und nickte einem Matrosen zu. »Ablegen!«, befahl sie.

»Sofort.« Er wirkte erleichtert.

Ana blieb auf ihrem Pferd sitzen und sah zurück zum Ufer, zu den Stegen voller Menschen und dem Hafen, über dem die Feuer loderten.

»Was ist mit Hetie und Purro und den anderen?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

Erys hob den Kopf. Etwas schimmerte in ihren Augen. Ana wusste nicht, ob es Tränen waren.

»Sie werden sterben«, sagte sie und wandte sich ab.

Mit langen Stangen stemmten sich die Matrosen gegen den Steg. Unter Deck wurden Befehle gebrüllt, dann klatschten Ruder ins Wasser, und das Schiff setzte sich knarrend in Bewegung. Ein paar Flüchtlinge sprangen ins Wasser und versuchten sich an den Rudern festzuhalten, aber die Pfeile der Todesmasken trieben sie zurück.

Flüche und Schreie folgten dem Schiff, als es sich drehte und langsam die Bucht verließ.

»Wartet ihr auf uns?«, rief ein Matrose vom Deck des Schiffes, über dem die Fahne Westfalls wehte.

»Nein!«, antwortete der Steuermann ihres Schiffs. Erys stand neben ihm am Heck, einen Fuß auf die Reling gestellt, die Armbrust auf dem Oberschenkel liegend. »Keine Zeit!«

»Wie du meinst.« Der Matrose schüttelte den Kopf und winkte seinem Steuermann zu. »Sie warten nicht!«, rief er.

»Das ist gefährlich«, sagte einer der nackten Männer im Käfig. »Wir sollten bei den anderen bleiben, falls uns Piraten angreifen.«

»Sieh dich doch um! Welcher Pirat wäre denn so blöd, uns anzugreifen?«, rief ein anderer. Ana glaubte, die Stimme des Manns zu erkennen, der sich mit der alten Frau angelegt hatte, aber sie drehte nicht den Kopf.

Vom Rücken ihres Pferdes sah sie etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit erregte, der Anblick von Uniformen auf dem Deck des anderen Schiffs. Ana kniff die Augen zusammen, als könnte sie so das Chaos aus Menschen, Tieren und Kisten durchdringen. Fast alle Passagiere des anderen Schiffs hielten sich an den Seiten auf, bewarfen Flüchtlinge mit Kisten und Fässern oder stachen mit Speeren nach ihnen. Ein paar kappten die Seile und zogen die Planken ein. Nur vier von ihnen waren uniformiert.

Ana zuckte zusammen, als sie Jonan zwischen ihnen sah. Er stand neben einem dicken, älteren Mann, der mit seinem Schwert auf etwas jenseits der Reling einschlug. Ein anderer Uniformierter, älter und dünner als er, bewarf Flüchtlinge, die über die Planken an Bord kommen wollten, mit Melonen. Saft und Fruchtfleisch bedeckten das Holz; wer nicht getroffen wurde und fiel, rutschte darauf aus. Es sah aus wie eines dieser Spiele, die auf Jahrmärkten gespielt wurden, aber weder der Werfer noch die Flüchtlinge lachten.

Es knatterte, als über Ana die Segel gehisst wurden. Wind bauschte den Stoff auf. Das Schiff beschleunigte. Ana sprang vom Pferd und lief an der Reling entlang zum Heck, versuchte so lange wie möglich in der Nähe des anderen Schiffs zu bleiben.

Es dauerte einen Moment, bis ihr Blick Jonan wiederfand. Sie entdeckte ihn im Ausguck des zweiten Mastes; er wandte ihr den Rücken zu, aber sie erkannte ihn trotzdem. In einer Hand hielt er einen Bogen, und neben ihm brannte eine Fackel in einer Halterung. Ana sah, wie er einen Pfeil in einen Eimer tunkte, ihn an der Fackel entzündete und abschoss. Brennend schlug der Pfeil in den Steg ein. Ein zweiter folgte, ein dritter, vierter, bis eine Wand aus Feuer die Flüchtenden von seinem Schiff trennte. Ein weiteres Mal legte er an, fuhr aber plötzlich herum. Ana sah die brennende Pfeilspitze und Jonans dunkle Augen dahinter. Sie war mehr als einen Steinwurf entfernt und der Großteil ihres Gesichts unter einem Tuch verborgen, aber sie wusste, dass auch er sie bemerkt und erkannt hatte.

Jonan ließ den Bogen sinken. Die Schiffe entfernten sich weiter voneinander. Er blickte über den Rand des Ausgucks hinweg, dachte vielleicht daran zu springen, wich dann jedoch wieder zurück. Die Passagiere und Matrosen verteidigten ihre Schiffe wie Burgherren bei einer Belagerung, ließen niemanden an Bord. Weiter und weiter trieben sie auseinander.

Jonans Gesicht verschwand in der Dunkelheit, aber Ana wandte den Blick nicht ab. Nach einem Moment sah sie schemenhaft, wie er den Bogen hob und den Brandpfeil hoch in die Luft schoss. Wie eine Sternschnuppe glitt er durch den Himmel. Sie sah nicht, wie er im Wasser versank.

»Was war denn das?«, fragte Erys. Ana hatte nicht bemerkt, dass sie an die Reling getreten war.

Ein Versprechen, dachte sie und sagte:

»Nichts.«

Hinter ihr verschwand Srzanizar im Rauch der Feuer, und Ana bemerkte plötzlich, dass sie zwar Chaos und Tod in dieser Nacht gesehen hatte, aber keinen einzigen Nachtschatten.

Die Stadt hatte sich selbst verzehrt.