Kapitel 12

 

In fast jedem Dorf in den Wäldern von Frakknor finden sich jede Menge Jäger und Gerber. Der Reisende kann gute Geschäfte mit ihnen tätigen, wenn ihm der Sinn danach steht, doch sollte er Vorsicht walten lassen, denn allzu oft wird er jenseits des Dorfs seine Waren an die verlieren, die einen ganz anderen Beruf ausüben als Jäger oder Gerber.

Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2

 

Sie gingen auf die Jagd.

Jeden Morgen, wenn Schwarzklaue erwachte, sah er die Schatten der Krieger über seine Zeltwände huschen, hörte ihre Stimmen und das Klirren der Waffen. Sie sprachen über die Fährten, die sie am Tag zuvor aufgenommen hatten, über Wildschweinrotten, Rehe und Hirsche. Über den Feind und den Krieg sprachen sie nur noch selten.

Und jeden Morgen wurden die Stimmen weniger. Er schätzte, dass mehr als fünfzig Krieger das Lager bereits verlassen hatten. Wohin sie verschwunden waren, wusste er nicht.

Ich hätte Korvellan nicht gehen lassen dürfen, dachte er, als er den Zelteingang zurückschlug und in die Morgensonne trat. In der Nacht zuvor hatte es endlich aufgehört zu regnen. Der Himmel war klar und blau. Nur zwischen den Bäumen hingen noch Nebelschwaden, die der Sonne langsam entgegenstiegen und sich auflösten.

»Begleitest du uns?«

Schwarzklaue sah zur Seite. Sommerwind hockte auf einem Baumstumpf und aß ein Stück Fleisch. Neben ihr auf einem Seerosenblatt lag ein gegrilltes Schweineohr. Sie brachte ihm jeden Morgen etwas zu essen, obwohl er seit Korvellans Abreise nicht mehr mit ihr geschlafen hatte.

»Es gibt kein Wild mehr«, sagte er. »Wir haben alles getötet, was sich in diesen Wäldern bewegte.«

Sie stand auf und reichte ihm das Schweineohr. Er biss hinein, ohne sich zu bedanken.

»Wolkenauge hat Spuren gefunden, weniger als einen halben Tagesmarsch entfernt. Er sagt, sie stammen von einem Bär.«

Schwarzklaue zerkaute Knorpel und schluckte ihn hinunter. »Ein Bär?«

»Niemand weiß etwas davon, nur Wolkenauge, du und ich.« Sommerwind lächelte. »Es ist ein Geheimnis.«

»Was für ein Bär?«

»Ein großer.«

Ein plötzlicher Windstoß hüllte ihn in eine Wolke aus Gestank. Schwarzklaue sah zum Fluss hinunter. Der Platz, auf dem das alte Lager gestanden hatte, war immer noch verschlammt. Möwen kreisten über aufgedunsenen Kadavern, Krähen hüpften durch den Morast. Die Krieger hatten mehr gejagt, als sie essen konnten, und das Wild, das nicht gebraucht wurde, einfach dort hingeworfen, wo sie ihre Notdurft verrichteten. Er sah die Geweihe von Hirschen, die Hufe von Rehen und borstiges, verdrecktes Wildschweinfell, aber keinen einzigen Bären.

»Wo ist Wolkenauge?«

»Er wartet am Bach auf uns.«

»Gut.« Er warf das Schweineohr zur Seite und ging zwischen den Zelten hindurch. Die meisten Nachtschatten standen gerade erst auf. Sie grüßten ihn, wenn er an ihnen vorbeiging, ein paar – Männer und Frauen aus dem Süden – salutierten sogar. Er grüßte die, die es wert waren, und ignorierte die anderen.

»Du hast deine Waffen vergessen«, sagte Sommerwind. Er ging so schnell, dass sie ihm kaum folgen konnte.

»Ich bin Schwarzklaue. Er ist ein Bär. Ich brauche keine Waffen.« Der Gedanke an den Kampf erregte ihn. Wenn sie den Bären fanden, würde er Wolkenauge bitten, ihm den Angriff zu überlassen.

Der Bach verlief östlich des Lagers durch den Wald, dessen Ende noch kein Nachtschatten entdeckt hatte. Am ersten Tag hatte Schwarzklaue so wie viele, die aus dem Norden kamen, unter den Bäumen gestanden und sich gefragt, wie es möglich war, dass etwas so grün sein konnte. Doch dann hatte er erkannt, dass er den Wald nicht mochte. Er war nicht wie das Eis, ehrlich und gleichgültig. Der Wald schien sich um die zu sorgen, die sich zwischen seinen mächtigen Stämmen befanden, und spannte sein Blätterdach zwischen sie und den Himmel. Aber es schützte nicht vor Regen, Kälte und den Pfeilen der Feinde, wie es eine Höhle im Eis tat. Der Wald täuschte Sicherheit vor, wo es keine gab.

»Woran denkst du?«, fragte Sommerwind.

Es war eine dumme Frage, also antwortete er nicht.

Sie ließen das Lager hinter sich und folgten dem Trampelpfad, den die Nachtschatten geschaffen hatten. Schwarzklaue hörte Stimmen und roch Wolkenauge, noch bevor er ihn sah. Er drehte sich zu Sommerwind um. »Ein Geheimnis, sagtest du?«

Er tauchte unter einem Ast hindurch und betrat die kleine Lichtung. Rund zwanzig Nachtschatten, die meisten in Lederrüstung und mit Schwertern und Speeren bewaffnet, standen am Bach und redeten miteinander. Wolkenauge hockte ein wenig abseits von ihnen am Boden und schärfte sein Messer mit einem Stein.

»Er ist hier«, sagte eine junge Frau, deren Namen Schwarzklaue nicht kannte. Sie sah ihn an. Aufregung ließ ihre Augen leuchten. »Wir haben auf dich gewartet.«

Der alte Jäger richtete sich auf. Seine Knie knackten, und er verzog das Gesicht. »Ich sagte ihnen, dass der Bär dir gehört. Sie wollen uns trotzdem begleiten.«

Schwarzklaue versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. »Dann lasst uns gehen.«

»Nach Osten«, sagte Wolkenauge. Er blieb ein Stück zurück, als die anderen losgingen, und blieb neben Schwarzklaue stehen. »Man hat mich wohl gesehen, als ich das Lager verließ. Ich könnte dafür sorgen, dass sie den Bären noch nicht einmal aus weiter Ferne zu Gesicht bekommen, wenn du das möchtest.«

»Nein. Finde ihn.«

Sommerwind legte ihm die Hand auf den Arm. »Willst du ihn wirklich teilen?«

»Du musst noch viel lernen.« Er zog seinen Arm weg und nickte Wolkenauge zu. »Finde ihn.«

Auf allen vieren folgte er dem Jäger. Sommerwind schloss sich ihm an, aber er ignorierte sie. Seit seinem Gespräch mit Korvellan interessierte sie ihn nicht mehr.

Die anderen Nachtschatten warteten, bis er und Wolkenauge an ihnen vorbeigelaufen waren, dann folgten sie ihnen. Aus den Augenwinkeln sah Schwarzklaue, dass die meisten ebenso wie er auf Händen und Füßen liefen. Ihre Waffen lagen von Riemen gehalten auf ihrem Rücken. Nur drei oder vier gingen aufrecht. Die Nase in der Luft, den Körper gestreckt, die Augen nach vorn gerichtet. So und nicht anders jagte ein Nachtschatten. Wer das nicht verstand, hatte nie wirklich gejagt.

Schwarzklaue sah, wie Bäume und Farne an ihm vorbeizogen. Er hörte das Atmen der Nachtschatten, das Knacken, mit dem Zweige unter ihren Klauen zerbrachen, das Knistern der Blätter, die ihre Körper streiften. Sie bewegten sich beinahe lautlos, Geister, zu dunkel für das Sonnenlicht, zu hell für die Schatten. Schwarzklaue hätte beinahe gelacht. Sogar der Wald wollte sie nicht.

Er spürte, dass etwas in ihm erwachte. Seine Sinne schärften sich, seine Gedanken wurden klarer, einfacher, sahen nur noch den Augenblick: einen Käfer in der Baumrinde, eine Blüte, die unter seiner Klaue zerdrückt wurde, einen Tautropfen, der an der Spitze eines Blatts hing.

Hinter Schwarzklaue brüllte ein Nachtschatten, dann ein anderer. Er grinste. Auch in ihnen erwachte es. Einige hatten vielleicht vergessen, was es bedeutete, ein Nachtschatten zu sein. Die Jagd brachte die Erinnerung zurück. Dafür lohnte es sich, einen Bären mit ihnen zu teilen.

Der Geruch traf ihn unerwartet, brachte seine Gedanken abrupt zum Stehen und versteifte seine Muskeln. Es war ein scharfer, stechender Gestank, so als habe man Pfeffer anbrennen lassen. Sie rochen stets so, egal, wo man sie antraf, egal, wie sie aussahen.

»Menschen«, sagte Schwarzklaue.

»Ein Mensch«, sagte Wolkenauge.

Niemand widersprach ihm. Die anderen Nachtschatten drängten sich um ihn. »Wo?«, fragte die Frau, die bereits Schwarzklaue angesprochen hatte.

»Keinen Steinwurf entfernt, Richtung Osten.« Wolkenauge stand auf und zog sein Schwert. Waffen klirrten, als die anderen seinem Beispiel folgten. Schwarzklaue blieb auf allen vieren, ebenso die Frau, wie er aus den Augenwinkeln sah. Sie war unbewaffnet und trug keine Rüstung.

Sie musste seinen Blick bemerkt haben, denn sie drehte den Kopf und grinste. »Auch im Süden versteht man zu jagen.«

»Wir werden sehen«, sagte er. Langsam ging er vor. Einige Schritte entfernt lichtete sich der Wald. Dahinter lag ein Weg, breit genug für eine Kutsche, aber zu schmal für eine der Handelsstraßen, die überall am Großen Fluss entlangführten. Wahrscheinlich verband er zwei Dörfer miteinander.

Schwarzklaue atmete den Geruch des Menschen ein. Er roch keine Furcht, also hatte er sie wohl noch nicht bemerkt. Er wollte weitergehen, aber Wolkenauge schüttelte den Kopf. »Etwas ist merkwürdig«, sagte er.

»Was?«

»Ich weiß es nicht. Etwas …« Wolkenauge kratzte sich am Hals. »Das ist wie beim Kochen. Etwas fehlt, aber ich kann dir nicht sagen, was. Gib mir etwas mehr Zeit.«

Schwarzklaue richtete sich auf. Er spürte, dass die Frau aus dem Süden ihn beobachtete. »Wenn ich seinen Kopf in der Hand halte, kannst du so viel an ihm riechen, wie du willst.« Zufrieden bemerkte er ihr Lächeln. »Aber dafür muss ich ihn erst einmal umbringen.«

Mit drei langen Schritten erreichte er den Weg. Die anderen folgten ihm. Fast alle hatten ihre Waffen gezogen. Schwarzklaue trat aus den Bäumen heraus und sah sich um. Der Weg durchschnitt den Wald wie eine Schwertklinge. Weder im Norden noch im Süden war sein Ende zu erkennen.

Der Mensch saß auf einigen Baumstämmen, die man am Wegesrand aufgeschichtet hatte, und eine halb verrostete Axt steckte in einem der Stämme. Die meisten Menschen waren geflohen, als sie von der Landung der Nachtschatten erfahren hatten.

Der Mann, der Schwarzklaue den Rücken zudrehte, war der erste, den er seit seiner Ankunft sah.

»Willst du meinen Namen wissen, damit du ihn deinem Gott entgegenschreien kannst, wenn er dich nach deinem Mörder fragt?«, fragte Schwarzklaue.

»Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird.«

Der Mann stand auf, sprang von den Baumstämmen und drehte sich um. Er war jung – Schwarzklaue blinzelte –, er war alt.

Auch das stimmte nicht. Das Gesicht des Menschen schien vor seinen Augen zu verschwimmen, so wie ein Fisch, den man durch die zugefrorene Oberfläche eines Sees betrachten wollte.

Der Mann lächelte. Es war ein freundliches, offenes Lächeln, das wusste Schwarzklaue, obwohl er es nicht genau sehen konnte. Er drehte kurz den Kopf, als die anderen Nachtschatten aus dem Wald hervorkamen. Sie hatten die Waffen erhoben.

Der Mann breitete die Arme aus. Er trug einen langen schwarzen Mantel, den er mit einem Strick zusammengebunden hatte, und war barfuß. »Ihr seid so viele, und ich bin ganz allein. Seht, ich habe noch nicht einmal eine Waffe. Würde es euch wirklich Freude bereiten, mich zu töten?«

»Was weiß ein Mensch schon über die Freuden von Nachtschatten?« Schwarzklaue knurrte, aber der Mann wich nicht zurück, sondern hob nur die Schultern.

»Ich weiß«, antwortete er, »dass es euch mehr Freude bereiten würde, mir zu folgen, als mich zu töten. Oder mögen Nachtschatten keine Geschenke?«

»Was für Geschenke?«, fragte die Frau aus dem Süden hinter Schwarzklaue.

»Kommt mit, und ihr werdet es erfahren.«

Einige Nachtschatten gingen zögernd auf ihn zu. Ihre Schwertspitzen zeigten zu Boden. Schwarzklaue drehte sich zu den anderen um. Wolkenauge hatte die Brauen zusammengezogen und den Kopf zur Seite geneigt. »Mir gefällt das nicht. Er riecht seltsam.«

Der Mann grinste. »Du würdest auch seltsam riechen, würdest du in den Kleidern eines Toten herumlaufen. Sie stinken, als ob er noch irgendwo hier drin wäre.« Er drehte die Taschen um und schüttelte den Kopf. »Hier ist er schon mal nicht.«

Schwarzklaue lachte, so wie die anderen Nachtschatten. Nur Wolkenauge, das fiel ihm auf, stimmte nicht mit ein.

»Du hast recht, Mensch«, sagte er. »Es würde uns wohl wirklich mehr Freude bereiten, dich für eine Weile am Leben zu lassen.«

»Dann wollt ihr mein Geschenk sehen?« Für einen Moment glaubte Schwarzklaue einen lauernden Unterton in der Stimme des Menschen zu vernehmen, doch dann sah er wieder nur sein offenes Lächeln.

Er nickte. »Zeig es uns. Aber vergiss nicht, dass du als Erster sterben wirst, wenn du uns in eine Falle führst.«

»Deine Sorge ist unberechtigt, mein Freund. Komm.« Er drehte sich um und ging an den Baumstämmen vorbei in den Wald hinein. Schwarzklaue folgte ihm. Die anderen Nachtschatten schlossen sich ihnen an.

Eine Weile gingen sie durch das Unterholz, dann führte der Mensch sie auf einen Trampelpfad. Er redete viel, erzählte Geschichten, die Schwarzklaue zum Lachen brachten und andere zum Weinen. Wolkenauge unterbrach ihn hin und wieder, um Fragen zu stellen, bis Schwarzklaue genug hatte und ihn anbrüllte, er solle schweigen. Danach unterbrach der alte Jäger den Menschen nicht mehr.

Irgendwann blieben sie stehen. »Es ist ja schon fast Abend«, sagte Sommerwind. Schwarzklaue sah überrascht zum Himmel. Tatsächlich hatten sich die Wolken rot gefärbt. Der Waldboden war so dunkel, dass man kaum noch etwas darauf erkennen konnte.

»Wir sind gleich da.« Der Mensch wechselte auf einen anderen Pfad, der aus dem Wald hinauszuführen schien. »Könnt ihr euer Geschenk schon riechen?«

Schwarzklaue zog die Luft ein. Er roch den Abend, ein paar Hasen und weit entfernt einen Bären. Vage erinnerte er sich daran, dass sie wegen dieses Bären am Morgen aufgebrochen waren, doch die Beute war bedeutungslos für ihn geworden.

Er schüttelte den Kopf. Nein, wollte er sagen, ich rieche nichts. Aber im gleichen Moment drehte sich der Wind. Ein neuer Geruch stach in seine Nase.

Er knurrte. Die anderen Nachtschatten zuckten zusammen, hatten es wohl ebenfalls gerochen.

»Menschen«, sagte Wolkenauge, bevor ein anderer etwas äußern konnte. »Viele Menschen. Sie sind nahe.«

Der Mann nickte. »Wie ich schon sagte: Wir sind fast da.«

Sie stiegen über einige umgefallene Bäume hinweg und folgten dem Pfad weiter. Ein neuer Geruch mischte sich in den der Menschen, überlagerte ihn beinahe.

»Sie scheißen in den Wald, genau wie wir«, sagte ein Nachtschatten hinter Schwarzklaue. Niemand antwortete ihm.

Der Wald lichtete sich. Irgendwo plätscherte ein Bach. Baumstümpfe ragten aus dem Boden, es gab kaum Unterholz. Schwarzklaue schob einige Äste beiseite und betrachtete die Lichtung, die sich vor ihm ausbreitete. Dutzende Zelte standen darauf. Pferde grasten auf einer Koppel.

Von Lagerfeuern stieg Rauch und der Geruch nach Fleisch auf.

»Wer sind sie?«, fragte Wolkenauge.

»Milizen«, sagte der Mensch.

Das Wort trieb Bilder durch Schwarzklaues Geist. Er hatte ihr Werk gesehen, die Gehäuteten, die Verstümmelten, die Verbrannten.

»Wie viele?«, fragte er. Hass ließ seine Stimme zittern.

»Genug.«

»Gut.« Schwarzklaue drehte sich zu den anderen Nachtschatten um. »Wir werden Ehre finden an diesem Abend.«

»Wartet«, sagte Wolkenauge. Er sah den Menschen an. »Warum verrätst du dein eigenes Volk? Das sind Menschen, so wie du.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, das sind sie nicht. Sie entehren jeden, der sich Mensch nennt. Ihr Tod wird uns vielleicht ein wenig von der Ehre zurückgeben, die wir durch sie verloren haben.«

»Eine gute Antwort.« Wolkenauge wirkte zufrieden. Der Mann neigte den Kopf, als wolle er sich verbeugen, und lächelte ein zahnloses Lächeln.

Schwarzklaue grub seine Klauen in die Erde. Etwas in seinem Inneren drängte ihn dem Kampf entgegen, warf sich gegen den Käfig, den seine Gedanken um es errichtet hatten.

»Willst du keine Waffe?«, fragte Sommerwind. Sie hielt ein Schwert in der Hand, das zu groß für sie wirkte.

»Die Toten werden mir Waffen geben.« Die Worte klangen fremd. Das Ding in seinem Inneren kannte keine Sprache.

Die Frau aus dem Süden lachte und lief auf die Lichtung. »Ich werde dafür sorgen, dass du eine gute Auswahl findest!«, rief sie.

Zwei Menschen, die ein totes Schaf zwischen sich trugen, drehten sich um. Einer von ihnen sagte etwas, das Schwarzklaue nicht verstand, dann ließen sie das Schaf fallen und rannten auf das Lager zu.

Das Etwas in Schwarzklaues Innerem zerschmetterte den Käfig, fegte seine Stangen und seine Gedanken hinweg. Schwarzklaue brüllte seinen Hass in die untergehende Sonne.

»Wenn sie fragen, wem sie das zu verdanken haben«, verlangte der zahnlose Mann hinter ihm, »dann nenn meinen Namen. Sag ihnen, Daneel war es. Daneel.«

 

 

Wie ein Wintersturm kam er über sie, und wie Schneeflocken stoben sie auseinander. Seine Klauen rissen Bäuche auf, zerfetzten Kehlen, brachen Knochen. Halbwüchsige schrien, alte Männer weinten, roter Regen verklebte Schwarzklaues Fell.

Auf einen Nachtschatten kamen zehn Menschen, aber sie waren trotzdem unterlegen. Kaum einer von ihnen wusste, was Kampf bedeutete. Sie hatten getötet, gekämpft hatten sie nie.

Wir haben Glück gehabt, dachte Schwarzklaue, als er schließlich schwer atmend zwischen den Leichen stehen blieb. Wenn hier Krieger gewesen wären und nicht nur alte Männer und Kinder, lägen wir jetzt in unserem Blut und nicht sie.

Schwarzklaue grinste. Korvellan hätte das Lager ausgespäht, Strategien erdacht und Einheiten gebildet. Niemals wäre er in das Lager gestürmt. Er schien vergessen zu haben, dass die Götter Mut belohnten. Beinahe hätte auch Schwarzklaue das vergessen.

Aber jetzt erinnere ich mich wieder.

Schwarzklaue hob den Kopf. Schwarzgrauer Rauch zog über das Lager, kleine Feuer flackerten am Boden. Es roch nach verbranntem Stoff, nach Blut und Fleisch.

Die Nachtschatten hatten die Zelte angezündet, in denen sich Menschen versteckt hatten, aber der feuchte Stoff brannte kaum. Die meisten waren wohl in den Zelten erstickt, bevor sie verbrannten.

Er drehte sich um, als er Schritte hinter sich hörte. Marya, die Frau aus dem Süden, blieb vor ihm stehen.

»Wir sind so weit«, sagte sie.

Schwarzklaue nickte und folgte ihr.

Am Rand des Lagers hatten die Nachtschatten Fackeln in einem Kreis aufgestellt. Darin lagen drei Nachtschatten, die Toten dieses Kampfes. Nachtschatten hatte ihre Körper mit Alkohol aus dem Lager überschüttet. Der Gestank überlagerte all das, was sie einmal gewesen waren.

Schwarzklaue trat in den Kreis. »Kennt jemand diese beiden?«

Eine junge Frau trat vor. Sie hinkte und stützte sich auf einen Speer. »Der linke ist mein Vater. Sein Name war Joro. In seinem Leben gab es drei Frauen und acht Kinder. Er lachte viel und …«, sie lächelte, »… er konnte Kühe mit einem einzigen Schlag töten.«

Schwarzklaue sah den Toten an. Jemand hatte ihm mit einem Knüppel oder Streitkolben das Gesicht zertrümmert. »Sieht so aus, als wäre Joros Tod seinem Leben angemessen gewesen. Erweist ihm euren Respekt, denn er starb aufrecht, seinen Feind vor Augen. Möge er nie wieder allein jagen.«

Einige Nachtschatten knieten neben dem Toten nieder, andere erhoben ihre Weinschläuche oder rieben ihr Gesicht mit Erde ein. Sie hatten ihr Menschsein vielleicht abgelegt, aber nicht ihre Religionen. Sie glaubten an die Flussgötter, die Vergangenen, die Ahnen oder die Sonne.

Es gibt keine gemeinsame Trauer, hatte Korvellan gesagt, als sie die Toten ihrer ersten Schlacht geehrt hatten. Heißt das, es gibt auch kein gemeinsames Glück?

Schwarzklaue hatte damals nicht verstanden, was er damit hatte sagen wollen, aber nun sah er die Nachtschatten einzeln neben dem Toten hocken, nicht zusammen, so wie sie es im Norden getan hätten.

Er ging zum zweiten Toten, einem Mann, in dessen Brust fast ein Dutzend Pfeile steckten. »Wer kennt ihn?«

Niemand antwortete. Einige hoben die Schultern. Schwarzklaue neigte den Kopf. »Er scheint gut gestorben zu sein. Möge er nie wieder allein jagen.«

Den dritten Toten starrte er lange an, bevor er etwas sagte. »Sein Name war Wolkenauge.« Schwarzklaue bemerkte, wie Daneel aus den Bäumen in den Kreis trat. Einige Nachtschatten sahen ihn verärgert an, aber er lächelte, und sie lächelten zurück.

»Wolkenauge«, wiederholte Schwarzklaue, »war ein Jäger und Krieger. Fast sein ganzes Leben hat er im Eis verbracht.«

Er sah den alten Jäger an. Jemand hatte ihm die Kehle von hinten aufgeschlitzt. »Feiert, was er dort tat. Feiert sein Leben, aber nicht seinen Tod, denn er starb wie ein Narr.«

Schwarzklaue wandte sich ab.

Die Nachtschatten warteten noch einen Moment, als wüssten sie nicht, was von ihnen erwartet wurde, dann zog Marya eine Fackel aus dem Boden und warf sie auf den ersten Toten. Der Alkohol verpuffte. Blaugrüne Flammen sprangen auf die anderen Leichen über. Ihr verbrennendes Fell knisterte.

»Mögen sie heute Nacht bei den Ahnen speisen«, sagte Marya.

»Hoffnung«, sagte ein anderer und trank einen Schluck aus seinem Weinschlauch.

Schwarzklaue blieb nicht bei ihnen. Er verließ den Kreis und blieb auf der Lichtung stehen, bis der Alkoholgestank verflogen war. Der Geruch des Menschenbluts, der Feuer und des Walds kehrte zurück – und ein anderer, der ihn herumfahren ließ.

Daneel war ihm gefolgt. Schwarzklaue packte ihn an den Schultern, war überrascht, wie dürr und leicht sich der Mensch anfühlte. »Wieso klebt Nachtschattenblut an dir? Was hast du getan?«

»Es ist unwichtig, was ich getan habe. Wichtig ist nur, was du tun wirst. Lass mich los.«

Schwarzklaue öffnete die Fäuste. Seine Klauen hatten Löcher in den dunklen Mantel gerissen. Er wollte sich dafür entschuldigen, aber Daneel ergriff seinen Arm und sagte: »Hat dir der Eisengeschmack des Bluts gefallen? Willst du noch mehr?«

Schwarzklaue spürte, dass Daneel zitterte. Er schien sich auf ihn zu stützen.

»Hast du gehört, was ich sagte?«

»Ja.« Schwarzklaue lächelte. »Menschenblut schmeckt nicht nach Eisen«, sagte er dann. »Es schmeckt golden, so als würden Münzen durch eure Adern rollen, so als wäre es etwas wert. Wusstest du das?«

»Nein.«

Schwarzklaue blickte zurück zu den brennenden Leichen. »Aber das Blut eines Nachtschatten, das schmeckt nach Erde und Himmel, verstehst du?«

»Nein.« Daneel wirkte ungeduldig. »Was soll …«

»Denkst du, dass die Erde und der Himmel so viel wert sind wie eine Stadt voller Gold?« Die Feuer brannten niedriger, fielen allmählich in sich zusammen. Die Silhouetten der Nachtschatten verschmolzen mit der Nacht.

»Für jeden Nachtschatten, der heute Nacht sein Leben ließ«, sagte Schwarzklaue, »wird eine Stadt brennen. Und für jeden, der bei der Vernichtung der Stadt stirbt, brennt eine weitere Stadt. Und so wird es weitergehen, bis sie aufhören, uns zu töten, oder bis die ganze Welt in Flammen steht.«

Er sah Daneel an. Sein Gesicht war eine Maske aus Dunkelheit. »Das werde ich tun.«

Daneel schwieg, aber mit seiner zitternden Hand tätschelte er Schwarzklaues Arm.