Der Stolz der Flotte

 

 

STS 001 Mission Capri : T minus 1:54:00 Stunden.

Ankunft der U.S.S. Darkness.

Status: Top Secret

 

Missions-Tag: 0 / Sonntag, 24. Mai 2093 / 7:48

Position: Erdorbit, Raumstation Columbus

Erd-Bevölkerung: 11.471.492.763 M

 

 

Absolute Stille. Unendliche Ferne. Sterne aller Größenordnungen bildeten den Hintergrund für das wohl bedeutsamste Ereignis der jüngeren Menschheitsgeschichte.

Da sich das 21. Jahrhundert bereits seinem Ende entgegenneigte, würde die Expansion der Menschheit in den Weltraum erst im kommenden Jahrhundert so richtig beginnen. Doch alle Starts in naher Zukunft würden gegenüben dem heutigen verblassen. Der erste interstellare Flug zu einem anderen Stern. Einer der vielen kleinen Lichtpunkte im großen W der Cassiopeia war ihr Ziel.

Sicher und geborgen näherte sich die Explorer kontinuierlich ihrer endgültigen Position. Schimmernd begannen plötzlich einige Sterne zu tanzen. Mehrere kleine Turbulenzen jagten durch den erdnahen Orbit, vorbei an einigen Außenposten auf die Raumstation zu, bis die klare Sicht von einer weiteren gewaltigeren Turbulenz vernebelt wurde.

Mehrere kleine Schiffe enttarnten sich und schwärmten aus. Es waren fünf Begleitjäger der X-Ray Phantomstaffel, jener Eliteeinheit, die der U.S.S. Darkness stets den Rücken sicherte. Was sonst immer im Verborgenen stattfand, sollte an diesem Tag anders sein. Heute rückte selbst die geheime Darkness in den Mittelpunkt.

Während die fünf sichtbaren X-Ray-Jäger für eine Pause an der Station andockten, blieben weitere fünf getarnt, um die Sicherheit zu gewährleisten. Für die Piloten war es ein Knochenjob, Stunden in den engen Cockpits ihrer Maschinen auszuharren und ständig den Raum zu überwachen.

„Hier Falke Two. Darkness hat soeben Korridor 030 passiert. Over.“

„Roger, Falke Two. STS 001, beziehen Sie Position in Korridor 035. Halten Sie ab jetzt Funkstille! Columbus Ende.“

Langsam wälzte sich die Darkness, versteckt hinter ihrem undurchsichtigen Schleier, ihrer Warteposition entgegen. Dann stoppte sie und die Turbulenz verschwand. Bewegungslos war sie in ihrem Tarnmodus praktisch unsichtbar und wartete auf den großen Moment der Enthüllung. Dann würde sie ihre kostbare Fracht vor den Augen der Welt offenbaren. Eine Sternenstunde, auch für die Besatzung der Darkness.

Mehr als 30 Abfangjäger befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Umfeld der Raumstation. Hinzu kamen 11 technische Nutz- und Forschungsschiffe, plus zwei Dutzend Wartungs- und Überwachungssatelliten. Es grenzte an ein Wunder, dass es zu keiner Kollision kam. Nie war die Verkehrsdichte im Orbit derart hoch gewesen. Noch nie zuvor hatten sich die Giganten der Raumfahrt am selben Ort versammelt. Und niemals zuvor hatte es so viele Premieren an einem Tag gegeben. Diese Konstellation war einmalig und ein Ereignis der Superlative.

 

STS 001 Mission Capri : T minus 1:06:00 Stunden.

24. Mai 2093. 8:36 Uhr   

Leises Zischen eines Druckausgleiches erfüllte die erste Sektion der Explorer. Im diffusen blauen Licht der Kryokammern schwebten diverse Objekte durch den Raum, die versehentlich vergessen worden waren. Die künstliche Gravitation gehörte zu den ersten Systemen, die aus Energieersparnis deaktiviert worden war. Hinter den ovalen Glastüren der Kryokammern, geschützt im zähflüssigen Gel, schlief die Besatzung fest im Kryoschlaf. Dem undurchsichtigen Gel war es zu verdanken, dass die Insassen in den entsprechenden Kammern nur sehr undeutlich und verzerrt zu erkennen waren.

Einige Sekunden vergingen, bis plötzlich ein buntes Farbenspiel durch die Fenster des Schiffes drang. Das Phänomen hatte sich aktiviert und wurde wie geplant vom Kraftfeld farbenintensiv abgelenkt.

Das Intercom übertrug ein heilloses Durcheinander aus dem Mission-Kontrollzentrum. Aufregung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Plötzlich ertönten mehrere schrille Alarmtöne.

„Sensorenalarm! Beide Haupttriebwerke verzeichnen starke Temperaturanstiege. Kann das jemand bestätigen?“

„Bestätige. Temperaturen am Heck erreichen 900 Grad und steigen.“

„Kraftfelder versagen. Reaktivieren! Sofort wieder Reaktivieren! Kraftstofftanks erreichen kritische Temperaturen!“

Während die Stimmen über Intercom immer panischer und hektischer wurden, aktivierte jemand in Kammer III5 seinen Notausstieg. Das bunte Farbenspiel durchflutete das Schiffsinnere derweil mit grellem orangem Licht. So nah man auch vor der Glaskanzel stehen würde, gab das Gel noch immer keine Sicht auf das Innere preis. Kondenswasser begann langsam auf der Glasoberfläche zu verdampfen, die Hitze im Innern des Raumschiffes stieg stetig an. Hastig strampelnd, versuchte die Person aus der Kammer auszubrechen und sich loszuschnallen. Doch die Tür war noch immer verriegelt. Lautes Knarren stöhnte durch alle Decks bis in seine Kammer. Die innere Verkleidung verformte sich unter der Hitze. Das Schiff schien zu sterben.

Erneut hallten verzweifelte Stimmen von der Station ins Raumschiff. Sie brüllten nur noch durcheinander.

„Notkraftfelder sind zusammengebrochen. Wir sind sabotiert worden.“ Die Stimmen überschlugen sich.

„Um Himmels willen, reaktivieren Sie die Schilde!“

„Ich kann sie nicht reaktivieren!“, brüllte ein anderer.

Lautes Zischen und Qualm breitete sich in der Sektion aus. Das Gel hatte seine feste Konsistenz verloren und wurde durchsichtig und heißer. Wieso trug er keine Schutzbrille? Hastig bewegten sich die Augen des Mannes unter seinen Lidern. Er wusste, dass er seine Augen in dem Gel nicht öffnen durfte. Weiter drangen die gefilterten Stimmen aus den Lautsprechern dumpf und verzerrt in das Innere der Kammer.

„Beeilen Sie sich!“

„Erreichen 1300 Grad. Temperatur steigt weiter.“

„15 Sekunden bis zum Hauptimpuls“, ertönte die Durchsage.

„Versuchen Sie das Schiff per Fernsteuerung aus dem Phänomen zu manövrieren.“

„Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf …“

Die Augen bewegten sich immer wilder hin und her. Das Gel begann zu kochen. Er konnte fühlen, wie er verbrannte. Die eiskalte Computerstimme beendete den Countdown.

„…drei, zwei, eins, Hauptimpuls erf… „

Die verheerenden Explosionsgeräusche verpufften sanft, als ihn plötzlich eine weibliche Stimme aus dem Alptraum befreite.

„James! Was ist los? Alles in Ordnung?“

Seine Augenlider öffneten sich. Es war hell. Alles war noch so wie vor einem Augenblick, bevor er in einen kurzen Tranceschlaf gefallen war. Ein Alptraum hatte gerade noch gefehlt, dachte er. Vielleicht war die Dosierung der verabreichten Medikamente zu hoch oder er hatte die letzten Tage zu wenig Schlaf gefunden. Der bevorstehende Start beschäftigte ihn zu sehr, stellte er fest. War das schon manische Paranoia?

Erneut fragte die liebliche Stimme und seine Augen versuchten die Person vor sich zu fokussieren. Es war Susannah. Als leitende verantwortliche Bordärztin lag es in ihrer Verantwortung, jeden Einzelnen der Crew persönlich “einzuschläfern“. In einen Tiefschlaf ohne Traumstadium.

„Ist alles in Ordnung? Klapp mir noch nicht weg. So schnell bin ich nicht.“

„Sue, meine kleine Prinzessin. Gib mir bitte ein Mittel gegen die Träume. Ich will nicht träumen.“

Susannah sah ihn an und kam näher an ihn heran.

„Keine weiteren Medikamente! Du weißt, das ist nicht gut. Keine Sorge, in zehn Minuten wirst du nichts mehr spüren. Niemand träumt im Kryoschlaf.“

„Wo ist Steven? Wo ist mein Junge?“, fragte er.

„Ich bin hier, Dad.“

„Du machst das schon. Ich bin sehr stolz auf dich!“

Wieder einmal ertönte der Countdown per Intercom.

„Noch 60 Minuten bis zum Start.“

Die Überwachungstechniker der Auriga Group bewiesen an diesem Morgen nur wenig Geduld und schauten wiederholt auf ihre Uhren. Für Gefühlsduseleien hatten sie kein Verständnis. Nicht so kurz vor dem Start. Zurückhaltend gaben sich Vater und Sohn nur die Hände.

„Okay, Dad. Wir sehen uns dann auf der anderen Seite.“

„Das wird sicher aufregend. Oder?“ Er holte tief Luft. „Nun macht das Ding schon zu.“, sprach er und lächelte beiden zu. Festgeschnallt, fast unbeweglich, legte Susannah ihm nun die Atemmaske und Schutzbrille an. Abschließend betätigte sie den Knopf, der die Kanzel langsam schloss.

„Die Zeit wird wie im Schlaf vergehen“, antwortete sie noch schnell, bevor die Kanzel verriegelte.

Alle anderen waren bereits in der Übergangsphase zum Tiefschlaf. Jeder trug einen speziellen blaugrauen Thermoanzug, ausgestattet mit modernster Überwachungstechnik. Tiefe Bewegungslosigkeit war ein Segen, anderenfalls würde sich jeder im Kryoschlaf strangulieren.

Es dauerte nicht lange und die Kammer begann sich mit einer leicht bläulichen Flüssigkeit zu füllen. Innerhalb des Glases jeder Kanzel befand sich ein transparentes Bedienfeld zur Überwachung der Kryokammern. Zusammen betrachteten Susannah und Steven die Daten seines Vaters.

„Er ist sehr aufgeregt. Sein Puls steigt zu schnell und er atmet zu flach.“ Sie klopfte mit ihren Fingern gegen das Glas, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Nervös blickte der Admiral zu dem schnell ansteigenden Pegel der Flüssigkeit hinab. Für eine Com-Verbindung drückte sie eine grüne Taste.

„Alles okay, James. Nicht verkrampfen! Atme ganz ruhig weiter.“ Sie lächelte ihm zu. Er versuchte es auch.

„Wir kümmern uns um ihn, Doktor. Sie sollten sich in Ihre Kammern begeben“, meinte einer der Auriga-Techniker unter Zeitdruck.

„Ja. Die Zeit wird langsam knapp“, antwortete Susannah und winkte James noch einmal zu. „Wir sehen uns am Ziel.“

„Ganz ruhig, Admiral. Das ist völlig normal. Sie machen das prima“, beruhigte der Techniker weiter und James ließ das Prozedere über sich ergehen.

Zügig gingen Susannah und Steven durch zwei der drei Hauptsektionen der Explorer in Richtung Bug, ließen eine weitere Verbindungsschleuse hinter sich und näherten sich ihren eigenen bereitstehenden Kryokammern.

Kammer I1 bis I4 waren noch frei. Aus Sicherheitsgründen standen zwei zusätzliche Reservekammern zur Verfügung, die jedoch deaktiviert und versiegelt waren.

„Wieso hast Du Bone in die Achtersektion verlegt? Er gehört doch zur Stammbesatzung, nicht zu den Marines“, fragte Steven verwirrt, als er ihn nicht in Sektion I finden konnte.

„Wenn wir unser Ziel erreichen, kümmert sich Bone um die anderen. Er kennt sich ebenso gut mit den Systemen aus.“

Susannah öffnete den Reißverschluss seines Thermoanzuges, klebte drei Funkdioden auf seine Brust und streichelte ihn.

„Welche Kabine möchtest du?“, fragte sie, während sie zärtlich seinen Oberkörper einzucremen begann.

„Können wir uns nicht eine Kabine teilen?“, hauchte er in ihr Ohr zurück. „Ich fänd’s toll, eine Ewigkeit mit dir zu schlafen.“

Sie lächelte und wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen Wunsch zu erfüllen. Ihr Blut schien sofort in Wallung zu geraten. Doch dieser Ort war so romantisch wie der Besuch bei einem Zahnarzt. Zudem zerstörten die allseits anwesenden Techniker jede Illusion von zweisamer Intimsphäre. Wenigstens einen Kuss konnte ihnen niemand verwehren. Es waren die letzten zärtlichen Berührungen für eine lange Zeit.

Jeder an Bord hoffte, dass ihnen der lange Schlaf letztlich nur wie eine normale Nacht vorkam. Vielleicht waren sie morgen schon am Ziel.

 

Schon bald schliefen alle ein.

 

STS 001 Mission Capri : T minus 0:41:00 Stunden.

24. Mai 2093. 9:01 Uhr / ESS Explorer

20 Minuten war vergangen. Sämtliche Wissenschaftler und Techniker waren auf die Station zurückgekehrt. Nun herrschte Stille an Bord. Dieses Mal schwebte kein loser Gegenstand durch den Raum. Alles wurde gewissenhaft verstaut.

„Noch 40 Minuten bis zum Start“, schallte die monotone Stimme durch alle Sektionen.

Niemand der Crew hörte den Countdown. Die gesamte Besatzung befand sich im Kälteschlaf bei genau minus 32,4 Grad Celsius. Zusammen mit dem Kryogel reichte diese Temperatur aus, um den menschlichen Organismus um 98,7 Prozent herunterzufahren. Das entsprach zwei bis drei Herzschläge pro Minute. Sie alle hatten den sogenannten Cool Down erreicht.

Noch vor 70 Jahren arbeitete die Auriga mit Tiefsttemperaturen von minus 150 Grad Celsius und kälter. Unter den damaligen Verhältnissen wäre anwendbare Kryotechnik in der Raumfahrt undenkbar gewesen. Die neue Technik schützte den Menschen wie nie zuvor, stoppte nahezu alle Energie- und Zellvorgänge, so dass auch das primäre Ziel, die Alterung, fast gänzlich stagnierte. Nur so konnte ein Team langfristig sein Ziel erreichen und dennoch arbeiten. Die erforschten Folgen langjähriger Kryoflüge waren bereits in der Praxis erprobt und weitestgehend vertretbar. Wenn sie im Zielgebiet aufwachten, mussten sie nach dem Standardaufwachverfahren allenfalls mit einem Kater und leichter Übelkeit rechnen.

21 Seelen warteten nun auf den Startschuss ins Unbekannte. Ein Blick auf die Schalttafeln ihrer Kabinen zeigte die Vitaldaten der Schlafenden. Die Temperaturen und Lebenszeichen waren auf ein absolutes Minimum reduziert worden. Bei einigen sanken die Werte noch. Sämtliche energieverbrauchenden Systeme wurden deaktiviert. Die blaue Notbeleuchtung wirkte sich geradezu eisig auf die silberweiße Inneneinrichtung aus. Steril und kühl machte die Explorer im typischen ISA-Look keinen einladenden Eindruck. Etwas mehr Farbe hätte ihr hier und da gut getan. Ein freundlicher Tupfer fiel jedoch auf. Über dem Durchgangsschott zu Sektion II hing ein eingerahmtes Bild, das einen grün schimmernden Planeten mit einem Mond zeigte. Etwas unscharf, wurde es von einem hauchdünnen Raster überdeckt. Es war eine Satellitenaufnahme ihres Zieles. Eine der ersten, die je gemacht worden war.

 

STS 001 Mission Capri : T minus 0:39:00 Stunden.

24. Mai 2093. 9:03 Uhr / ISS Columbus

Ebene E001, die Aussichtsplattform. Untermalt von irischer Livebandmusik knallten die ersten Champagnerkorken. Dennoch herrschte eine unsagbare Spannung unter den Gästen und Gastgebern. Die festlich gekleidete Gesellschaft hatte lange Kontrollen der bewaffneten Security über sich ergehen lassen. Alles wartete auf den Beginn und Amanda Green.

Mit jeder fortschreitenden Minute wurden die Gäste nervöser. Sogar das Büfett wurde kalt. Stundenlang hatten sich Meisterköche aus der ganzen Welt mit der Zubereitung köstlichster Gourmethäppchen abgeplagt.

„Wieso isst niemand etwas?“, fragte einer der Köche verärgert und griff selbst zu einem Happen Zander.

„Mon Dieu! Offenbar hat die feine Gesellschaft Angst, etwas zu verpassen“, verschränkte ein französischer Kollege die Arme.

„Ja. Die Aufregung vertreibt wohl jeden Hunger.“

Zornig auf die Einfältigkeit ihrer Gäste, beobachteten die Köche das Geplapper in der Kuppel. Natürlich waren sie auch neugierig. Vielleicht hatte die noble Schar ja nach dem Start größeren Appetit.

Niemand von den Gästen und Journalisten hatte bei der Ankunft die Aussichtsplattform der Raumstation Columbus zu Gesicht bekommen, in der sie alle gespannt warteten. Vermutlich wussten einige gar nicht, wo sie sich befanden.

Noch waren die mächtigen Panzertore hinter blauem Samt verborgen. Die Plattform gehörte wie vieles an diesem Tag der Premierenfeier an und galt als besonderes Bonbon. Womöglich erwarteten die Meisten von ihnen, dass sie den Start auf der riesigen Plasmawand erleben würden, die über die halbe Kuppel reichte. Und das nicht zu Unrecht. Natürlich war für das imposante Schauspiel ausreichender Sicherheitsabstand vonnöten. Dutzende Kameras würden das Spektakel für die Zuschauer festhalten und nur die besten Aufnahmen aus nächster Nähe präsentieren. Aufgeteilt in neun große Bildabschnitte zeigte die Plasmawand eine Sendeschleife von Trainingseinheiten und den langjährigen Vorbereitungen für den Start. Im zentralen Bildabschnitt wechselten sich stets drei gleiche Bilder ab. Das vereinigte Emblem der Internationalen Raumfahrt Agentur, der ISA, weiter das Emblem der aktuellen Mission Capri und drittens die erst kürzlich fotografierte Besatzung der Explorer. Es war das letzte offizielle Bild der gesamten 21-köpfigen Crew mit ihren rotblauen Overalls. Es war das einzige Bild, auf dem sowohl die Besatzung als auch die Marines die gleiche Kleidung trugen. Zeitloses Lächeln für die Nachwelt.

Die unglaubliche Wabenkonstruktion der runden Kuppel über ihren Köpfen erschien dem Großteil der Gäste eher zweitrangig. In den letzten Stunden und Tagen hatten die Meisten von ihnen zu viel Stahl gesehen, um dem noch Beachtung zu schenken. Also warteten sie geduldig, dass endlich etwas passieren würde.

„Noch 35 Minuten bis zum Start.“

„Mann, die lassen uns aber warten“, stöhnte Ron ungehalten und sprach einen bekannten Kollegen einer anderen Zeitung an. „Sollte es nicht längst losgehen?“

Immer wieder schaute er ungeduldig auf die Uhr und blickte sich um. Keine neuen Details, die er nicht längst mit seiner Kamera festgehalten hatte.

„Ja, wird langsam eng für die Ansprache“, erwiderte sein britischer Kollege Jack Phillips. „Hey, hast du wieder dein drittes Adlerauge dabei?“

Ron grinste diebisch, schielte ungesehen nach oben, während er am rechten Unterlid zog. Jack sah nur rotes Fleisch. Niemand konnte die feinen elektrischen Bahnen ausmachen. Eine medizinische und nanotechnische Meisterleistung.

„Kennst mich doch. Ohne geh ich nie aus dem Haus.“

Als könnte Ron die kaum nachweisbaren Mikroimplantate so einfach aus seinem Augapfel entfernen. Beide lachten und wussten die geheimen Helferlein sehr zu schätzen. So manche Stars und Staatschefs verdammten einige ihrer inoffiziellen Interviews. „Und du? Bist du gerüstet?“, wurde Ron neugierig. 

„Ich hab noch was Besseres.“

Jack zog einen originalen Crewausweis aus seiner Tasche, der ihn Zugang zu den Sub-Ebenen der ganzen Station gewährte. Er musste Ron nichts erklären.

„Hast also jemanden gefunden? Und der Retinascan?“

Nun zog auch Jack an seinem Unterlid. Wie auf Knopfdruck wechselte die blaugraue Farbe seiner Iris ins Braun. Selbst das einzigartige Muster hatte sich gewandelt.

„Nicht schlecht. Nettes MI6-Gimmick“, staunte Ron beeindruckt.

„Retina-Kontaktlinsen. Damit komm ich überall hin“, grinste Jack und wechselte wieder zu seiner eigenen Augenfarbe.
„Familiäre Umstände und 100 Riesen machen eben jeden weich. So leicht hatte ich es noch nie.“

„Verschlagener Luchs, du.“

„Was! Ich bin der sprichwörtliche Samariter. Der Junge kann all seine Schulden tilgen. Big Boss hat fünf Nullen springen lassen, damit ich überall hineinkomme“, prahlte er, da es einer respektablen Rekordsumme gleichkam. Als ehemaliger Agent blieb ihm sowieso keine Tür verschlossen.

 

Nach weiteren langen drei Minuten des Wartens betrat Commander Stukka endlich die erhöhte Bühne.

„Na endlich“, maulte Ron ungehört.

„Meine Damen und Herren! Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Wie Sie sicher von der Pressekonferenz wissen, ist Admiral Cartright heute verhindert. Er hat jedoch eine Videobotschaft für Sie alle hinterlassen, die wir Ihnen später nicht vorenthalten wollen. Heißen Sie jetzt unsere Gastgeberin des heutigen Tages willkommen. Die Präsidentin der Vereinten Nationen, Amanda Green.“

Begleitet von zwei Bodyguards und schallendem Beifall, fuhr die Präsidentin in ihrem Rollstuhl zum Podium vor die große Plasmawand, dessen neun Bildabschnitte plötzlich zu einem Einzigen verschmolzen. Nun bildete das runde Emblem der Mission Capri den historischen Hintergrund.

Amanda Green hatte sichtlich Probleme, das Podium zu erklimmen, lehnte jedoch jede Hilfe ihrer Schützlinge ab. Sie war eine Kämpferin. Seit einem Jahrzehnt schon plagte sie eine bisher unheilbare Nervenkrankheit, die sie seitdem in einen Rollstuhl zwang. Obwohl es sicherlich andere würdige Kandidaten für ihr Amt gab, dachte sie mit ihren 52 Lenzen noch lange nicht daran aufzuhören. Und schon gar nicht ließ sie sich die Ehre nehmen, diesem historischen Start beizuwohnen. Unter den Gästen munkelte man jedoch längst, dass es ihre letzte Amtshandlung sein würde. Mühsam stieg die Präsidentin aus ihrem Rollstuhl und stützte sich auf das Podium. Ihr schlankes Exoskelett, welches sie geschickt unter ihrer Kleidung verbarg, trug jeden ihrer eigentlich unmöglichen Schritte.

Ruhe kehrte ein, während sie tief Luft holte und sich zur Uhr umdrehte. Dann blickte sie in ein Meer von laufenden Kameras, verbunden mit der ganzen Welt. Sie lächelte.

„Sehr geehrte Gäste! Meine Damen und Herren! Willkommen an Bord der Raumstation Columbus! Es ist mir eine Ehre und ein Privileg, jetzt hier stehen zu dürfen. Ich möchte auch alle Menschen in allen Nationen auf der Erde an diesem wundervollen Morgen begrüßen. Wo immer Sie gerade sind, seien Sie Zeugen des heutigen Ereignisses, denn in Kürze erleben wir alle die wohl größte Sternstunde unseres ausklingenden Jahrhunderts. Seien Sie sich dieses Momentes bewusst. Das heutige Datum wird in die Geschichte eingehen, ebenso wie jener furchtbare Tag vor 60 Jahren, dem wir den heutigen Start zu verdanken haben. Bevor wir fortfahren, wollen wir zuerst jener Opfer der schrecklichen Katastrophe auf Capri gedenken. Ich bitte Sie deshalb alle um eine Minute des Schweigens.“

Es sollte die ruhigste Minute sein, die eine Station jemals erlebt hatte. Nach Jahren der unermüdlich lauten Baustelle kehrte für einen kurzen Moment unbehagliche Stille ein. Kein einziger Fotograf wagte es, die symbolische Andacht zu stören. Sekunde um Sekunde der Stille verging. Während sich alle Gäste um die Einhaltung der Schweigeminute bemühten, hallte plötzlich der unaufhaltsame Countdown durch die ganze Station.

„Noch 30 Minuten bis zum Start.“

Green lächelte verlegen. Bei der Planung der Rede war ihr der Countdown entfallen, der sie sicher noch mehrmals unterbrechen würde. Vielleicht hatte sie aber auch fähige Leute in der Regie, die eigenständig denken konnten. Dann fuhr sie fort.

„Ich danke Ihnen.“

Verhaltener Applaus erfüllte die Kuppel, dann kehrte wieder Ruhe ein. Alles war gespannt.

„Danke. Als sich das verborgene Artefakt im Jahre 2033 auf Capri zum ersten Mal aktivierte, erlebte die Welt die folgenschwerste Kettenreaktion in der Menschheitsgeschichte. In nur 30 Stunden starben mehr als 2,7 Millionen Menschen. Sie alle kennen die grauenvollen Bilder und Filme der Augenzeugen. Sie werden uns immer im Bewusstsein bleiben.“

Der neutrale Hintergrund des Emblems wich einer Serie von traumatischen Bildern und Erinnerungen des Jahres 2033. Viele der Aufnahmen zeigten pures Chaos, die Gewalt der Katastrophe, blankes Entsetzen, Panik. Es folgte eine kurze Abfolge verstörender Videoausschnitte Capris und des fremden, markdurchdringenden Tons. Schreie gellten durch die Kuppel. Einige erschütternde Aufnahmen mit originalem Ton waren noch unbekannt, da sie bisher nie veröffentlicht worden waren.

Viele der dramatischen Aufnahmen stammten von Harold Stein, dessen Witwe und eine der wenigen Überlebenden Capris, Yvonne Stein, zu zweifelhaftem Ruhm gelangte. Ihre unbedachte Verbreitung der brisanten Videoaufnahmen an die freie Presse hatte zu schweren Unruhen auf der ganzen Welt geführt, in deren Folge weitere 17.000 Menschen ihr Leben verloren. Sie beteuerte stets, dass die Welt die Wahrheit erfahren musste und sie Angst um ihr Leben hatte. Noch Jahre danach trat sie regelmäßig als Zeitzeugin in Interviews, Dokus und Fernsehshows auf. Die Videohinterlassenschaften ihres Mannes hatten sie über Nacht steinreich gemacht. Ihr Buch "Millionengrab" wurde zum Bestseller und erfolgreichstes deutsches Werk der 40er Jahre. Nachdem sie sämtliche Einnahmen verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen gespendet hatte, verfiel sie endgültig ihren Depressionen und nahm sich schließlich 2047 das Leben.

Die letzte Videoszene zeigte schließlich Harolds Sturz in die Tiefe, bis das Bild einfror. Wieder herrschte für einige Sekunden Stille im Publikum. Nur Sekunden vor dem Tod des Filmemachers, hatte dieser mit seiner Kamera DAS eingefangen, was erst Jahre später vom Wall freigelegt werden sollte. Das außerirdische Artefakt, dessen Ausstrahlung im TV einen neuen weltweiten Glaubenskrieg entfachte. Das Standbild schaltete sich ab.

Green stand im Lichtkegel des Podiums und sah in die Menge der Journalisten.

„Wie wir heute wissen, war der verheerende Ausbruch des Vesuvs nur eine Randerscheinung der eigentlichen Ursache für die Katastrophe.“

Auf der Plasmawand wurde eine erklärende Animation der bekannten Vorgänge eingespielt.

„Wie Sie sehen können, bewirkte der Anstieg der fremden Apparatur eine immense Verdrängung innerhalb der Magmakammer, die letztendlich zum explosiven Ausbruch des Vesuvs führte. Leider haben wir in den letzten acht Jahren keine neuen Informationen über die komplexe Struktur erlangen können. Es existiert ebenso wenig eine konkrete Vorstellung von dieser Maschine unter Capri und dem Golf von Neapel. Wir kennen weder das Alter, die Zusammensetzung, noch können wir Angaben zur Konstruktion und Größe machen. Was wir Ihnen heute nur sagen können ist, dass sich diese Apparatur bis weit in die Erdkruste und durch die Magmakammer des Vesuvs erstreckt und aus einem Material besteht, dessen chemische Elemente zum Teil nicht von unserer Welt stammen.“

Vorbereitet wechselten im Hintergrund alle gesammelten Erkenntnisse über das Phänomen. Eine Animation wechselte die nächste ab. Für Laien waren es nur geheimnisvolle Fragmente in einem wissenschaftlichen Mosaik. Spektralaufnahmen aus dem Orbit und noch weit wissenschaftlichere Puzzles machten es nicht einfach zu verstehen, was da unter der Erdkruste verborgen war. Es war einfach unbegreiflich zu glauben, was dort liegen sollte. Erst die verständliche Kost in Form von dreidimensionalen Animationen brachte noch das eine oder andere Staunen und Raunen in der Menge hervor. Die meisten Fakten waren aber schon lange bekannt.

„Damals ahnte niemand, was sich daraus einmal entwickeln würde. Doch lassen wir nun die Geschichte ruhen und nähern wir uns der Zukunft, meine Damen und Herren. Wir alle wissen, unser Heimatplanet, unsere einzigartige Erde, ist seit Jahrzehnten klimatisch sehr angeschlagen. Daher ist es immer das Bestreben der Raumfahrtforschung gewesen, nach einem Ausweg zu suchen. Die Suche nach einer Alternative für die Fortsetzung des größten Wunders überhaupt. Das Leben. So schrecklich die Katastrophe von Capri auch war, so weist sie uns einen neuen Weg, den wir heute einschlagen werden.“

Green gab ein Signalzeichen, woraufhin mehrere Motoren die großen blauen Samtvorhänge auseinanderfahren ließen. Ein weiterer Techniker betätigte an einer Konsole einige Knöpfe, während die Präsidentin den nächsten Satz verkündete.

„Ohne weitere Umschweife öffnen wir nun den großen Vorhang unserer Bühne.“

Ein leises metallisches Summen ertönte über den Gästen. Gemächlich schoben sich die beiden großen Schutztore nach und nach zur Seite. Sechs Zoll dickes Glas lag nun zwischen den Zuschauern und endlosem Vakuum. Erst jetzt begriffen auch die Letzten, dass sie den historischen Start mit eigenen Augen würden sehen können. Das war von größter Bedeutung, schließlich galt der umstrittene Start in einigen Ländern als größter Schwindel aller Zeiten. Viele behaupteten festen Glaubens, die Unsummen würden für illegale Rüstung und Waffenforschung zweckentfremdet werden. Nun konnte die ISA der ganzen Welt beweisen, wie ernst und edel dieses Projekt wirklich war. Viel wichtiger war noch, dass es jeder live sehen konnte, dass es wirklich stattfand. Es waren keine Studioaufnahmen, wie Verschwörungsanhänger behaupteten, keine Spezial Effekte aus Hollywood. Alles war echt. Die Menge der Journalisten kam aus dem Stauen nicht heraus.

„Ich liebe meinen Job“, strahlte Jack euphorisch voller Vorfreude auf das Mega-Event. Auch Ron war mehr als überwältigt.

„Das nenn ich mal eine Aussicht.“

Die Regie dämmte die Beleuchtung langsam herunter. Kaum geöffnet, erfüllten mehrere gleißende Explosionen den Sternenhimmel. Es dauerte einige Sekunden, bis sich die angsterfüllten Pupillen an das Spektakel gewöhnt hatten. Der anfängliche Schreck des nahen, grellen Lichtes wandelte sich schnell in große Faszination und Freude. Ringsum verwandelte sich der Sternenhimmel in ein sich ausdehnendes Feuermeer, angetrieben von immer neuen, kleinen Explosionen. Glitzernd trieben tausende Leuchtkugeln in alle Richtungen. Atemberaubend vollführten Effektkünstler ein magisches Wunderfeuerwerk der Superlative. Noch nie hatte es so etwas im Weltraum gegeben.

Fernab der gewohnten Schwerkraft, dehnte sich das Feuerwerk ungehindert zu kilometergroßen Superformationen aus, die ihrerseits mit raffinierten Timings weitere Überraschungen boten. Kritiker solcher orbitalen Feuerwerke würden schon morgen unkalkulierbare Risiken bemängeln. Trümmerreste könnten zu fatalen Unfällen führen. Unter den Entwicklern galt die Pyrotechnik jedoch als äußerst sicher. Jede Kugel verbrannte nahezu restlos. Blindgänger gehörten zu 99,99 Prozent der Vergangenheit an.

Nahtlos wanderte das Feuerwerk einige Kilometer von der Station hin in den Gefahrenbereich hinter den gelben Warnbaken. Nun dienten die Gerüste der Warnbaken als Abschussplattform des atemberaubenden Feuerwerkes. Selbst Ron und Jack, die schon alles gesehen zu haben glaubten, waren vom Anblick wie gebannt. Still und wortlos genossen sie den fulminanten Auftakt.

Etwas unspektakulärer verlief dagegen die zeitgleiche Enttarnung der Darkness. Unregelmäßig schalteten sich Sektion für Sektion der Bildmatrix ab und gaben den Blick auf das riesige Raumdock frei. Designlos glich sie einem riesigen containerförmigen grauen Klotz, dessen Aerodynamik es ihr keinesfalls erlaubte, jemals unbeschadet die Erdatmosphäre zu durchdringen. Wie alle großen Raumfahrtprojekte wurde auch die Darkness im Weltraum zusammengebaut und würde auch hier enden. Vielleicht gestattete man ihr irgendwann, einen Fuß auf die Erde zu setzen, nachdem der Großteil ihrer Hülle in der Atmosphäre verglüht war. Bis dahin gebar die fliegende Raumwerft jedoch noch viele neue Schiffe.

„Was soll denn das für ein Pott sein?“, fragte sich Ron laut.

Ungläubig starrten sich die Reporter der Weltpresse fragend an und machten lange Gesichter. Dieser unförmige Klotz konnte doch unmöglich die berühmte Explorer sein. Niemand war sich sicher. Weder das Expeditionsschiff noch die streng geheime Darkness waren je der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Voller Stolz fuhr Präsidentin Amanda Green fort.

„Meine Damen und Herren, ich präsentiere Ihnen die Explorer.“

„Ich hatte sie mir irgendwie anders vorgestellt.“ Jack rümpfte die Nase und war enttäuscht.

„Moment“, stutzte Ron grübelnd und wartete mit seinem Urteil. „Ich glaube, da passiert etwas.“

Der graue Rumpf der Darkness begann sich teleskopartig auseinanderzuschieben. Helles Licht strahlender Scheinwerfer drang durch die sich öffnenden Segmente. Nach und nach gab die Darkness ihr weißes Baby frei, zündete die unteren Triebwerke und stieg langsam nach oben auf.

„Aaaaahhhhh! Schon besser. Viel besser“, flüsterte Jack begeistert.

Der Anblick des strahlend weißen Schiffes bekehrte die langen Gesichter, deren Enttäuschung eben kaum zu übersehen gewesen war. Ähnlich der letzten Reihe auf einem Livekonzert hatten die Gäste nun die Wahl zwischen dem kleinen Original in großer Entfernung oder einer großen Liveaufnahme auf der riesigen Plasmawand.

Die Ähnlichkeiten zu früheren Generationen der NASA-Flotte waren unbestreitbar. Diesem Stil seit Jahrzehnten treu geblieben, fühlte sich die ISA scheinbar wieder alten Traditionen verbunden. Das Ur-Space-Shuttle hatte deutlich Pate gestanden. Die Explorer glich einem hochmodernisierten Remake. Ähnlich einer dicken weißen Speerspitze verharrte sie majestätisch in ihrer Position. Sie war bereit für den Start. Im Hintergrund schimmerte die goldbraune Landmasse Europas.

Der anfänglichen Stille folgte längst ein tosender Applaus. Die Begeisterung nahm kein Ende. Die Überraschung schien gelungen. Auch Green klatschte und träumte.

Indessen entfernte sich die Darkness, ihren Rumpf wieder schließend, langsam aus dem Gefahrenbereich des Phänomens. Mit der Aktivierung ihrer raffinierten Projektionstarnung verschwand die sie plötzlich von der Bildfläche.

Von nun an würde sie wieder irgendwo an einem geheimen Ort ein neues Wunderwerk der Technik gebären. Vielleicht würde schon bald das nächste Schwesterschiff der Explorer folgen. Der Beifall hielt noch immer an.

„Noch 20 Minuten bis zum Start!“, hallte es wieder durch die Station.

„Darf ich um Ruhe bitten? Ruhe bitte!“

Erneut hatte Green Schwierigkeiten, sich der tobenden, begeisterten Menge verständlich zu machen. Nur langsam kehrte wieder Ruhe ein.

„Bitte! Die Zeit ist knapp, meine Damen und Herren. Vielen Dank“, rief sie und blickte selbst noch einen kurzen Moment hoch zu dem Schiff, dass auch ihre Kindheitsträume wahr werden ließ. Wie gern wäre sie selbst mitgeflogen. Doch diese Reise blieb ihr auf immer verwehrt. Trotzdem hatte sie so vieles erreicht. Sie stand nun hier und hatte das Schiff sogar besichtigen dürfen. Wer sonst da unten konnte das von sich behaupten. Selbstsicher blickte sie wieder in die Menge. Voller Stolz sprach sie weiter.

„Das ist sie also, die Explorer. Sie ist das erste Schiff der fünften Generation in unserer Flotte, mit der wir in den kommenden Jahrzehnten unsere Nachbargestirne besuchen und erforschen werden.“

Augenblicklich schossen zahllose Finger in die Höhe. Mikrofone streckten sich ihrem Gesicht entgegen, begierig, Antworten zu erhaschen.

„Darf man fragen, wie viele es noch geben wird?“

„Können Sie uns mehr Informationen über die Explorer verraten? Wie groß ist sie und mit welchem Antrieb ist sie ausgestattet? Ist sie bewaffnet?“

Andere Stimmen mischten sich. Es wurde wieder zunehmend lauter. Green fühlte sich plötzlich unwohl, blickte kurz zu ihrem Rollstuhl. Ein Moment der Schwäche durchfuhr ihren ausgemergelten Körper.

„Bitte nicht jetzt“, flüsterte sie sich leise selbst zu, so dass es niemand sonst außer ihr hörte. Ihre Hände klammerten sich an das Podium. Ihrer zierlichen Stimme müde und machtlos, die gierige Meute mit Antworten zu befriedigen, betätigte sie den Rednerknopf für das Signalhorn, das niemand überhören würde. Tatsächlich erschraken alle ein bisschen, so dass augenblicklich wieder Stille herrschte. Jetzt waren alle wieder bei der Sache.

„Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihre Fragen jetzt nicht beantworten kann. Dazu wird ihnen nachher unser Chefoperator Mister Kruger genügend Zeit einräumen.“ Sie sah einen Moment in die Runde und sprach dann weiter.

„Wie Capri damals zerstört wurde, ist heute kein Geheimnis mehr. Doch es bleiben viele Fragen offen. Fragen, deren Gefüge furchtbare Glaubenskriege verursacht haben. Unnötige Kriege, die noch immer auf unserer Erde toben. Fragen, vor deren Antworten sich viele Menschen, ja sogar ganze Völker und Religionen fürchten. All diese Fragen müssen beantwortet werden? Diese zu klären, ist für unser Verständnis und unser Weltbild fundamental. Die hochenergetische Trägerwelle, die Capri damals zerstörte, hat uns neue Technologien ermöglicht. Wir haben eine Chance für einen Neuanfang bekommen und etwas gefunden.“ Sie machte eine Pause und freute sich auf die bevorstehende Verkündung. Sie dimmte das Licht erneut.

„Das ist unser Ziel, meine Damen und Herren. Genießen Sie den virtuellen Flug!“

Auf der Plasmawand startete eine realistische Animation. Vom einfachen bekannten nördlichen Sternhimmel ausgehend, schwenkte die Kamera auf eines der auffälligsten nördlichen Sternenbilder zu. Cassiopeia, oder auch das Himmels-W genannt. Der Kurs führte direkt darauf zu. Wer es von den Zuschauern bisher noch nicht wusste, staunte zufrieden. Eine Welle der Begeisterung schwappte durch das Publikum. Alles tuschelte. Der Flug näherte sich einem scheinbar einzelnen Stern mitten im W der Cassiopeia. Es war keiner der berühmten Hauptsterne, sondern nur ein sehr naher optischer Nachbar, der jedoch zum Sternenbild dazugehörte. Dann wurden aus dem einen Stern plötzlich zwei. Achird war der Name dieses Doppelsternsystems Eta Cassiopeia AB. Zwei Sterne, die eng beieinander lagen und ihren gemeinsamen Gravitationsschwerpunkt umkreisten. Ein gelblichoranger Hauptreihenstern der Klasse G3V, der unserer Sonne sehr ähnelte und ein kleinerer rötlichoranger Unterzwerg Hauptreihenstern der Klasse KV7. Beide zusammen galten schon lange als sehr stabiles Doppelsternsystem. Nach Expertenmeinungen besaßen beide Sterne sogar besonders lebensfreundliche Bedingungen. Grüne Ringscheiben, sogenannte habitable Zonen, umgaben jeden Stern. Die Kreise des Lebens. Die Animation stoppte und blendete die Umlaufbahnen beider Sterne ein. Für Laien sah es fast so aus, als würden sich die Bahnen kreuzen, so dass die Sterne eines Tages kollidierten. Tatsache jedoch war, dass sie einen immerwährenden gebundenen Tanz vollführten, der sich alle 480 Jahre wiederholte.

Die Animation schwenkte auf den größeren Stern Achird A und näherte sich seinem Planetensystem. Abgesehen von Achird B war die Ähnlichkeit zu unserem eigenen System einfach verblüffend. Allerdings waren es nicht acht Planeten, sondern sieben, wovon zwei starke elliptische Umlaufbahnen aufwiesen. Die Animation flog bis zum vierten Planeten heran, der in der gemäßigten Lebenszone, ungefähr 1,35 Astronomische Einheiten entfernt, seine gleichmäßige Umlaufbahn verfolgte. Dann begann eine kleine Bilderfolge mehrerer Satellitenaufnahmen. Erst eine kleine matschige Scheibe, dann ein verwaschenes Rasterbild eines blaugrün schimmernden Planeten mit einem Mond. Schließlich schärfte sich das Bild. Die Sensation war perfekt. Die Menge klatschte.

„Genau da wollen wir hin, meine Damen und Herren. Der Planet Capri im System Eta Cassiopeia. Es handelt sich um den vierten Planeten um Achird A, der nun auch den Namen Capri Solaris trägt. 19,4 Lichtjahre von uns entfernt. Der Exoplanet wurde in Gedenken der Katastrophe des Jahres 2033 „Capri“ getauft. Dies sind die besten Aufnahmen, die wir Ihnen bisher bieten können.“

Alle Gäste bestaunten unglaubliche Bilder und applaudierten. Einige erhoben sofort ihre Hände, um Fragen zu stellen. Green zeigte auf einen älteren Mann in der ersten Reihe.

„Sie dort, bitte.“

„Wissen Sie schon mehr über diesen Planeten? Gibt es dort Sauerstoff?“, erklang Rons deutliche Frage aus dem Publikum, die Amanda zu gern beantwortete. Sie lächelte.

„Das kann ich nur bestätigen. Aus den Analysen des Spektrums konnten wir zweifelsfrei große Mengen an Sauerstoff in der Atmosphäre nachweisen. Außerdem können Sie es doch sehen“, scherzte sie lachend.

Natürlich meinte die Präsidentin das klare Blau der Atmosphäre. Ein deutliches Indiz für O². Es war das Resultat der Streuung von Licht. Wie im Wasser streute Sauerstoff auch am Himmel besonders den blauen Lichtanteil der Sonne.

Kaum jemand bemerkte den unterschwelligen Alarm und das rote Warnlicht. Green kannte Commander Stukka gut genug, um zu wissen, dass etwas nicht wie geplant lief.

Ihr ungutes Gefühl wurde nur wenige Sekunden später durch das Erscheinen zweier Sicherheitsbeamte aus dem Kontrollzentrum eine Ebene tiefer verstärkt. Was auch immer ihm gerade in sein Ohr geflüstert wurde, musste von größter Bedeutung sein. Ein Unfall oder gar Schlimmeres? Was sonst bewegte ihn nun dazu, seine Gäste zu verlassen? Ungewissheit und Nervosität packte sie.

„Nun, ähhm … zusammen mit der Trägerwelle von Capri und der neuen Technologien werden wir den ersten Schritt in eine neue Zeitepoche beschreiten. … Zum ersten Mal werden Menschen nicht nur unser Sonnensystem verlassen, wir werden ein weit entferntes Neues betreten. Vielleicht wird es eine neue Heimat. Und ich muss wohl niemandem sagen, wie dringend wir sie schon sehr bald brauchen.“

Erneut applaudierten alle und Präsidentin Green winkte unauffällig den Chefoperator zu sich heran.

„Leider muss ich sie nun verlassen. Die Endphase verlangt meine Anwesenheit auf dem Brückenring. Wenn Sie noch Fragen zur Explorer, zum Start oder der Technik haben, können Sie diese jetzt an unseren Chef Operator stellen. Bitte begrüßen Sie Eugene Kruger. Vielen Dank.“

Chief Operating Officer Kruger eilte auf das Podium und hielt mit einer Hand das Mikro zu. Beide versuchten, sich die Anspannung nicht anmerken zu lassen.

„Mister Kruger, ich weiß, dass Sie noch nicht dran sind. Aber lenken Sie bitte das Publikum von dem Alarm ab. Ich muss sehen, was los ist.“

„Natürlich, Mam. Was soll ich tun?“

„Beantworten Sie einfach alle Fragen und halten Sie sie hin!“

Kruger startete einen Splitscreen auf der Plasmawand, der zeitgleich das Livegeschehen zeigte und die Details der Explorer im Schema einer weiteren Animation.

„Noch zehn Minuten bis zum Start.“

Das Publikum wurde immer unruhiger. Der Alarm war ihnen nicht entgangen.

„Meine Damen und Herren, mein Name ist Eugene Kruger. Ich bin der COO dieser Station und werde nun ihre Fragen beantworten.“

„Was ist denn los, wo gehen alle hin?“, fragte ein Journalist.

„Was hat der Alarm zu bedeuten?“, wollte auch Jack wissen. Er war schon gespannt, welche Ausrede nun folgen würde.

„Es besteht kein Grund zur Sorge. Wir treten in Kürze in die heiße Infraphase ein. Der Start verlangt nach der Anwesenheit der Führungskräfte. Bitte bleiben Sie sitzen und bewahren Sie Ruhe. Das ist völlig normal. Wer möchte beginnen?“

Ron und Jack sahen einander an. Beide wussten, dass was im Busch war.

„Sie dort!“, rief Kruger jemanden auf.

„Können Sie uns die Wirkungsweise der Ablenkungsfelder erklären?

Kruger war gut vorbereitet und startete eine anschauliche Simulation.

„Wie sie sehen können …“, fuhr der Chefoperator fort.

„Da stimmt was nicht“, war sich Ron mehr als sicher. Sein Gespür hatte ihn noch nie getäuscht. Er konnte selbst die besten Lügner erkennen und der Chefoperator fiel in jeder Hinsicht durch.

„Ich schau mir das mal genauer an“, meinte Jack, zückte seinen Ausweis und verließ den Saal.

„Gute Idee.“

Ron blieb und beobachtete das Personal.

 

Exploration Capri: Inferno
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