Der Tag danach

 

 

So harmlos und kontrolliert, wie es die nächsten Tage ablaufen wird, war es damals nicht“, begann der Admiral.

„Es war rohe Gewalt. Manchmal träume ich vom Fall der Vici, wie ich ertrinke oder um mein Leben kämpfe. Wir waren mittendrin und haben doch überlebt. Glauben Sie mir, Caren. Ein solches Erlebnis vergisst man nicht so leicht. Ich hab’s versucht. Niemals wieder habe ich solch wütendes, tobendes Wasser gesehen. Es war wie ein Monstrum, ein Ungeheuer. Selbst heute noch, kann ich meine kindliche Angst von damals spüren.“ James machte eine Pause. Caren hörte weiter zu.

„Die schlimmste Zeit war die Ruhe nach der Katastrophe. So dachte ich jedenfalls. Das Meer war voller Leichen. Sie trieben zwischen den Trümmern ihrer zerstörten Schiffe oder Boote. Stündlich wurden es mehr. Der unbarmherzige Druck der Tiefe, der sich auf ihre Körper ausgewirkt hatte, zerriss ihre Haut, Lungen, Augen und Blutgefäße. Könnt ihr euch vorstellen, was das für ein Anblick war? Mit seinen letzten Kräften zog mein Vater Männer, Frauen und Kinder aus dem Wasser, bis er völlig erschöpft aufgab. Am Ende des Tages bedeckten um die 30 Leichen das Oberdeck unserer Yacht. Es war ein entsetzlicher Anblick, an dem auch die wenigen Decken, die meine Mutter damals ausbreitete, nichts ändern konnten. Selbst als es dunkel wurde, war das Meer hell erleuchtet. Alle suchten fieberhaft nach Überlebenden, doch sie fanden keine. Nicht einen. Wir übernachteten bei Bekannten auf Ischia, doch der donnernde Vesuv ließ keinen Schlaf zu. Mitten in der Nacht, vierzehn Stunden nachdem die Santorini in die Tiefe gerissen wurde, tauchte ihr vom Druck völlig demolierter Rumpf überraschend wieder auf. Niemand konnte es glauben. Irgendetwas hatte ihn gegen jede Vernunft auftauchen lassen. Natürlich hatte niemand überlebt. In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages wurde der Rumpf in den Hafen von Salerno geschleppt. Der Hafen von Neapel existierte ja nicht mehr. Auch der Vesuv gab keine Ruhe. Zwar hatte er deutlich an Kraft verloren und seinen Ausbruch gemäßigt, doch noch immer ragte eine gewaltige Wolke über dem Vulkan in den Himmel, die einen anhaltenden leichten Ascheregen über die ganze Region niedergehen ließ. An seinen Hängen wälzten sich breite unaufhaltsame Lavaströme in alle Richtungen, die alles unter sich begruben. Halb Neapel brannte. Wir hatten damals keine Ahnung, was dort vor sich ging. Niemand hatte die Zusammenhänge zwischen dem Vesuv und Capri verstanden. Die ganze Katastrophe war zu gewaltig, um sie zu begreifen. Die genaue Anzahl der Toten war uns in diesen Tagen völlig unklar. Wir wussten, dass es abertausende gewesen sein mussten. Sogar mein kindlicher Verstand war groß genug, um den Schrecken zu begreifen. Mir war klar, dass es viele Opfer gab. Von zehntausenden Menschen auf Capri fehlte jede Spur. Es machte keinen Sinn, nach ihren Leichen zu suchen. Sie konnten nicht einmal beerdigt werden.“

Admiral Cartright sah in die Gesichter, um sich zu vergewissern, dass auch alle zuhörten.

„Das ist wirklich heftig“, sagte Caren leise.

„Ja, das war es. Mit zehn Jahren sah ich an diesem einen Tag mehr Leichen als die meisten Kriegsveteranen in ihrem ganzen Leben. Ich sollte froh sein, dass wir überlebt hatten. Aber… dieses Gefühl hielt nur einen Tag an.“ James dachte an den zweiten Tag.

„War es Glück oder ein Alptraum, dass wir überlebten? Wissen Sie, was alle Katastrophen und Unfälle gemeinsam haben, Caren?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Erdbeben, Unfälle, Flugzeugabstürze, Explosionen. Egal welcher Art. Ist es vorüber, eilen tausende Retter und noch mehr Schaulustige herbei. Terroristen wissen das und nutzen es aus, um ein weiteres Mal zuzuschlagen. Aber jeder wusste, dass es keinen Anschlag gegeben hatte. Überall schrien Menschen um Hilfe. Also halfen alle, wo sie konnten. Auch am Tag nach der Katastrophe. Zu den zahllosen Rettern gehörten auch meine Eltern. Fast die gesamte Flotte der italienischen Marine schien sich um Capri versammelt zu haben, um mit Spezialschiffen, U-Booten und Tauchern nach dem Unbekannten und nach Überlebenden zu suchen. Dieses Mal ließen sie uns nicht mit. Wir Kinder hatten genug Schreckliches gesehen. Daher hatten unsere Eltern meinen Bruder und mich auf der benachbarten Insel Ischia bei der Familie Pedró untergebracht. Wer alt genug war, trat den freiwilligen Rettungskräften bei, also blieben wir ohne erwachsene Aufsicht zurück. Vlavio Pedró, ein Freund meines Vaters, trat ebenfalls den Rettungskräften bei. Zusammen mit den Pedró-Kindern stiegen wir auf den Epo. So hieß der Berg Monte Epomeo unter den Einheimischen. Den ganzen Morgen verbrachten wir auf dem Gipfel, zählten alle Schiffe, die im fernen Dunst kaum zu erkennen war. Es waren Hunderte und sie alle steuerten ins Verderben. Niemand ahnte, was unter Capri lauerte. Es kam einem Déjà-vu gleich. Alles schien sich zu wiederholen. Um 11:36 Uhr, genau einen Tag nach der Katastrophe, passierte es erneut. Dieses Mal kochte Capri inmitten eines riesigen Geysirs. Gleißendes Licht blendete aus dem Meer. Als wir begriffen, was wir sahen, schrien alle Kinder nur noch das Meer an. Dann, kurz nach Mittag, verwüstete eine gewaltige Woge erneut die südliche Küste Ischias. Jeder wusste noch vom Vortag, was passiert war. Wieder waren unzählige Menschen in die furchtbare Falle getappt. Die gesamte Flotte, die bei Capri ankerte, um zu helfen, war verschwunden. Viele Länder wurden wiederholt fast ohne Vorwarnung von riesigen Tsunamis heimgesucht. Waren es am Vortag nur halb so viele Opfer, so stieg die gesamte Anzahl der Todesopfer nun auf geschätzte 2,7 Millionen Menschen. Unter ihnen waren auch meine Eltern. Diesmal hatten sie nicht so viel Glück. Sie beide wurden nur 37 Jahre alt. Das Ding hatte uns zu Waisen gemacht.“

„Es hat zu viele zu Waisen gemacht“, sagte Caren betroffen.

„Monatelang schwieg ich das Meer an. Jahre waren nötig, bis ich es verarbeitete. Vergessen werde ich diese Bilder niemals. Selbst heute versuche ich mir vorzustellen, wo meine Eltern waren, als es sie traf. Eine Antwort werde ich wohl nie erhalten. Mittlerweile kann ich damit leben, aber ich habe ein ganzes Leben gebraucht, um diesen Punkt zu erreichen.“

„Wir sind alle davon besessen, nicht wahr, Dad?“

„Das ist wohl so“, gab er zu und nickte unwillkürlich.

„Und was passierte dann?“, wollte Caren weiter wissen.

„Nach dem zweiten Impuls wurde die ganze Region zur Sperrzone erklärt. Niemand traute sich in die Nähe Capris. Alle warteten ab. Wenn es zweimal passieren konnte, warum nicht auch ein drittes Mal. Und genau so kam es. Es gab sogar ein viertes Mal. Erst danach herrschte Ruhe unter der Wasseroberfläche. Aber damit war das Grauen noch lange nicht beendet. Das Meer gab seine Opfer nur langsam preis. Selbst nach Wochen und Monaten wurden immer wieder stark verweste, von Fischen und Vögeln angefressene Leichen auf hoher See entdeckt. Allein die Flutwellen hatten Tausende Menschen aufs offene Meer hinaus gezogen. Bis in den Juli hinein fanden Suchtrupps täglich angespülte, aufgedunsene Reste und Gliedmaßen an den Küsten Italiens. An Vergessen oder Abschalten war nicht eine Stunde zu denken. Die Meldungen in Nachrichten und Medien ließen es nicht zu. Im Internet gab es Seiten zur Identifizierung von Fundstücken, Ringen und Leichen. Alle halfen mit. Auch ich. Ich musste … ich wollte sie doch finden.“ James schwieg einen Moment.

„Erst im Dezember 2033 folgte die offizielle Liste der Opfer und Vermissten. Von rund 2,73 Millionen Vermissten wurde die Hälfte nie gefunden. Aber das wissen Sie ja bereits. Erst ein Jahr später zeichnete sich der Zyklus ab, nach dem das unbekannte Artefakt in der Tiefe tickte. Genau ein Jahr war vergangen, als pünktlich zu den Trauerfeiern am 25. Mai auf Capri wieder die Hölle losbrach. Vier Tage später versiegte es wieder, um ein weiteres Jahr später erneut auf dem Plan zu treten. Es war nur einer Hand voll Wissenschaftlern zu verdanken, dass nicht noch weitere unschuldige Menschen getötet wurden. Die Trauerfeier fand auf diesem Bergrücken Capris statt. Der Rest ist Geschichte.“

Caren sah in die traurigen Augen des alten Mannes, der die Bilder bis heute nicht vergessen hatte.

„Eine wahre Geschichte. Jedes einzelne Wort“, fügte er betont hinzu. Dann blickte er wieder in die Tiefe.

„Wie ging es danach mit Ihnen und Ihrem Bruder weiter? Wenn ich das noch fragen darf.“

„Daniel und ich kamen zu unserer Tante nach Liverpool. Sie gab wirklich ihr Bestes. Ich blieb fünf Jahre dort, bis … bis ich alt genug war und mich mit 16 auf der Akademie verpflichtete. Und Daniel… ich war nicht bei ihm, als er zwei Jahre später…“ James schwieg. Er wollte sich nicht mehr an weitere Tragödien erinnern.

Caren nickte und verstand. Die Familie der Cartrights war gesäumt von schweren Schicksalsschlägen und doch so erfolgreich. Sie bewunderte den alten Mann, seine Entschlossenheit, den Wagemut und die Stärke, immer weiter zu machen. Sie legte ihre Hand auf seine und streichelte ihn.

Noch immer standen alle am Abgrund und blickten über die Anlage des Ringes in die Tiefe. Seit 42 Jahren lag das Geheimnis vom Wall abgeschottet offen. Doch statt Geheimnisse preiszugeben, taten sich immer neue auf. Fragen über Fragen.

Caren sah sich um. Die See war rau und der Sturm verlor allmählich seine Kraft.

„Kommen Sie, Admiral. Gehen wir“, rief Caren gegen den Wind. James wirkte nachdenklich.

„Immer wenn ich es sehe, frage ich mich, was es ist? Woher es kommt? Ist es außerirdisch?“ Jeder verstand diese elementaren Fragen. Selbst Steven konnte die Neugierde und die Besessenheit seines Vaters nachvollziehen. Capri hatte den alten Mann für immer geprägt. Sie alle. Jeder der Missionscrew kannte die Forschungsergebnisse. Angesichts der furchtbaren Kräfte konnte es sich nur um eine Maschine handeln, die keinesfalls von Menschen erbaut worden war. Jeder wusste, dass die riesige Anlage in Millionen, vielleicht sogar in Milliarden Jahre altem Gestein steckte. Damit war sie weit älter als die Menschheit. Zumindest diese Frage schien schon beantwortet. Nur wann genau, vor allem aber, wer hatte dieses Ding hier versteckt?

„Wir werden es herausfinden, Dad.“

 

Exploration Capri: Inferno
titlepage.xhtml
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_000.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_001.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_002.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_003.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_004.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_005.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_006.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_007.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_008.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_009.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_010.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_011.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_012.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_013.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_014.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_015.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_016.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_017.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_018.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_019.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_020.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_021.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_022.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_023.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_024.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_025.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_026.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_027.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_028.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_029.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_030.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_031.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_032.html
CR!K8JM2D5H2S3D34BV74GYHR0QWFB0_split_033.html