Der Golf von Neapel

 

 

Es war einer dieser Jahrhundertsommer, so wie das Jahr zuvor und die Jahre davor. Jeder zukünftige Sommer brachte neue Temperaturrekorde mit sich und eine unheilvolle Tendenz schien sich zu bewahrheiten. Aber es war nicht wirklich etwas Neues. Noch vor hundert Jahren wäre ein solcher Sommer eine Seltenheit gewesen und gern gesehen. Nun war es erst Ende Mai. Wie schon oft nahm der Frühling den Sommer Wochen vorweg und ließ erahnen, wie erbarmungslos die folgenden Monate sein würden. Hitze und Dürre waren erst der Anfang. Ende Mai des Jahres 2033 wusste jeder, was diese Sommer bedeuteten und niemand konnte es mehr verhindern. Schon jetzt glich halb Europa einem Backofen.

Im Golf von Neapel war es nicht anders. Die Luft flimmerte. Von Trockenheit gezeichnete Felder ließen erhebliche Ernteeinbußen wie in den letzten Jahren vermuten. Alltäglich kletterten die Temperaturen erbarmungslos über die 40 Grad-Marke, und das im Schatten bei völliger Windstille. Selbst den Wein- und Citrushängen war das zu viel. Erst letzte Woche hatte der afrikanische Wüstenwind Schirokko einen starken Sandregen über weite Teile dieser Region gebracht. Früher eine Seltenheit, nun immer häufiger.

Hier in der Bucht von Neapel machte jedoch nicht nur das Wetter dieser einst so beliebten Touristenregion einen dicken Strich durch die Rechnung. Ein ebenso mächtiger wie gefährlicher Schatten überdeckte ganze Städte und Landstriche mit Angst und Furcht.

Zum ersten Mal seit mehr als 90 Jahren der Ruhe zeigte der Vesuv wieder ernste Absichten, tief Luft zu holen. Zeugnisse zu dessen drohender rohen Gewalt lagen an seinem Fuße frei zur Besichtigung. Pompeji und Herculaneum.

Die beeindruckenden Ruinen dieser vergangenen römischen Städte erweckten nach wie vor einen furchteinflößenden Eindruck von Tod und Zerstörung. Es war einmal geschehen. Es konnte wieder geschehen.

Die jahrzehntelang gut besuchten Touristenattraktionen waren dieser Tage wie leergefegt. Siedlungen nahe dem Hang glichen Geisterstädten. An manchen Straßenlaternen und Häusern hingen zerrissene Banner zu Boden. Die turbulenten Festtage waren vorüber und längst vergessen. Das Interesse an historischen Gemäuern und die Sensationslust an den vergangenen Katastrophen waren der Angst vor dem eigenen Tod gewichen. Insbesondere schaulustige Touristen hatten aus der Geschichte des berühmten Berges gelernt und hielten seit gut einer Woche respektvollen Sicherheitsabstand. Zu bedrohlich stieg eine mehrere Kilometer hohe Rauchsäule in den Himmel hinauf. Noch war es nur heller Rauch, doch Experten sahen darin die Vorboten eines längst überfälligen Ausbruches. Manch verschlagener Tourist wartete nur darauf.

 

Fast 2000 Jahre, nachdem diese beiden fortschrittlichen Städte unter der heißen Asche begraben worden waren, drohte der Vesuv dieser Region wieder mit totaler Finsternis. Würden die alten Ruinen noch einmal standhalten können oder dieses Mal für alle Zeit von der Landkarte verschwinden?

Noch immer waren viele Vulkane der Welt so unberechenbar wie tollwütige Tiere. Der Vesuv galt seit Menschengedenken als einer der gefährlichsten und explosivsten Vulkane überhaupt.

Alle Wissenschaftler, die diesen Berg kannten, wussten schon über Jahrzehnte, dass ihm ein Korken im Hals steckte. Ein Pfropfen erstarrten Magmas verstopfte seit dem Ausbruch von 1944 den Schlot des größeren Gipfels, des Monte Somma. Was fehlte, war der nötige Druck, um ihn zu lösen. Eine Rechnung der Zeit, die sich irgendwann von selbst ergeben würde.

So weitsichtig die meisten Touristen waren, so stur waren viele ansässige Bewohner, welche die Gefahr nicht erkennen wollten. Fast fünf Millionen Menschen, davon 2,1 Millionen allein in Napoli, drängten sich in dieser Metropolregion auf dem fruchtbaren Boden um den Berg.

Sie alle saßen auf einem randvollen Pulverfass. Niemand, nicht einmal die erfahrensten Vulkanologen, wusste, wie lange die Lunte schon brannte.

 

Dienstag, 24. Mai 2033, 9:32 Uhr

Der Vormittag begann ganz harmlos. Ein leichtes Beben der Stärke 4,8 auf der Richter-Skala schreckte Neapels Bewohner aus ihrem Alltag. Noch immer bewahrten die meisten Menschen Ruhe. Trotz Panikmache der Behörden gingen die Bewohner ihren gewohnten Abläufen nach. Leichte Beben dieser Art waren nichts Ungewöhnliches. Als wenige Minuten später ein weiteres mittelstarkes Beben der Stärke 5,4 folgte, erkannten die Klügeren den vielleicht letzten Zeitpunkt, um die Stadt zu verlassen. Ihre Einsicht kam zu spät. Binnen einer dreiviertel Stunde waren sämtliche Zufahrtsstraßen der verdreckten Millionenmetropole verstopft. Stau und Chaos herrschten überall. Besonders die stellenweise zweispurige Autobahn entpuppte sich als auswegloses Nadelöhr, kaum in der Lage, nur einen Bruchteil der Menschenmassen in Sicherheit zu führen. Die überholten Evakuierungspläne waren bereits zum Scheitern verurteilt, noch während sie niedergeschrieben wurden. Es mangelte an allem. Nun führte nur noch ein einziger Weg aus der Stadt heraus. Der übers Meer.

    Schon bald herrschte auch im Hafen hektisches Treiben. Die Bevölkerung schien endlich begriffen zu haben, wie ernst die Lage war. Dennoch besaßen nicht alle Menschen die Ehrfurcht und den gebührenden Respekt vor dem nahe gelegenen Vulkan. Zu lange war es her, dass der Berg schreckliche Erinnerungen wach rufen konnte, noch gab es lebende Zeugen vergangener Ausbrüche. Der Vesuv war schon immer da und er hatte den Lebenden dieser Zeit nie etwas angetan. Er war stets ruhig und friedlich gewesen. Viele alte Menschen verfolgten gebannt aus ihren Fenstern das bunte Treiben. Sie dachten nicht daran, ihre Koffer zu packen. Zeit war für sie bedeutungslos.

 

Francesca Graziano gehörte zu jenen älteren Menschen Neapels, die zu müde waren, um ihre Häuser zu verlassen, in denen sie ihr Leben lang in Sicherheit gelebt hatten. Ihr geliebter Mann Riccardo war schon Jahre zuvor verschieden, ihre vier Kinder längst erwachsen und selbst stolze Eltern, deren Kinder bereits ersten Nachwuchs erwarteten. Mit ihren 68 Jahren würde sie schon bald eine ebenso stolze wie junge Urgroßmutter werden. Zusammen waren sie eine ehrbare Großfamilie, wie es in Italien schon lange Tradition und Sitte war. Und obwohl Francesca zu ihren Kindern aufs Land ziehen sollte, zog die alte zierliche Dame die marode Dachgartenwohnung mit ihren Gewächshäusern in Hafennähe Neapels vor. Sie genoss den atemberaubenden Ausblick und liebte das Meer. Hier oben wollte sie zusammen mit ihren fünf Katzen, den Vögeln und den Pflanzen ihren Lebensabend mit all den verbundenen schönen Erinnerungen verbringen.

Zärtlich streichelte sie eine ihrer liebsten und anhänglichsten Rassekatzen, die es sich gerade auf der Blumenbalustrade gemütlich machte und lehnte sich neugierig über das Geländer.

„Was sagst du dazu, meine kleine Thai? Ganz schön was los da unten, was?“, zwinkerte Francesca der Heiligen Birma in deren stahlblauen Augen. Thai nahm den Straßentrubel mit gewohnter Gelassenheit einer Katze hin und leckte ihr braunmarmoriertes, seidenes Fell. Das Gehupe tangierte sie nicht im Geringsten. Selbst das permanent klingelnde Haustelefon und das Handy, welches bereits unzählige Anrufe in Abwesenheit zählte, ignorierte sie ebenso wie ihre Herrin.

Francesca konnte sich längst denken, wer sich alles unbegründete Sorgen um sie machte. Thai miaute.

„Da stimm ich dir zu. Die übertreiben wieder maßlos!“

Francesca blickte zum Vulkan empor, dessen Rauchsäule nun wirklich keinen Anlass zur Panik bot. Rauch hatte es schon so oft gegeben. Zum Beispiel im letzten Mai, grübelte sie. Oder war das der Brand in der Textilfabrik? Sie hatte es vergessen.

„Dein Leben möcht ich haben. Schlafen, schnurren, spielen und fressen. Alles andere ist dir egal, oder?“ Wieder streichelte sie das glatte, weiche Fell, während sie sich nach den anderen Katzen umschaute, jedoch nur zwei entdeckte.

Das Telefon klingelte erneut.

 

Auf der A3, Höhe Torro del Grecco,

3000 Meter unterhalb vom Monte Somma Gipfel

Entgegen aller Vernunft schoss ein oranger Porsche Carrera mit 240 Sachen auf der A3 stadteinwärts, Richtung Hafen. Obgleich hier ein strenges Tempolimit galt und oft geblitzt wurde, scherte es heute niemanden, wie tief Lorenzo Graziano das Gaspedal ins Bodenblech presste. Von Polizeipräsenz hatte er nichts gesehen. Beide Spuren waren frei von Verkehr, während sich auf den Gegenspuren die Stoßstangen fast berührten und neidische Blicke den Sportwagen verfolgten. Nur die wenigsten verstanden, wieso es jetzt jemand so eilig ins Stadtinnere zog. Alle wollten nur weg, raus aus dieser Stadt.

Auch Sara Graziano, die auf dem Beifahrersitz ihre Fingernägel ins Polster drückte, starrte den bedrohlichen Hang zum nahen Gipfel empor. Die Klimalüftung blies schwefelhaltige Luft ins Innere. Der beißende Gestank machte ihr Angst. Das wahnsinnige Tempo ihres Autos bemerkte sie eher beiläufig, denn die Sorge um ihre trotzige Mutter drückte in ihrer Magengrube.

„So habe ich ihn noch nie gesehen. Glaubst du dass er ausbrechen wird?“, fragte Sara eingeschüchtert. Die Nähe zum Gipfel war ihr unheimlich, so dicht führte die Autobahn am Fuß des Berges vorbei. Sie wusste zu genau, dass sowohl die fruchtbaren Gärten als auch die A3 auf alten Lavaströmen errichtet worden waren. Und doch gab es keine schnellere oder kürzere Strecke. Sie mussten an diesem Berg vorbei. Immer wieder blickte sie zur aufsteigenden schlanken Rauchsäule empor.

„Keine Ahnung. Ich bin kein Prophet“, antwortete Lorenzo gereizt, der den Wagen sicher in der Spur hielt. Nervös blickte er erneut in den Rückspiegel zu seiner älteren Tochter Elisa, die seit über einer Stunde versuchte, ihre Oma per Handy zu erreichen. Das Telefon fest an ihr Ohr gedrückt, lauschte sie zum hundertsten Mal dem störrischen Klingeln.

„Und?“, fragte er angespannt.

„Sie geht nicht ran.“ Elisa legte auf und versuchte es auf der Festnetznummer.

„Oder sie will nicht rangehen. Verdammt, warum hört sie nicht auf uns?“, fluchte Lorenzo verärgert. „Immer diese Fahrerei. Sie sollte endlich zu uns ziehen? In Taranzo ist es doch viel schöner und sicherer.“

„Du weißt doch, wie sie ist. Sie hat ihre Gründe“, wusste es seine große Schwester Sara besser. Sie selbst mochte das Elternhaus damals nur ungern verlassen und liebte das alte Haus wie ihre Mutter.

„Was ist mit den Nachbarn? Hast du es bei denen mal versucht?“, fragte er Elisa, die nur nickte und sich ihre langen schwarzen Haare aus dem hübschen Teenagergesicht strich.

Der Porsche ließ Torro del Grecco hinter sich und fegte durch eine leere Baustelle.

„Nicht so schnell“, bemerkte Sara nun das viel zu hohe Tempo und schaltete das regionale Radio ein.

„… sind die Zufahrtsstraßen in Richtung Norden gesperrt. Auf der A1 kam es zu zahlreichen Unfällen. Dort müssen Sie mit erheblichen Behinderungen rechnen. Nutzen Sie die Nebenstraßen und Navcom. Alle Bewohner sind aufgerufen, Ruhe zu bewahren. Es besteht kein Grund zur Panik. Wir schalten gleich zu Doktor Jacobi, dem leitenden Wissenschaftler im Observatorium. Bleiben Sie dran. Hier spricht Enrico ...“

Sara regelte das Autoradio wieder etwas leiser.

„Die Straßen sind alle dicht. Wir kommen nicht durch.“

„Lass das mal meine Sorge sein. Ich kenn das Hafenviertel wie meine Westentasche.“

„Da bin ich mir sicher“, dachte sich Sara im Stillen. Sie wusste nur zu gut von den illegalen Rennen zwischen den langen Containerhallen. Zum Glück war Lorenzo seit der Geburt seiner beiden Töchter etwas vorsichtiger.

 

Via Marina, Neapel

Auf der Hauptstraße entlang des Hafens wurde es immer hektischer. Viele Menschen brachten ihr Hab und Gut auf die Fähren, Boote und Yachten. Die letzten großen Handelsschiffe, Frachter und Passagierschiffe nahmen noch Menschen an Bord und legten hastig ab. Selbst in Schlauchbooten, beladen mit ihren kostbarsten Habseligkeiten, waren Menschen auf dem ruhigen Wasser unterwegs.

Francesca schüttelte nur ihren Kopf und sah dem Chaos nach. Sie brauchte so was nicht. Hier oben in ihrer sechsten Dachetage fühlte sie sich sicher und geborgen vor all dem bunten Trubel.

„Keine Angst, meine Kleinen. Hier oben passiert uns nichts. Wir bleiben hier und halten die Stellung, oder?“

Unruhig kratzten zwei ihrer Katzen an der Wohnungstür und miauten unaufhörlich.

„Oh, da hab ich vor Aufregung ganz euer Fresschen vergessen. Kommt alle rein. Miez, Miez. Komm, Thai!“

Ein letztes Mal blickte Francesca auf das ruhige Meer hinaus.

„Na komm schon.“ Dann nahm sie Thai in ihre Arme und ging hinein.

 

Alles, was schwimmen konnte, befand sich nur wenige Minuten später auf dem Meer. Eine weiße Armada kleiner und großer Schiffe steuerte auf die drei Inseln des Golfes zu.

Ischia, Procida und die berühmte kleine Insel im Süden.

 

Ihr Name war Capri.

 

Exploration Capri: Inferno
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