Die Festung

 

 

Es war der 18. Mai 2093, 6:25 Uhr Ortszeit.

Ohne dass sich die Insassen der Phönix absprachen, blickten alle gleichzeitig aus den Fenstern und versuchten die Konturen von einem der gewaltigsten Bauwerke der Welt auszumachen. Johanna, das Sturmtief, das sie kräftig durchrüttelte, drückte das Transportshuttle wie einen Federball im Wind ständig zur Seite. Weder die Gäste noch die Piloten hatten sich diesen Flug so vorgestellt. Susannah, die für gewöhnlich einen starken Magen besaß und bei noch so schrecklichen Momenten standhaft blieb, gab den schaukelnden Turbulenzen nach und übergab sich in eine Tüte.

„Hoffentlich sind wir bald unten“, würgte sie unverständlich aus ihrer Tüte heraus. So sehr Steven auch mit ihr litt, konnte er sich ein Schmunzeln gegenüber Bone und seinem Vater nicht verkneifen.

„Da! Ich glaub, ich kann was sehen.“ Caren beugte sich ganz nah ans Glas der Fenster heran.

„Ist mir völlig egal.“ Susannah schaute trotzdem hinaus, auch wenn es ihr schlechter kaum gehen konnte.

Die Sicht änderte sich. Ein grünlicher Schimmer durchbrach die graue Wolkendecke, als würde der ganze Horizont glühen. Sekunden später dominierte das grüne Licht, wohin man blickte, doch noch immer konnte man nichts erkennen.

„Wie hoch fliegen wir gerade?“, rief Steven zum Cockpit.

„Sir, 2800 Meter, noch 19 Kilometer“, antwortete der Pilot. Er war schwer beschäftigt und hatte alle Mühe, die Maschine im Wind zu halten. Enttäuscht über die katastrophale Sicht, sank Caren in ihren Sitz neben Bone zurück.

„Können wir nicht etwas tiefer unter den Wolken fliegen? Man kann ja kaum was erkennen.“

„Wenn, dann bitte über dem Sturm. Booah, wann landet diese Kiste endlich“, stöhnte Susannah übel. Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, lichteten sich die dichten Wolken zu einem unbeschreiblichen und atemberaubenden Ausblick. Majestätisch ragte die Festung Capris mit ihren Inselresten aus dem Meer.

„Dort! Unglaublich. Aus dieser Höhe hab ich es noch nie gesehen.“ Caren vergaß den Mund zu schließen.

Es war wie Magie, der sich niemand entziehen konnte. Zu beeindruckend war dieser erhabene Moment.

Capri, einst eine wunderschöne Insel, glich inzwischen einer Hochsicherheitsfestung, die zu großen Teilen von einer riesigen, in den Himmel ragenden, grünen Lichtbarriere umgeben wurde. Nichts erinnerte an frühere Zeiten.

Das grüne Licht, bestehend aus Photonen und Energie, vermochte nur einen kurzen Moment vom eigentlichen Bauwerkgiganten abzulenken. Dem Wall.

Mit einem äußeren Durchmesser von fast sieben Kilometern und einem Gesamtumfang von über 21 Kilometern umschloss ein gewaltiger Betonring das klaffende Loch und hinderte das umliegende Meer, den tiefen, scheinbar bodenlosen Abgrund zu füllen. Capris Inselreste wie der Monte Solaro und jene Klippen, die 2033 übrig geblieben waren, ragten an der Grenze zum bodenlosen Schlund mit blankgeschmolzenen schwarzglasigen Wänden in die Höhe. Sie bildeten den natürlichen Südabschnitt des Ringes und schlossen ihn zugleich. 

Während sich die Phönix Capri annäherte, begriffen alle an Bord mehr und mehr die Dimensionen dieser unglaublichen Anlage. Johanna peitschte das Meer indessen von allen Seiten mit der unerbittlichen Macht des Wassers gegen den Wall. Zehntausende Jahre würden nicht reichen, um dieses für die Ewigkeit errichtete Bauwerk, das im ersten Ansatz einer Stauseemauer ähnelte, in die Fluten des Meeres zu schicken. Zu unbedeutend schlugen die winzigen Wellen gegen das monumentale Bauwerk. Mit einer Scheitelhöhe von 375 Metern über dem Wasserspiegel und einer Breite von über 900 Metern, verschlang der Ring die Betonjahresproduktion kleinerer Länder. Der Wall war jedoch nicht vollkommen massiv, wie manche glaubten. Im Innern entstand eine ganze Stadt, samt streng gesicherten Forschungseinrichtungen, militärischen Geheimprojekten, einem neuartigen Teilchenbeschleuniger sowie einem gewaltigen Kraftwerk.

Auf dem Scheitelpunkt der Oberfläche standen weitere Gebäude, vor allem aber die alles überragenden, beinahe ein Kilometer hohen Meta-Türme, die für die optische Lichtbarriere zuständig waren.

Alle drei Kilometer, in Kreisform angeordnet, stand einer von ihnen und verbrauchte so viel Energie wie eine ganze Großstadt. Zusammen erzeugten die sieben Meta-Türme die Lichtbarriere, die über Leben oder Tod entschied.

Energie war kostbar. Erst eine Woche vor jedem Impuls wurde die erste Stufe eingeleitet. Wie bei einer Ampel, erlaubte die Signalfarbe Grün das Durchqueren der Dead-Zone, dem Luftraum über dem verborgenen Objekt in der Tiefe. Doch es war keine zivile, überdimensionierte Verkehrsampel. Die ganze Bucht war Speergebiet und stand unter militärischer Kontrolle.

Obwohl der Golf von Neapel ursprünglich italienisches Territorium gewesen war, oblag die ganze Kontrolle nun der Europäischen Admiralität und der ISA. Territorial blieb es aber der Stolz Italiens, insbesondere Capri.

Je näher die Phönix der Bodenkontrollstation Columbus kam, umso mehr wurde allen an Bord die militärische Präsenz bewusst. Wohin man blickte, patrouillierten Kampfjets in der Luft und Kriegsschiffe auf dem Meer. Nicht einmal ein Vogel würde den Radaraugen Capris ungesehen durch das Netz gehen. Dabei konnten Computersensoren die natürlichen Bewegungsmuster der Vögel von künstlichen Drohnen unterscheiden, und seien sie noch so klein und pfiffig. Capris Luftraum galt nicht umsonst als einer der bestbewachten auf der ganzen Welt. Die unzähligen Raketenbatterien und Lasergeschütze standen nicht zur reinen Zierde auf dem Wall, noch waren es Attrappen. Wer keine Genehmigung besaß, bekam genau eine Warnung.

Die Geschichte lehrte es mehrfach, dass Regierungen bei Terrorismus keinen Spaß verstanden. Die Geschichte lehrte jedoch noch etwas. Terroristen verstanden noch viel weniger Spaß. Alle an Bord konnten nur hoffen, dass der Pilot die passende Landegenehmigung hatte.

„BKS Columbus, hier TS Phönix 261, Autorisationskennung Tango, Echo, Charlie, Bravo, Omega 162 Zulu. Erbitten Landeerlaubnis für Landeport Eins.“

„Phönix 261, hier BKS Columbus. Autorisationskennung akzeptiert. Landeport Drei ist frei. Willkommen zurück.“

Erleichtert und kreidebleich packte Susannah ihre Tasche, um als Erste sicheren Boden unter ihren Füßen zu spüren. Eine Minute später setzte die Phönix behutsam auf und öffnete die Heckluke. Warmschwüle Gewitterluft mischte sich mit der trockenen, nach Erbrochenem riechenden Luft des Shuttles.

„Nichts wie raus hier“, stöhnte Bone, der die Luft nicht länger anhalten konnte.

Als sie ins Freie traten, bot sich ihnen ein unvergleichliches Panorama. Landeport Drei lag auf dem Monte Solaro, oberhalb der blanken berüchtigten Nordwand. Nur ein weiterer riesiger Landeport von der Größe eines Fußballfeldes sowie ein mannshohes Geländer trennten sie vor der Tiefe. Hinter der Phönix, auf einem begradigten Plateau, standen drei große Flugzeughangars. Darüber hinaus ragte ein gewaltiger Palast aus Metall und Glas in die Höhe, die Bodenkontrollstation Columbus.

Der ganze Gipfel des Monte Solaros war eine einzige große Basis. Von hier aus wurde die brandneu fertig gestellte Raumstation befehligt und kontrolliert.

Hangar B stand offen. Steven trat näher heran und riskierte einen Blick. In der großen Flugzeughalle standen mehrere kleine Jäger des Typs MarkXI89-IA und ein großer Militärraumer. Es war ein gewohnter Anblick, nichts aufregend Neues, aber es sprühte nur so vor Erinnerungen. Vor dem Raumer stiegen zwei Dutzend Männer und Frauen, bekleidet mit militärischen Galauniformen, aus ihren Transportfahrzeugen. Vermutlich war es Colonel Brices Einheit, dachte Steven. Über eine Gangway gingen die Marines und anderes Personal an Bord. Soldaten sicherten das Feld im Hangar und kontrollierten die Fracht, die über eine Rampe in den Raumer verladen wurde. Interessiert beobachtete Steven eine Weile das Treiben. Die sperrigen Kisten konnten nur für die Explorer bestimmt sein und schienen besonders sensible Ladung zu beinhalten. Eine Kiste rutschte fast vom Band.

„Vorsicht, Leute! Passt besser auf! Das Zeug ist unbezahlbar, also macht nichts kaputt. Schafft sie endlich rein! Danach die Ladung dort drüben!“, stauchte ein Vorgesetzter seine Untergebenen zusammen.

„Ja, Sir.“

Steven konnte unmöglich über den Inhalt aller tausend Kisten informiert sein, die bereits für ihre Mission verladen worden sind. In diesem Augenblick wünschte er es sich fast. Bone ging es wohl genauso. Auch er blickte interessiert hinüber.

„Was glaubst du, was die da verladen?“, folgte Bone Stevens neugierigen Blicken.

„Das wüsste ich auch gern“, murmelte er zurück. 

Durch das verdreckte, undurchsichtige Glasdach drang nur spärliches Tageslicht in die große Hangarhalle hinein. Die weit geöffneten Tore ermöglichten einen flüchtigen Blick auf den militärischen Teil ihrer Crew.

„Kommt ihr?“, rief sein Vater, der zum Geländer ging.

Bevor der Raumer abflog, blieben noch einige Minuten Zeit, sich die Beine zu vertreten. Zeit, ein letztes Mal das unglaubliche Panorama zu bestaunen. Kisten konnten warten.

Langsam verließ Steven Port Drei und folgte den anderen zum Rand des Abgrundes, der an diesem Morgen nicht ganz ungefährlich war.

Sie alle standen nicht zum ersten Mal an diesem Ort. Es war purer Nervenkitzel, der sie ans Geländer lockte. Das Unbekannte, das da unten schlummerte. Dank Johannas stürmischer Böen schlug das Herz sogar noch einen Deut schneller. Admiral Cartright packte das Geländer. Mutig und euphorisch blickte er hinab. Hinter dem Geländer ging es über 19 Kilometer in die Tiefe, steil nach unten.

„Seht hin! So etwas hat die Welt noch nicht gesehen. So viele Jahre der Forschung. So viel Arbeit und so viel Leid.“

Wenn einer wusste, was Leid bedeutete, dann er. Er sah seinem Sohn ins Gesicht und lächelte.

„Nun, selbst die schlimmsten Dinge bringen manchmal etwas Gutes hervor. Eine ganz neue Welt wartet auf uns. Nach Jahrzehnten des Rückschritts geht es nun endlich wieder voran. In fünf Tagen … nur noch fünf Tage, dann ist es soweit.“

Die Euphorie seines Vaters sprühte mal wieder über.

„Ja, ich wünschte fast, es würde noch ein bisschen länger dauern“, widersprach ihm Steven.

„Warum auf einmal Skepsis? Du solltest stolz sein, mein Sohn. Ich bin es. Wir haben ganze Dekaden auf diesen Moment gewartet, endlose Forschung. Ihr habt jahrelang dafür trainiert. Nun ist er endlich da. Der Moment der Wahrheit.“

„Jahrelanges Training, du sagst es. Einige wichtige Dinge sind in dieser Zeit viel zu kurz gekommen, Dad. Ist dir überhaupt klar, dass wir uns nur noch fünf Tage sehen? Bedeutet dir das überhaupt was?“

Sein Vater sah ihn mit einem Blick an, aus dem er nicht schlau wurde. Meist waren seine Gedanken so offen wie ein Buch. In letzter Zeit jedoch vermisste Steven diese Eigenschaft, die ihm in seiner Jugend oft einen Vorteil beschert hatte. Was hatte sich nur verändert? War es der Start selbst? Machte dem alten Mann dieser Gedanke selbst endlich Sorgen? Was stimmte nicht? Warum sah er ihn so komisch an, als plante er etwas.

„Zerbrich dir nicht den Kopf. Keine Fragen, die für die Zukunft völlig belanglos sind. Erweitere deinen Horizont, schärfe den Blick für das Wesentliche, für die wirklich wichtigen Dinge im Leben.“

„Ich weiß, was wichtig ist. Weißt du es auch?“ Steven stand da und sah seinen Vater an. Der starrte in die Tiefe.

An diesem Morgen verstand er seinen eigenen Vater nicht mehr. Alles schien ihm über dem Kopf gewachsen zu sein. Er wollte ihm sagen, dass er das Wichtigste in seinem Leben war. Er war seine Familie. Andere gab es nicht mehr. Mutter war schon lange gestorben und einen großen Bruder, zu dem er hätte aufblicken können oder eine kleine Schwester, die er beschützen könnte, gab es auch nicht. Es gab keine Geschwister, keine Großeltern oder sonst jemanden aus der Familie. Es gab nur ihn und Susannah. Und er fürchtete den Moment, an dem er seinen Vater allein zurücklassen sollte.

„Manchmal frag ich mich, was wohl aus uns geworden wäre…“, meinte Steven und verlor sich in seinen Gedanken. James erging es oft ähnlich und beendete den Satz.

„… wenn das Ding Capri nicht zerstört hätte?“ James blickte zu seinem Sohn, der abwesend nickte. „Dieser Gedanke beschäftigt mich auch oft in meinen Träumen. Nacht für Nacht“, gab sein Vater schließlich zu.

Bone und Caren traten näher an das Geländer heran. Sie betrachtete das Gestänge, als sei es von einem anderen Stern. Sie hoffte inständig, dass die Schrauben der Halterung festgezogen waren und weder Rost noch Witterung an den Stangen nagten. Dahinter begann der unfassbare Abgrund.

„Trau dich ruhig. Es passiert nichts“, meinte Bone ruhig.

Caren berührte das Geländer vorsichtig, wohl bewusst, dass es schon die letzten Jahrzehnte hier stand. Prüfend rüttelte sie kurz daran, doch es war fest und sicher. Nun zog sie sich mit ihrem ganzen Körper an das Metall heran und sah in die Ferne. Die Aussicht war einfach grandios.

„Unglaublich, was?“, schwärmte James immer aufs Neue.

Caren blickte nach rechts, wo etwas entfernt ein altes restauriertes Haus stand, dessen eine Hälfte eigentlich dort stehen sollte, wo der Abgrund begann. Wie ein Stück Butter, das von einem heißen Messer in zwei Teile geschnitten wurde, stand die heile Hälfte des Hauses unbeschädigt mit ebenso glattgeschmolzener Wand am Abgrund. Nur den Kalksteinziegeln war es zu verdanken, dass dieses Zeugnis der Katastrophe nicht in Brand geraten war und noch heute stand. Ursprünglich wurde es durch die starken Erschütterungen und den Aufstieg Capris schwer beschädigt. Nicht alle Wände des Hauses waren wirklich so glatt geschmolzen, wie es den Anschein hatte. Erst die Restauration machte das dreistöckige Gemäuer zu der Berühmtheit, die sie heute war. Andere Häuser, die so dicht am Rand standen, hatten nicht so viel Glück gehabt. Sie waren entweder eingestürzt, verbrannt oder wurden von herabstürzenden Felsen, während des Aufstieges, zermalmt. Dieses Haus, oder besser gesagt, die Haushälfte, hatte die Katastrophe zum größten Teil überstanden. Es war das Einzige seiner Art, welches die Katastrophe halbiert überstand.

Viele nannten es nur das "Glashaus". Der Name kam nicht von ungefähr. Wer es betrat, sah sofort, warum es diesen Namen trug. Nirgendwo sonst, konnten Besucher so nah an den Rand herantreten. Teile der alten Hauswand und des Fußbodens wurden durch härtestes Panzerglas ersetzt, so dass man sich nur Zentimeter entfernt ganz nahe am reißenden Todesstrahl befand.

Es besaß noch eine weitere Raffinesse, den ultimativen Kick. Das innere Haus bestand aus einem Glaskubus, der zehn Meter über die Kante hinausgefahren werden konnte. Es war eine besonders riskante Attraktion. Der besondere Clou: Seit einigen Jahren durften ausgesuchte Persönlichkeiten trotz Sperrzone in das Glashaus. Nur eine Hand voll Menschen. Eingeschlossen, bewacht und von computergenauer Präzision gesteuert, erlebten VIPs einen teuer erkauften Selbstversuch, der seinesgleichen suchte. Sogar während der roten Endphase des Phänomens konnten Besucher den Schritt über die Kante des Abgrundes wagen. Unmittelbar vor der Infraphase fuhr der Kubus so langsam zurück, dass ganz mutige Abenteurer noch die ersten fünf Sekunden der schnell ansteigenden Hitzewelle spüren konnten. Timing war alles. In fünf Sekunden auf 130 Grad. Nur kurz davor, erste Verbrennungen zu erleiden. Kurz vor der Schmerzgrenze. Mehr ging nicht, näher ging nicht. Bliebe der Kubus auch nur wenige Sekunden länger in der Zone, bedeutete es schwere Verbrennungen, Lungenschäden oder Tod. Zuverlässig zog der Computer den Kubus immer in der letzten Sekunde ein und überließ die Besucher ihrer eigenen Fantasie. Jeder wusste um die Gewalt und die Zerstörung. Das Glashaus war Zeugnis, Experiment und Museum in einem.

Mit den Händen am sicheren Glas, konnte jeder das Donnern des tödlichen Strahls verspüren. Einen Schritt vor, und alles wäre aus. Wer es draußen am Rand wagte, so dicht und ohne festen Schutz an das aktive Phänomen heranzutreten, wurde vom Sturm des Druckausgleiches hineingezogen und vaporisiert.

Für manche war das Glashaus eine Touristenattraktion der besonderen Güte für Superreiche und Sponsoring. Für andere ein geschmackloses Tollhaus, perfide Perversion, fern von jeder Moral. Gedachte man so der Opfer? Wie an so vielen Dingen schieden sich auch hier die Geister. Bone war natürlich ein wahrer Fan.

„Warst du schon mal da drin?“, fragte er.

Caren sah hinüber. Ihre Erinnerung war noch sehr präsent.

„Einmal.“

„Und?“, wartete er neugierig.

„Und was? … War cool. Ein irrer Ausblick.“

„Das meinte ich nicht. Hast du dich getraut?“, fragte er erneut.

„Ach so, ja. Ich bin auch rausgefahren. Mehr aber nicht“, antwortete Caren und sah auf das Geländer, das sie festhielt.

„Schade. Das ist ein unglaublicher Moment. Es ist, als spüre man den Zündfunken einer Atombombe am eigenen Leib.“

„Wirklich? Da kann ich drauf verzichten.“

Der schwache Nervenkitzel des Glashauses konnte sie nicht erschrecken. Das war sicheres Terrain. Viel mehr dachte sie an den baldigen Start der Explorer. Kein sicherer Glasboden, der sie zurückzog, bevor es brenzlig wurde.

Ihre Finger umschlossen den kalten Stahl des Geländers. Sie rüttelte kurz, als prüfe sie die Standfestigkeit. Unweigerlich untersuchte sie Schrauben und Flecken auf Spuren von Rost.

„Wie lange steht das hier schon?“, fragte sie verunsichert.

„40 Jahre? Jahr für Jahr“, antwortete Steven leise. „Fast so alt wie der Wall. Beinahe so alt wie ich.“

Voller Unbehagen schaute Caren in die Tiefe hinunter. Der Abgrund war überwältigend. Nirgends auf der Erde gab es einen vergleichbaren Höhenunterschied. 18700 Meter. Unten gab es sogar Wolken und Nebel, der die freie Sicht auf das Artefakt einschränkte. Die Breite des Abgrunds ließ genügend Licht in die Tiefe, so dass es tagsüber niemals dunkel wurde.

Bronzefarben und metallisch schillerte die glatte Oberfläche des unförmigen Gebildes. Eine ungleichmäßige kegelförmige Spitze ragte ohne erkennbare Nahtstellen, wie aus einem Guss, aus der Tiefe empor und durchstieß den darüber gelegenen Wolkenschleier. Bedrohlich und faszinierend zugleich warf es der Menschheit Rätsel und Fragen in den Raum.

„Ist denn nichts Neues bekannt, seit dem letzten Versuch? Was passiert denn da unten?“, fragte Caren. Von den Forschungslaboratorien in über 18500 Metern Tiefe konnte sie nichts erkennen. Vermutlich lag alles unter den Wolken. Dort unten war sie noch nie gewesen. Wahrscheinlich waren es ganz ähnliche Räume wie das Glashaus. Im Fels versteckt, tief unter dem geschmolzenen Meeresboden in der Erdkruste, konnten jene Forscher das Phänomen beobachten wie sonst niemand. Keiner den sie kannte, abgesehen vom Admiral, war je ganz unten gewesen.

„Wenn ich das nur wüsste“, murmelte Bone. „Ich möchte da gar nicht runter. Soll der heißeste Arbeitsplatz auf der Welt sein.“

„Seid froh, dass ihr hier oben steht. Dort unten ist niemand sicher“, meinte Admiral Cartright andächtig.

Wahre Worte, denn die Felsen bargen den Tod. Sieben Jahre war es her, dass sich mutige, entschlossene Bergarbeiter und Forscher in die Tiefe wagten, um dem Artefakt sein Geheimnis zu entlocken. Mehrere der besten Bohrteams, die man für Geld bekommen konnte, versuchten in fünfmonatiger Schwerstarbeit unter das Artefakt zu gelangen. Sie gingen direkt in die Hölle. Ihr Tod kam so plötzlich und schnell, dass auch der doppelte Sicherheitstunnel niemanden zu retten vermochte. Der mysteriöse, ungeklärte Bruch der Tunnelwand führte zum tragischen Tod aller Beteiligten. Innerhalb weniger Minuten flutete flüssiges Magma sämtliche Tunnel. Sie hatten nicht die geringste Chance. Wenn sie nicht die ungeheure Hitze des Magma verbrannte oder einschloss, dann doch die giftigen Dämpfe oder der zur neige gehende Sauerstoff. Jegliche Rettung war unmöglich. Es hätte Monate gedauert, um deren Position zu erreichen. Seitdem hatte niemand mehr einen neuen Versuch gewagt und die Tunnel blieben verschlossen.

„Die armen Schweine“, erinnerte sich Bone. „Mit denen möchte wohl niemand tauschen.“

„Es ist zwecklos, weiterhin an diesem Ding zu experimentieren. Überall Magma. Wir kommen einfach nicht ran.“

„So ist es, mein Sohn. Um diese Fragen hier auf der Erde zu beantworten, fehlt uns die nötige Technologie. Wir wählen einen anderen Weg. Vielleicht kommen wir so zu den Antworten.“

In diesem Punkt waren sie zumindest einer Meinung.

„Admiral?“, fragte Caren.

„Nicht doch, meine Liebe. Wir gehören doch schon fast alle zur Familie. Nennen Sie mich James.“

Erneut versuchte sie ihre Frage zu stellen, traute sich nur kaum den Oberbefehlshaber beim Vornamen zu nennen.

„James, Sir!” Sie schaute den Admiral verlegen an. Er könnte schließlich ihr Vater, ja sogar ihr Großvater sein.

„Ja, Caren? Nur zu! Stellen Sie Ihre Frage.“

„Wenn ich das sagen darf, für mich und viele meiner Kollegen sind Sie etwas ganz Besonderes, Sir. Sie sind lebende Geschichte, ein Augenzeuge. Erzählen Sie uns von jenem Tag! Etwas, das nicht überall in den Geschichtsbüchern steht. Wie erlebten Sie diesen Tag?“

Es war sein Lieblingsthema. Aber genau hier, an diesen Ort, auch ein denkbar ungünstiger Moment, eine solch aufwühlende Frage zu stellen. Steven blickte mahnend zu Caren und versuchte von der elenden Frage abzulenken.

„Es wird Zeit. Lasst uns zurück an Bord gehen.“

„Nein wartet! Einen Moment haben wir noch. Eine, wie ich finde, wichtige und bedeutsame Bitte.“

„Dad, wirst du es nicht langsam leid, diese Geschichte immer und immer wieder zu erzählen?“, warf er ihm fast kränkend vor, ohne an die Konsequenzen zu denken.

„Ihre Frage soll beantwortet werden. Kommen Sie näher, Caren. Ich beiße nicht.“ Er sah Steven ebenso mahnend an, als hätte er dessen Blick zuvor bemerkt.

Zu spät erkannte Caren die unangenehme Situation. 

„Sir, so wichtig war mir die Frage gar nicht. Wir sollten uns lieber in den Hangar begeben.“

„Nein, nein, bleiben Sie. Ich möchte Ihre Frage gern beantworten. Persönlich und dramatisch soll es sein, aber zu unbedeutend für die Geschichtsschreibung. Richtig? Ich denke, ich kann damit dienen.“

„Sir, so meinte ich das nicht“, entschuldigte sich Caren.

„Schon gut, wir haben noch Zeit.“

Dann drehte er sich zum Geländer um und begann furchtbare Details aus seiner Erinnerung auszugraben.

 

Nun mussten alle zuhören.

 

Exploration Capri: Inferno
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