Landurlaub
Es war Nacht, gegen 1:30 Uhr. Vor drei Stunden war die Sonne untergegangen, doch es wurde einfach nicht dunkler. Eher beginnende, seichte Dämmerung. Über zwei Stunden hatte sich die Sonne für ihren imposanten Untergang Zeit gelassen. Ein endlos langer, wunderschöner Sonnenuntergang über dem Meer, viel länger als in Italien oder Deutschland. In wenigen Stunden würde sie schon wieder aufgehen.
Die Neigung der Erdachse zwang sie auf ihren flachen Stand. Alles an diesem Ort war anders als gewohnt. Keine nächtlichen Schatten, kein Sternenhimmel. Die Sonne schien 19 Stunden und ließ sich sehr lange Zeit, ehe sie aufging und wieder versank. Dabei verschwand sie nie so weit unter den Horizont, dass es Nacht wurde. Kaum ein Stern vermochte es, sich am zu hellen Firmament zu behaupten. Lediglich die Venus, der nahe Abendstern, erschien ganz schwach im Nordwesten, ehe sie langsam in die stille Labradorsee eintauchte.
Nur ganz leise rauschte der leichte Wellengang am Ufer. Ein langer Anlegersteg führte in die See hinein. Nicht weit vom Ufer entfernt standen zwischen einer Gruppe von Bäumen vier geräumige weiße Wabenzelte, umgeben von mehreren metallenen Stangen, die einen aktiven rötlich schimmernden Laserschutzzaun bildeten.
Inmitten des Zeltlagers saßen vier Personen unter wärmenden Decken am knisternden Lagerfeuer gemütlich beisammen. Es war ihre letzte gemeinsame Nacht unter freiem Himmel. Die letzte Nacht auf diesem Planeten. Mit sieben Grad Celsius über dem Gefrierpunkt war es eine angenehm milde Nacht für den 64. nördlichen Breitengrad. Der schwache Lichtschein des nahen Lagerfeuers war bei dieser Helligkeit noch zu unbedeutend, doch die knackende Wärme war eine besondere Wohltat.
Ferne Tiergeräusche durchdrangen die Stille der Nacht. Sie waren ebenso ungewöhnlich wie sie fremd waren für dieses Land. Erst vor 25 Jahren wurden sie hier angesiedelt, um deren Bestand zu schützen. Neuer Lebensraum für Bären, Wildschweine, Füchse, Wölfe, Rotwild und andere nordische Arten Kanadas, Skandinaviens und Nordrusslands.
„Hörst du das? Was war das?“, fragte Susannah hellhörig.
„Klang wie ein Elch oder ein Hirsch?“, meinte Caren, war sich aber nicht sicher.
„Kaum zu glauben, dass hier vor 30 Jahren noch Gletscher waren, oder? Fantastisch. Obwohl ich künstlich besiedelte Lebensräume unheimlich finde. Ich weiß nicht, wie lange das noch gut geht, wenn wir uns überall einmischen. Ich meine, die Natur hatte schließlich einen Plan.“
„Biologen sind mittlerweile Naturdesigner. Denk nur mal an das Atrium der Columbus-Station. Wir planen und überlassen der Natur den Rest. Ich finde es schön hier“, meinte Caren. Wieder hörten sie Tierlaute und Rascheln. Dieses Mal deutlich näher.
„Da, da war es schon wieder.“
Caren amüsierte sich über Susannahs schreckhafte Reaktionen. Sie musste ihr aber zustimmen. Es war befremdlich, diese Tierstimmen hier in diesen Breiten zu hören.
„Wie gut, dass uns der Zaun vor großen und gefährlichen Tieren schützt“, meinte Caren sorglos.
„Ja. Den brauchen wir auch. Tolle Beschützer haben wir hier“, kraulte Susannah ihren Mann, der bewusstlos mit Brille und Cyberhandschuhen in ihren Armen lag. „Gibt’s hier eigentlich auch Pumas und Grisleys?“, fragte Susannah unsicher.
„Weiß nicht genau. Glaub schon. Aber keine Sorge, die meiden Feuer und Menschen.“
Keiner von ihnen, weder Caren Staff noch Susannah Cortez, konnten mit Bestimmtheit sagen, was sie da gehört hatten. Die anderen beiden, William Roddam und Steven Cartright, hörten nichts von allem und trieben sich lieber in den Weiten virtueller Welten umher.
„Was der wohl gerade treibt? Wie kann man das Ding der realen Natur vorziehen?“, fragte sich Susannah. Sie begriff es nicht. „Männer!“
Zu dieser späten Stunde war Steven das Versuchsobjekt von Williams ewigem Spielbegleiter. Beide waren völlig weggetreten, gefangen in einer anderen Welt, bis Steven plötzlich seinen schweren, virtuellen Verletzungen erlag. Er zuckte aufgebracht auf.
„Du Arsch!“
Völlig verwirrt und benommen war er wieder in der Wirklichkeit angelangt und riss sich das V3R-System vom Kopf, ohne drauf zu achten, es nicht kaputt zu machen. Verstört warf er es neben sich auf die warme Decke, riss seinen Pullover hoch und betastete sofort seinen Bauch, wo eben noch blutige Wunden klafften.
„Nichts. Ich lebe noch“, schnaufte Steven erleichtert.
„Natürlich lebst du noch. Wie findest du meine Mission?“, fragte sein Kumpel begeistert. „Hast dich wacker geschlagen.“
„Das war doch Absicht!“, rief Steven verärgert.
„Du wolltest doch eine Herausforderung.“ Auch William nahm sein V3R-Headset ab.
„Ja, aber nicht mit dem Ende“, entgegnete Steven suchend.
Rasch zog Steven sein Unterhemd hoch, um seine nackte Haut auf Unversehrtheit zu prüfen. Nichts. Keine Schmerzen mehr. Es waren eher unangenehme Phantom-Erinnerungen, die ihn noch plagten. Erleichtert und frei von tödlichen Verletzungen, zog er die wärmende Decke höher.
„Was ist denn los, Schatz? War wohl nicht so toll, was?“, fragte Susannah kopfschüttelnd.
„War das verrückt. Das war so…“
„Echt? Wahnsinn, was?“, erwiderte William, der unter Freunden für gewöhnlich den Spitznamen Bone trug.
„Nein. … ich meinte, es ist krank. Als ich sagte, dass ich eine Herausforderung wollte, bedeutete das nicht: Töte mich so schmerzvoll wie du kannst.“ entgegnete Steven.
„Nun komm mal wieder runter. Du hast doch noch gar nichts gesehen. Das Teil kann wesentlich mehr. Pass auf, ich such mal jetzt etwas mehr nach deinem Geschmack“, wollte er Steven überzeugen.
„Wie kannst du das nur freiwillig spielen? Findest du das nicht pervers? Du scheinst auf Schmerzen zu stehen. Ich spüre die Pfeile noch immer, wie sie in meinem Körper stecken. Du hast doch die ganzen Gegner auf mich gehetzt“, beschuldigte er Bone des glatten Mordes.
„Die paar Ritter und Knappen. Wie konntest du trotz HK220 noch ins Gras beißen? Du wirst alt, mein Lieber.“
„Na, vielen Dank. Ich wusste nicht mal mehr, wer ich bin. Nochmal mach ich das nicht.“
„Quatsch! Du weißt gar nicht, was dir entgeht“, konterte Bone.
„Das hat nichts mehr mit Gaming zu tun. Das ist was ganz anderes.“
„Richtig. Weil es viel intensiver und gefühlsechter ist. Wie echter Sex ohne Kondom“, grinste Bone.
„Darum mag ich es nicht, es ist mir zu intensiv“, lehnte es Steven vehement ab und bereute den Satz, kaum hatte er ihn ausgesprochen.
„Was? Du magst keinen Sex? Nur mit Gummi? Arme Sue.“
„Verarsch mich nicht. Du weißt, wie ich das meine.“
„Magst du es gefühlsecht?“, lästerte Susannah und schaute ihre Freundin interessiert an.
„Och, gelegentlich schon“, spielte Caren verlegen mit.
„Ahja, interessant. Warte. Ich such was Besseres für dich. Extra gefühlsecht für Steveboy.“ Euphorisch kramte Bone in einer kleinen Holzschatulle voller Datenträger herum. Er war sich sicher, das Richtige für Steven zu finden.
„Welches Genre willst du? Action nicht. Simulation, einen Waldspaziergang oder vielleicht einen flotten Dreier?“
„Also jetzt hör aber auf!“, reagierte Susannah empört.
„Nein, danke. Mir reicht’s. Einmal sterben ist genug. Wer weiß, durch welchen Spießrutenlauf du mich dann durchscheuchst.“
Einerseits war er verblüfft, ja geradezu begeistert von der realitätsnahen Simulation, der absolut naturgetreuen, spektakulären Grafik und des Zusammenwirkens aller Sinne dieses V3R-Systems. Es bot das perfekte Mittendrin-Gefühl. Andererseits missfiel ihm die emotionale und körperliche Beeinflussung. Er hatte keine Lust, sich Bones Spielchen ein weiteres Mal auszusetzen. Während Steven in diesem „Spiel“ um sein Leben kämpfte, hatte Bone die völlige Kontrolle und machte sich einen Spaß daraus, ihm immer neue Gegnerwellen auf den Leib zu hetzen. Nun wurde ihm auch klar, wer die Waffen gewechselt hatte. Was für ein Eldorado für Cheater.
Auf die neuen körperlichen Erfahrungen der Schmerzen oder des Todes hatte Steven ebenso wenig Lust wie auf das Ausbrechen seiner Ängste. Da er sich nicht mit der künstlichen, manipulativen Intelligenz der Computer auskannte, wollte er auch kein Risiko der völligen Durchleuchtung eingehen. Ein paar seiner privaten Erinnerungen gehörten nur ihm und Geheimnisse sollten auch solche bleiben. Wer wusste schon, wozu das Teil noch in der Lage war. Selbst einen privaten Porno vor Bones Augen traute er ihm zu. Er jedenfalls, wusste nicht mehr, wo die Grenze zwischen der Realität und der virtuellen Welt lag. Vielleicht war das auch der Grund für das Exilleben dieses Systems. V3R war zu realistisch und zu gefährlich. Es gab viele Gründe, weshalb dieses System vor einigen Jahren von der Regierung verboten wurde. Suchtgefahr, verbotener Missbrauch und fatale soziale Folgen für die Jugend waren nur der Anfang. Doch es wurde ständig zu dem weiterentwickelt, was es heute war. Ein Instrument der Gedanken-manipulation, das sicher von allen erdenklichen Geheimdiensten der Welt gern genutzt wurde. Das Abbilden optisch realer Welten war nur eine der vielen Facetten und vielleicht die einzig positive Seite. So sehr er Bones Neigung für virtuelle Welten auch kannte, lebte er selbst lieber in der Realität. Die echte Natur konnte man nicht mit Bits und Bytes ersetzen. Und hier und jetzt sollte er lieber den Urlaub genießen, solange das noch möglich war. Aber auf Bone war Verlass. Er ließ nicht locker.
„Jetzt hab ich genau das Richtige für dich“, meinte er euphorisch.
„Ich sagte NEIN!“
„Hier, schau nur einmal. Es ist kein Porno, ehrlich. Hier! Was hältst du vom Mark XI89-Kampfjet-Training.“
„Als Schiffs- und Trainingssimulator ist das Ding absolut fantastisch sein. Aber ehrlich, lass gut sein. Wir haben genug im Simulator gesessen. Jetzt möchte ich ein wenig relaxen.“
Enttäuscht stand Bone auf, hob sein V3R-System auf und sah zu Caren und Susannah hinüber.
„Möchtet ihr es mal versuchen?“
„Nein, danke. Ich ziehe ein gutes Buch vor, wenn du erlaubst“, lehnte Susannah lächelnd ab. Bone nickte, murmelte leise und sah zu Caren.
„Ich auch nicht. Es schön genug hier“, meinte Caren.
„Ihr wisst ja nicht, was richtig rockt.“ Missgelaunt wollte er sich grade umdrehen, als Susannah ihm nachrief.
„Wenn du was anderes Schönes hast oder du mit uns reden möchtest, lass es uns wissen. Dann gerne!“ Charmant wie immer und mit einem liebevollen, dankenden Lächeln beendete sie die Debatte und war sich sicher, das Thema für immer vom Tisch zu haben. Susannah war es gewohnt, dass ihre Ansichten schon bei der ersten Aussprache akzeptiert wurden. Sie war stark und bewundernswert. Außerdem hasste sie Computerspiele. Bone sollte das längst wissen.
„Ich sage dir, er ist hoffnungslos abhängig. Verdammte Sucht.“
„Hast du es jemals ausprobiert?“, fragte Steven Susannah noch, obwohl er wusste, dass es nicht so war und es sie auch nicht interessierte. Susannah schüttelte den Kopf, lehnte sich an seine Schulter, um sich wieder ihrem Buch zu widmen. „Es ist unglaublich intensiv. Die Immersion ist nahtlos perfekt. Man vergisst fast sein wahres Selbst. Ich kann ihn verstehen. Das Teil ist unglaublich.“ Steven war noch immer von der Intensität beeindruckt, positiv, wie auch negativ.
„Ich will nichts mehr davon hören, Schatz.“
Steven blickte über ihre Schulter, um zu sehen, was sie da las. Es war das technische Handbuch der Explorer. Er kannte es auswendig, schriftlich und virtuell.
„Ich dachte, wir wären hier, um uns zu entspannen“, stellte er überrascht fest.
„Ich bin entspannt, wie man es nur sein kann. Einen Tag vor dem größten Tag der Weltgeschichte. Tsss. Caren? Wieso hast du Bones Angebot abgelehnt. Das wäre die Chance gewesen.“
„Weiß nicht. Ich dachte, V3R ist nichts für mich.“
„Schon okay“, meinte Steven. „Er hätte dich auch nur durch Wälder gescheucht.“ Er drehte sich zu Bone um. „Hey!“, rief er seinem besten Freund hinterher.
„Was ist?“
„Tu mal was anderes! Das Ding ist nicht gut für dich.“
„Du weißt doch, dass ich immer gern ein wenig Krach um mich herum habe“, antwortete Bone zynisch.
„Davon bekommen wir noch genug. Ruh dich aus und genieß die Stille der Natur, solange du noch die Gelegenheit hast.“
Bone schien sichtlich nervös, unruhig und angespannt zu sein. Erinnerungen gingen ihm ständig durch den Kopf. Er ging in sein Zelt, um das V3R zu verstauen und kam wieder heraus. „Wenn es nur schon losgehen würde. Wann werden wir morgen früh nochmal abgeholt?“ Er erinnerte sich nicht mehr.
Steven blickte auf seine Uhr.
„Wir haben noch Zeit bis Null-Sechshundert. Leg dich etwas hin. Die nächsten Tage werden hart genug.“
„Ich bin nicht müde. Außerdem haben wir bald mehr als genug Ruhe.“ Wahrscheinlich meinte Bone den langen Kälteschlaf der vor ihnen lag. Jahrelang in eine Kryokammer eingesperrt zu sein, entlockte auch Steven keinerlei Freude ab. Dem konnte er nichts entgegensetzen. Selbst er verspürte keine Lust, die Augen zu schließen und zu schlafen. Caren goss sich Tee nach, sah Bone an und fragte zögernd.
„Möchtest du auch einen heißen Tee? Pfefferminze.“
„Nein Danke, ich hab keinen Appetit.“
Steven zwinkerte Caren zu. Sie war seine Hoffnungsträgerin. Caren Staff, eine unscheinbare 33 Jahre junge Amerikanerin mit kessem, brünettem Kurzhaarschnitt, hatte sich schon seit Trainingsbeginn in seinen besten Freund verguckt. In einer Hinsicht gab er Susannah Recht. Es würde mit den beiden noch Probleme geben, die sie sich während der Mission auf keinen Fall leisten konnten. Caren besaß wie viele der Crewmitglieder zwei Doktortitel, war ausgesprochen intelligent und unentbehrlich. Kaum jemand konnte sich ihrer Faszination entziehen. Auch er mochte sie sehr. Als eingespieltes Teammitglied, Biologin, Ladungsspezialistin und Terraforming-Expertin, konnten sie nicht mehr auf Caren verzichten. Die Alternative des Backupprogramms war ungemein haariger und hatte lange nicht so hübsche Beine.
Caren zog die ausgestreckte Tasse zurück und nahm einen Schluck. Die wohlige Wärme tat gut. Es war kühler geworden. Wie die meisten Frauen am Lagerfeuer wünschte sich Caren nun eine zweite wärmende Person unter ihrer Decke. Doch ihr Wunsch erfüllte sich nicht. Bone ging.
Susannah unterbrach ihr Studium des Schiffshandbuches, legte die ohnehin trockene Lektüre zur Seite und schaute dem Co-Piloten nach. Wenn sie so guckte, musterte sie ihr angepeiltes Ziel psychologisch wie medizinisch. Es war eine Berufskrankheit. Als Doktor konnte sie vermutlich nicht anders.
„Können wir sonst was für dich tun?“, rief sie Bone noch nach.
„Nein. Schon okay.“ Krampfhaft versuchte er, ihr ein Lächeln entgegenzubringen. „Ich werde mal nach den Ködern schauen.“ Dann kehrte er der geselligen Runde den Rücken zu und ging zum Steg hinunter.
Besorgt schauten alle hinterher. Offenbar wollte er sich gerade nicht aufmuntern lassen und lebte mit seinen Gedanken noch immer in der Vergangenheit. Seine anhaltende Trauer hinderte jeden noch so hoffnungsvollen Versuch, ihn ins normale Leben zurückzuholen. Vor allem war es umso tragischer mit anzusehen, wenn sie nicht einmal dem besten Freund helfen konnten. Susannah wirkte ratlos. Ursprünglich hielt sie es für eine gute Idee, doch nun war sie nicht mehr so sicher. Sie beobachteten, wie Bone Richtung Ufer zum Steg ging. Als er den Laserzaun passierte, der das Lager kreisförmig umgab, deaktivierten sich die rötlichen Laserschranken in dem betreffenden Segment wie von selbst. Nachdem er sie passiert hatte, aktivierten sie sich wieder und schlossen den Kreis.
Der breite massive Metallsteg reichte circa 50 Meter in die See hinein. Ganz hinten, am Ende des Steges, konnte sie mehrere Angeln und zwei Klappstühle erkennen. Doch bisher hatte nichts angebissen. Im Erfolgsfall hätten sich die Posen längst akustisch bemerkbar gemacht.
„Geh mal zu ihm. Vielleicht freut er sich“, meinte Susannah.
„Nein, heute nicht mehr. Ich werd schlafen gehen. Ich bin müde“, antwortete Caren niedergeschlagen und ging in ihr Zelt.
„Okay. Dann gute Nacht.“
„Euch auch.“ Caren schloss ihr Zelt.
Auch Steven sah Bone nach, wie er sich setzte und seinen Kopf in die Hände fallen ließ. Bedrückt sah er zu Susannah hinüber.
„Nun sag schon, dass ich mich geirrt habe. Ich werde auch nicht sauer sein“, meinte Susannah traurig.
„Ein ..."Ich hab’s dir ja gesagt"... erspar ich dir. Aber es war ein Fehler, ihn von seiner Arbeit hierher mitzunehmen. Das alles erinnert ihn nur zu sehr daran. Ausgerechnet hier!“
„Ich weiß. Jetzt sehe ich es auch“, antwortete sie leise und schmiegte sich näher an Steven. „Ich hielt es für eine gute Idee.“
„Hmmm.“
Gute Idee. Susannah hatte öfter komische Ideen. Dieser Zwangsurlaub an dem wohl einsamsten Ort der Welt gehörte eindeutig dazu. So kurz vor dem Start während der Vorbereitungsphase das Training zu unterbrechen, konnte nur ihre Idee sein. Oder ging es doch um Caren, dachte er.
Steven traute es beiden Frauen zu. Vermutlich wollte Susannah beide näherbringen. Offenbar war das gründlich schiefgegangen.
Was machten sie nur hier? Susannahs Wärme tat so gut. Der akademische Grad seiner Frau lag weit über seinem. Der Frau, die er liebte, konnte er keinen noch so absurden Befehl verweigern. Urlaub in der Wildnis. Unmöglich, aber dennoch schön. Wenn es um die Gesundheit der Crew oder ein medizinischen Gutachten ging, war sie ihm immer eine Nasenlänge voraus. Sie hatte diesen Ausflug verordnet. Jeder sollte noch einmal auf andere Gedanken kommen. Zum Glück hatte sie nicht die alleinige Befehlsgewalt. Auch er hatte was zu sagen, schließlich war er selbst Commander, ebenso wie sie.
„Aber eins musst du zugeben“, sagte sie plötzlich. „Es zeigt, dass er nicht darüber hinweg ist.“
„Möglich. Aber auf der Station muss er nicht diese Stille und diesen Ort ertragen. Die Arbeit lenkt ihn besser ab.“
„Ich hatte gehofft, Caren könnte ihn ablenken. Es sah schon so gut aus. Bist du dir sicher, ihn wirklich mitzunehmen?“, fragte Susannah nachdenklich.
Steven dachte nach. Bone aus seiner Arbeit herauszureißen, war sicher nicht gut gewesen, aber für die Mission war er der beste Mann. Es gab keine Alternative und versprochen hatte er es auch. Vielleicht würde es zwischen ihnen noch klappen, so wie es sich auch Susannah für beide wünschte.
„Er packt das, glaub mir. Wenn es um den Job geht, behält er immer klaren Kopf. Ich traue niemandem so sehr wie ihm. Und solange ich ihn kenne, haben wir alles gemeinsam getan. Glaub mir, auf ihn ist Verlass. Einen besseren Co-Piloten werden wir nirgends finden.“
„Sagtest du nicht immer, du wärst der bessere Pilot von euch?“
Steven grinste Susannah an. Fast hatte er die alten Spielereien vergessen, die unter Kumpels alltäglich waren. Als die Welt noch in Ordnung war, buhlten sie immer um den Thron der alten Fliegerasse und flogen die gewagtesten Manöver. Zu lange hatten sie ihre Leben als Testpiloten riskiert. Bis … bis zu jenem Tag. Ein einziger Tag, der alles veränderte. Sie machten nie wieder Scherze darüber und Bone trat den Thron freiwillig ab.
„Wir können ihn unmöglich hier zurücklassen.“
„Wenn du meinen fachlichen Rat als Schiffsärztin hören möchtest. Ernsthaft, er ist nicht bereit. Es ist schon fünf Jahre her. Du siehst es doch selbst, wie instabil er manchmal ist und wie er sich verschließt.“
„Das sagst du ausgerechnet hier? Wie konntest du…“
„Ja, das war Absicht. Ich musste wissen, wie er es wegsteckt“, schaute Susannah ernst und zugleich verletzt. Sie wollte das doch auch nicht.
„Er ist unser Freund und gehört zur Familie. Vergiss das nicht!“
„Das weiß ich doch!“, warf sie entschuldigend ein. „Ich habe nur als Ärztin gesprochen.“
„Wenn er noch nicht soweit ist, dann nur, weil wir ihm als seine Freunde nicht genug geholfen haben. Vielleicht haben wir Schuld“, meinte er betroffen. „Wir waren nicht genug für ihn da.“
„Oder er will sich einfach nicht helfen lassen. Er trauert viel zu lange und kann nicht loslassen. Das kannst du nicht leugnen.“
„Ich kann nicht glauben, was du sagst. Du siehst alles zu schwarz.“ Betrübt lehnte er sich zurück. Meistens steckte ein Funken Wahrheit in ihren Aussagen. Er wollte sich nicht mit ihr streiten.
„Steven, du kannst nicht mehr objektiv denken. Was würdest du tun, wenn er nicht unser Freund wäre. Würdest du so jemandem das Schiff anvertrauen?“
Beide schwiegen einen Moment, blickten sich vorwurfsvoll an. Dann versuchte Susannah erneut auf seine Vernunft zu pochen.
„Ich weiß, er ist dein bester Freund, und ich mag ihn auch sehr, aber er hat das psychologische Gutachten nicht bestanden. Und das mehrfach. Ich hätte ihn gar nicht zulassen dürfen.“
„Gutachten.“ Für Steven waren es meist nur nutzlose, belanglose Papiere. Er bildete sich lieber selbst eine Meinung, lernte Menschen persönlich kennen, als sie anhand von Zeugnissen zu beurteilen. Und er kannte Bone genau wie einen Bruder. Er brauchte keine Gutachten.
„Herrgott, vergiss nicht, was er durchgemacht hat.“
„Das hab ich nicht. Aber selbst du weißt, dass das Projekt deines Vaters an erster Stelle steht. Er darf die Mission nicht gefährden!“
„Das wird er nicht. Ich vertraue dir, Sue. Aber bei Bone liegst du falsch“, beschloss er die Diskussion zu beenden. „Wenn wir morgen abgeholt werden, frage ich ihn. Es ist ganz allein seine Entscheidung. Aber ich sage dir, er wird die Mission nicht gefährden. Und du solltest seine Entscheidung akzeptieren. Wenn nicht für ihn, dann für mich.“
Auf die ruhige See starrend, saß Bone am Rande des Stegs auf seinem Stuhl und warf kleine Steine ins Wasser. Kreisförmige Wellen zogen über die Oberfläche. Ob die Fische anbissen oder nicht, spielte keine Rolle. Als sich das Wasser beruhigt hatte, erkannte Bone die schwachen Spiegelungen. Abwesend schaute er zum Himmel hinauf. Die Nordlichter flammten grünlich auf, veränderten ihre schönen Formen. Es war noch zu hell, als dass sie ihre wahre Pracht entfesseln konnten. So weit nördlich gehörten sie zum normalen Bild wie Schnee und Gletscher. Und doch war das Eis in dieser Region schon vor vielen Jahrzehnten zurückgewichen. Die meisten Berge waren begrünt. Inzwischen wuchsen hier echte Wälder.
Wie fast überall, spielten die Menschen auch auf diesem Eiland Gott. Nachgeholfen oder nicht. Längst hatte die Natur ihr Gleichgewicht verloren.
So wie hier, auf Grönland.