T.S. Phönix 261
Ein anderer Reißverschluss öffnete sich und eine Taschenlampe blendete seine dunkelbraunen Augen. Schweißgebadet richtete sich Bone auf, versuchte Konturen im grellen Gegenlicht zu erkennen.
„Wer ist da? Leuchte woanders hin!“, maulte er müde.
Der Lichtkegel senkte sich etwas. Es dauerte ein wenig, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnten.
Steven sah ihn an. An dem Ausdruck seiner Augen und der durchnässten Kleidung erkannte er sofort, dass sein bester Freund wieder einen Alptraum gehabt haben musste. Schon oft hatte Bone ihm von seinem Kummer und den grausamen Einzelheiten immer wiederkehrender Träume erzählt. Diese verfluchten Alpträume. Es kam einem Wunder gleich, dass er nicht selber schon davon träumte. Steven beleuchtete sich selbst und knipste das Licht dann aus.
„Ahh, du bist es. Komm rein! Du könntest ruhig einen Ton sagen. Ich spring dir schon nicht an den Hals.“
„Wie geht’s dir?“, fragte Steven und sah sich etwas um.
„Komm rein und mach die Tür zu. Es wird kalt.“
„Guten Morgen. Zieh dich um und mach dich fertig! Wir werden bald abgeholt.“
„Wie spät ist es denn?“, fragte Bone und reckte sich.
„5:40 Uhr.“
„Na dann. Zeit aufzustehen.“
„Bist du okay?“, fragte Steven noch vom Vorabend besorgt.
„Ja, klar. Es geht mir gut.“
Bone sah ihn an, musterte seinen zweifelnden Blick.
„Mach dir nicht immer solche Sorgen. Ehrlich, ich bin gut drauf. Solange es endlich losgeht. Ich steh auf Action, weißt du doch.“
„Okay, wir sehn uns draußen.“
Die Morgensonne stand ganz flach und kroch hinter den Bergen entlang. Erst im Verlauf des Vormittags würde sich hier die Sonne zeigen und im Wettlauf mit dem Mond den Himmel erklimmen.
Caren schlich um die Zelte. Eingewickelt in dicke Decken, genoss sie den neuen Morgen. Der nordische Sommer stand vor der Tür. Doch es war frisch und kalt. Im Osten, weit, weit entfernt, sah sie einige weiße Berge. Die Vorläufer des Festlandeises. Im Westen, gleich hinter dem nächsten Arm, lag die Labradorsee, die zum nördlichsten Teil des Atlantiks gehörte. Warm würde es hier nie werden. Doch sie war auch nicht zum Baden hergekommen. Baden konnte sie in Nuuk oder auf der Station. Dennoch wäre ein warmes Bad oder eine heiße Dusche nach zwei kalten Nächten nicht zu verachten.
Caren blickte über die See und holte tief Luft. Nur selten hatte sie so klare und frische Luft geatmet. Hier draußen schien die Natur noch unberührt zu sein, aber in Wirklichkeit hatte der Mensch dieses neue Idyll künstlich angelegt. Erst bei genauem Hinsehen waren viele weiße Flecke an der gegenüberliegenden Uferseite der Bucht zu erkennen. Jeweils 500 Meter Abstand lagen zwischen den einzelnen Camps.
Es war ein Urlauberdomizil für Hartgesottene. Ihr eigenes Zeltlager bestand aus vier mannshohen weißen Wabenzelten, umgeben von dem Stufe-Drei-Laser-Schutzzaun, der bereits deaktiviert war. Während Caren in der restlichen Glut des nächtlichen Feuers herumstocherte, stapelte Susannah mehrere Taschen zu einer kleinen Pyramide. Zu einem Halbkreis angeordnet, stand jedes Zelt des fest installierten Campinglagers so, dass die Eingänge auf die Feuerstelle gerichtet waren. Immer wieder schaute Caren auf Bones Zelteingang, der noch verschlossen war. Sie konnte hören, wie er sich gerade umzog.
Als sich die Phönix über Intercom meldete, befand sich Steven auf dem Steg und packte die Angelausrüstung zusammen. Zuerst bemerkte er kaum, wie der Kommunikator an seinem Handgelenk vibrierte und piepte. Erst die Stimme machte ihn hellhörig.
„Transportshuttle Phönix 261 an Commander Cartright. Bitte kommen.“
„Mist, ausgerechnet jetzt“, murmelte er und aktivierte die Funkverbindung. „Cartright hier. Phönix, ich höre Sie.“
„TS Phönix 261, erbitten Landekoordinaten für …“
Der Funkspruch brach mitten im Satz ab, als plötzlich eine tiefere, deutlich ältere Stimme übernahm.
„Musstet ihr euch hier draußen so gut verstecken? Am besten aktiviert ihr eure Peilung für das ILS.“
Die Stimme klang sehr vertraut. Zögerlich antwortete er.
„Roger Phönix, gebt uns ein paar Sekunden.“
Mühsam griff er die Kanister und Angeln, wobei er kaum noch eine Hand frei hatte. „Kann mir mal jemand helfen? Bone? Raus aus den Federn! Komm schon. Aktiviere bitte das Peilsignal. Wir werden abgeholt.“
„Moment, bin gleich soweit.“ Bone kramte im Zelt, dann öffnete sich der Reißverschluss.
„Guten Morgen“, lächelte Caren ihm von draußen entgegen.
„Hey, Morgen. Stevieboy? Wo ist der Peilsender?“
„In meiner Tasche, vorne rechts.“
„Okay, hab ihn.“ Bone ging zum Landeplatz und aktivierte den Sender. „Phönix? Können Sie das sehen?“
„Roger. Alles klar, wir sind in zwei Minuten bei euch.“
„Wir bekommen hohen Besuch. Mach dich schick“, näherte sich Steven vollbepackt.
„Was? Dein alter Herr holt uns persönlich ab?“, fragte Bone ungläubig. „Er hat wohl Sehnsucht.“
„Ja, sieht ihm gar nicht ähnlich.“
Ein Surren näherte sich von Süden, dann kam die Phönix auch schon über den Bergkamm geflogen und setzte zur Landung an. Die unteren Triebwerke waren so fortschrittlich, dass sie kaum noch Dreck aufschleuderten. Vielleicht lag es aber auch am Boden der Landeplattform, der so sauber war, dass man davon hätte essen können.
Alle modernen Flugzeuge, Shuttles und was sich noch so in der Luft bewegen konnte, waren Senkrechtstarter. Große Landebahnen gehörten der Vergangenheit an. Relikte des frühen Jahrhunderts. Immerhin konnte die Natur so wenigstens einen Teilsieg für sich verbuchen. Weniger Pisten und Beton bedeuteten mehr natürlichen Boden. Aber es war ein Trugschluss anzunehmen, die Natur hätte eine Chance gegen das moderne Verkehrswesen. Zwar wurde das ohnehin überaus flächendeckende Straßennetz nicht weiter ausgebaut und Rollbahnen abgerissen. Dafür gönnte sich die gesamte Oberschicht, und alle, die was auf sich hielten, private Landeports für ihre Luxusvehikel, direkt neben ihren Villen. Kleine wendige Shuttles verdrängten zunehmend Autos, Jets und Helikopter. Die Spaltung der Klassengesellschaft zeichnete sich mehr denn je vor allem im Verkehr ab. Die Wohlhabenden flogen schneller und höher, während sich die Armen mit den alten Straßenkreuzern begnügen mussten.
In strahlendem Weiß, der klassischen Farbe der ISA, fuhr die Phönix ihr Landefahrwerk aus und setzte nur 35 Meter vom Zeltlager entfernt auf. Nun stand das 18 Meter „kleine“ Geschoss, das man ohne Beleidigung als Kugelporsche der Luftfahrt bezeichnen konnte, direkt vor ihren Füßen.
„Bereit, in die Geschichte einzugehen?“, fragte Steven.
„Sicher. Hier hält mich nichts mehr.“
„Dann los!“, antwortete Steven mit einem Lächeln und boxte Bone leicht gegen den Oberarm. Entschlossen packten sie ihre Taschen und gingen gemeinsam auf das Shuttle zu.
Hydraulisch öffnete sich am Heck langsam die Ladeluke, die auch als Einstieg für die Passagiere gedacht war. Ein älterer, großer, grauhaariger Mann mit ebensolchem Vollbart trat, seinen Kopf duckend, in schwarzgoldener Gala-Uniform heraus. Ein breites Lächeln umspielte seine Lippen.
„Einen wundervollen Ort habt ihr euch hier ausgesucht. Herrlich, diese Ruhe.“ Der Admiral holte tief Luft. „Kompliment an den Reiseleiter.“
„Das wäre dann ich“, rief ihm Susannah munter entgegen.
„Guten Morgen. Wie war der Flug?“, grüßte Bone etwas zu förmlich.
„Hallo, William. Nicht so steif!“, entgegnete James mit einem weiteren Lächeln. „Ihr wart schwer zu finden.“
„Guten Morgen, Sir“, sprach auch Caren schüchtern. Der Admiral küsste sie auf die Wange.
„James. Schön dich zu sehen.“ Susannah vergaß die militärischen Grußregeln und umarmte den alten Mann. Nur Steven hielt sich zurück, ließ allen den Vortritt und beobachtete die Grußformeln und das Händeschütteln aus der zweiten Reihe.
„Sorry, Sohn. Ladys first“, umarmte Admiral Cartright noch immer Susannah und half ihr anschließend mit der Tasche auf.
„Wie immer ein Gentleman. Ich schaff das, danke James.“
„Dad? Ich bin erstaunt. Du kommst uns persönlich abholen?“
„Ich wollte mal schauen, was mein Junge so macht.“
„Nenn mich nicht Junge. Ich bin fast 40.“
„Schon gut, Sohn. Komm! Es gibt viel zu erzählen.“ Väterlich legte er seine Hände auf Stevens und Bones Schultern und ließ den Frauen den Vortritt.
„Nach Ihnen, meine Damen. Wir haben noch etwas Zeit. Erzählt erst mal, wie euer Urlaub war.“
Nachdem alle ihre Sachen verstaut und ihre Plätze eingenommen hatten, schloss sich die Heckluke und das Shuttle hob zügig ab. Minuten später befanden sie sich bereits in der Stratosphäre weit über dem Atlantik. Hier oben in 45000 Metern Höhe war die Luft dünn genug und die Reibung so gering, dass die Phönix bei ihrer maximalen Reisegeschwindigkeit nicht auseinanderriss. Ihr Ziel lag knapp 4000 Kilometer, circa eine halbe Stunde Flugzeit, entfernt. Im Innern des Shuttles war kaum etwas vom Flug zu spüren. Weder ein Rütteln noch das leise Surren der Turbinen störte jemanden. Überhaupt glich das großzügige Innere keinem herkömmlichen Flugzeug, sondern eher einem gemütlichen Reisemobil oder einer Stretch-Limousine mit allem erdenklichen Komfort.
Während die Phönix drei Zeitzonen überholte, sahen alle hinaus, wie die Sonne in ihrer vollen Schönheit am frühen Morgen rasend den Himmel emporstieg, als hätte sie es heute besonders eilig. Dabei flog die Phönix nur der aufgehenden Sonne entgegen.
Bone saß in Gedanken versunken allein an der linken Fensterseite und starrte aus dem ovalen Fenster hinaus. Grellblendendes Sonnenlicht schien ihm seit Minuten ins Gesicht, ohne dass er blinzelte. Seine Pupillen waren verengt. Was mochte in seinem Kopf vorgehen, dachte Susannah. Sie hörte dem Gespräch zwischen Steven und seinem Vater gar nicht mehr zu. Ermutigend gab sie stattdessen Caren ein Zeichen, sich neben Bone zu setzen. Auch wenn sie gewisse Zweifel um das zukünftige Glück der beiden hatte, wünschte sie es ihnen sehr. Vielleicht könnte Caren den leeren Platz in seinem Herzen füllen. Ihre beste Freundin schaute schon länger zu ihm hinüber. Der leere Platz neben ihm war ihre Chance.
„Trau dich!“, flüsterte sie ihr zu.
„Meinst du wirklich?“, fühlte sich Caren etwas ertappt. Ohne nachzudenken, hatte sie sich selbst verraten.
„Mach schon, bevor sich jemand anders dort hinpflanzt.“
Wortlos stand Caren auf, beugte sich sanft über Bone, der ihre Annäherung nicht mal bemerkte. Auch der süße Duft ihres Parfüms blieb ohne Erfolg. Unsicher, ob er in diesem Moment ihre Anwesenheit duldete, blickte Caren erneut zurück. Susannah ermutigte sie nochmals mit einem Lächeln.
Jetzt oder nie, dachte sich Caren und nahm allen Mut zusammen, um den Kloß im Hals endlich beiseite zu schieben.
„Wunderschön, nicht?“, sagte sie leise.
„Was?“ Bone blickte sich verwirrt um. „Wie bitte?“
„Die Sonne. Ich sagte, dass sie wunderschön ist.“
„Ähm ja, stimmt. Ich genieße grad die Wärme.“
„Wird ziemlich lange dauern, bis wir sie wieder sehen.“
„Hmmm, vielleicht werden wir sie auch nie wieder sehen“, sagte er abwesend.
Caren sah ihn verwundert an.
„Wie meinst du das?“, fragte sie.
„Es heißt, Capri Solaris soll eine noch schönere Rotfärbung haben als unsere Sonne. Möglicherweise bleiben wir dort. Wir werden schließlich die ersten Kolonisten sein. Wenn es mir dort gefällt, gibt es keinen Grund, wieder zurückzukehren.“
Erleichtert lächelte Caren. Kein schlechter Gedanke.
„Du hast Recht. Blicken wir nach vorn. Ich freu mich drauf. Wenn du magst, schauen wir uns dort zusammen den ersten Sonnenuntergang an.“
Beide sahen sich an. Caren stand immer noch über ihn gebeugt.
„Klar, das machen wir.“
„Wirklich?“, versicherte sich Caren nochmals.
„Versprochen. Du kannst dich gern zu mir setzen“, bot er ihr endlich einen Platz an. Das ließ sich Caren nicht zweimal sagen und nahm lächelnd Platz.
Zusammen blickten sie der aufgehenden Sonne entgegen, die im Osten immer höher aufstieg.
„Wir werden sie wieder sehen“, war sich Caren sicher und sah auf seine Hände. Zwei Ringe glänzten um die Wette. Nervös spielte Bone mit einem. Sie wusste, von wem er war. Bone hatte seinen Ehering nie abgelegt.
Langsam neigte sich die Phönix, so dass die Sonne den Horizont entlang wanderte. Dann ertönte eine Durchsage aus dem Cockpit.
„Admiral, wir landen in vier Minuten. Schnallen Sie sich an! In unserem Zielgebiet befindet sich ein schweres Sturmtief.“
„Wie heißt denn die Gute?“, fragte James. Dieses Jahr war wieder Damenwahl.
„Johanna, Sir“, rief der Pilot nach hinten.
Im steilen Sinkflug flog die Phönix dem sicheren Boden entgegen, doch inmitten der von Blitzen durchzuckten grauenschwarzen Wolkendecke konnte niemand etwas entdecken. Irgendwo unter ihnen lagen der Stiefel Italiens und das größte zu lösende Geheimnis der Menschheit.
Ein uraltes Rätsel einer längst vergangenen Zeit.