Capris Aufstieg
Der furchtbarste Vulkanausbruch der Moderne dauerte schon mehr als sieben Minuten. 11:32 Uhr.
Der Vesuv wütete noch immer und dominierte mit seiner gigantischen Aschewolke die gesamte Bucht. Ganz Neapel und die meisten Städte rund um den Vesuv brannten wie einst Rom.
Wie nach einem verheerenden Luftangriff war jedes rettende Netz der Stadt zusammengebrochen. Unkontrollierte Großfeuer fraßen sich durch die Straßen der Innenstadt.
Die Millionenstadt schien ihrem Untergang geweiht, doch niemand bemerkte die andere Gefahr, welche die Insel Capri bereits unter ihrem Grund erschütterte.
Wie aus dem Nichts erklangen plötzlich mehrere dumpfe, metallische Geräusche, deutlich wahrnehmbar, tief unter dem Meer. Unter Capri. Die Geräusche waren unheimlich, fremd und von solcher Intensität, dass jeder sie bemerkt haben musste.
„Hast du das gehört? Woher kam das?“, fragte Marion an Bord der Vici.
„Was war das, Daddy?“, wollte auch James wissen.
Alle schauten George an, als ob er die Antworten auf all diese Fragen hätte.
„Kam das von unten?“, fragte Marion.
„Ich habe keinen blassen Schimmer.“ Er sah Marion ebenso ratlos wie besorgt an. „Das klang nicht natürlich.“
Auf ganz Capri schauten die Menschen einander fragend an, was wohl diese Geräusche zu bedeuten hatten. Sie konnten es kaum orten. Das Beben gab endlich nach und einige Sekunden der Ruhe folgten. Sekunden, in denen sich die Gesichter der Menschen auf der schicksalshaften Insel formten. Irre Freude und Tränen. Jubel und Erleichterung. Panik und Angst. Viele Menschen beteten und sahen die Vorzeichen des nahen Weltuntergangs. Andere dachten bereits, es sei vorüber. Überall trauerten Familien um erschlagene Angehörige, während die Unversehrten nach den Verschütteten sahen und versuchten, sie zu befreien.
Ruhe war nur eine Illusion. Die halbe Insel schrie nach Hilfe.
Auf dem Monte Solaro
Inzwischen hatten Harold und Yvonne ihre kleinen giftigen Differenzen beiseite gelegt. Während sie der trügerischen Stille misstraute und sich Sorgen um ihren Schmuck im Hotel machte, liefen seine Kameras unbeirrt weiter. Harold folgte seinem Riecher und befestigte ein Steadysystem mit Roboterarm an seinem Körper. Dieser Mann hatte an alles gedacht. Die schweren Erschütterungen Capris machten jede Stativaufnahme unbrauchbar. Andererseits fragte sich Harold längst, warum das Beben den höchsten Berg, auf dem sie standen, verschonte. Die Erschütterungen, die hier alle spürten, waren nichts mit denen unterhalb des Monte Solaros. Höchstens Stärke fünf auf der Richterskala, dachte er sich, aber dennoch heftig genug, all seine Aufnahmen zu verwackeln. Mit einer Steadykamera konnte er Erschütterungen, Gehen, Laufen und selbst Sprünge dämpfend ausgleichen.
„Harold?“, rollte Yvonne mit den Augen, als sie ihn wieder an seiner Technik rumfummeln sah. Wenn Sie nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit bekäme, die er seiner Technik widmete. Sie hasste den ganzen unnützen Narrenkram wie die Pest. „Harold!!!“
„Nicht jetzt! Herrgott, was ist denn so Wichtiges?“
„Hast du das auch gehört? Du bist doch der Freak. Sag schon! Was war das eben?“
„Irgendetwas passiert hier“, begann er seinen Fokus auf Capri zu richten. Was auch immer hier geschah, er durfte es unter keinen Umständen verpassen. Um den bedrohlichen Ton präziser aufnehmen zu können, steckte er ein zusätzliches externes Raumklang-Mikrofon an die Kamera.
„Glaubst du immer noch, dass wir hier sicher sind?“, begann Yvonne derweil zu zweifeln. Harold nahm ihre Bedenken kaum wahr und ging mit voller Aufmerksamkeit seiner Sache nach. Lauschend rückte er die Kopfhörer auf seiner Halbglatze zurecht und regelte ein paar Schalterstellungen.
„Harold? Bekomm ich auch mal eine Antwort?“
„Pssssst. Ich glaub, ich höre da was. Sei doch mal still!“
Eingeschlossen hinter Felsen
In der stockfinsteren Grotte hatten sich Javier und Carmen derweil wieder bekleidet und nutzten die einzigen Lichtquellen, die sie noch hatten. Mit zitternden Händen entzündete Carmen eine weitere Kerze aus dem Picknickkorb, träufelte etwas Wachs auf den Rand des Bootes und stellte die Kerze auf.
„Leuchte mal hier her“, rief Carmen, aber Javier schwenkte seine Handylampe zur Decke, wo kaum noch Stalaktiten hingen. Mit Sorgen registrierte er den halben Balken des Akkus, der schon bald zur Neige gehen würde. Und Netz hatte er hinter meterdickem Fels schon gar keines. Er würde niemanden erreichen, um Hilfe zu rufen.
„Was machen wir nun?“, fragte Carmen und rückte näher an Javier heran. Ein Gefühl der Kälte überkam sie.
„Wir können nur warten“, antwortete er tröstend. Zumindest war die Grotte noch intakt und das Beben vorbei, dachte sich Javier gerade, als sich das mysteriöse metallene Geräusch wiederholte.
„Da ist es wieder“, rief Carmen verunsichert.
„Das ist nicht normal. Scheiße! Was kann das nur sein?“
Die Sekunden der Ruhe waren abgelaufen. Der anfänglichen Erleichterung folgte ein unterschwelliger Brummton, der sich Sekunde um Sekunde intensivierte. Die Grotte verstärkte den unheimlichen Ton wie ein Resonanzverstärker. Die tiefe Frequenz stieg besorgniserregend an.
„Ich hab Angst!“, flüsterte Carmen und drückte sich fest an Javier.
„Ich auch!“
Javier starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Wasser, das sich zu kräuseln begann. Immer mehr Luftblasen stiegen auf und stinkende Gase entwichen aus dem Meeresboden.
Sekunden später erfolgte ein schrilles, markdurchdringendes Pfeifen, gefolgt von einem heftigen aufwärts gerichteten Ruck, der selbst die letzten Gebäude und alle Menschen Capris in die Knie zwang.
Entsetzt vom ohrenbetäubenden Lärm hielten sich alle die Ohren zu und gerieten in Panik. Überall liefen Menschen auf freie Flächen, um nicht erschlagen zu werden. Immer wieder stürzten sie dabei gleichzeitig auf dem Boden. Niemand wusste, was das zu bedeuten hatte.
„Was zur Hölle ist das?“
„Das ist das Ende!“
Auf dem Meer
Die ganze Meeresoberfläche um Capri begann zu schwingen. George und Marion entging nichts. Obwohl sich alle an Bord schmerzerfüllt die Ohren zuhielten, kam George endlich zu dem Schluss, dass auch die Maschinen etwas tun sollten.
„Haltet euch gut fest! Wir verschwinden besser.“
Entschlossen legte er den Gashebel nach vorn, dass sich die Vici aufzubäumen begann. Unter starkem Motorengeheul hob sich der Bug aus dem Wasser und die Rennyacht begann sich von Capri fortzubewegen.
Kaum einen Kilometer voraus, die Insel Ischia lag in weiter Ferne, schossen vor ihnen plötzlich Fontänen mehr als 200 Meter hoch in den Himmel und bildeten eine kilometerlange, runde Wasserwand um halb Capri.
„Woooow, was zur Hölle geht hier vor? Shit!“
Geschockt drosselte George das Boot. Er konnte kaum glauben, was er sah.
„Was nun? Sag du? Durch oder nicht durch?“, meinte George unsicher, ob er den gefährlichen Stunt durch die tosenden Wassermassen wagen sollte. Fast gleichzeitig nahm seine Nase ein weit gefährlicheres Signal wahr. Ein furchtbar, stechender Gestank, wie faule Eier, begann aus dem Meer zu dünsten. Überall stiegen große Gasblasen vom Meeresgrund auf, die den Antrieb der Vici behinderten. Sobald die Schrauben in die aufsteigenden Blasen gerieten, kreischten die Maschinen im Leerlauf und verloren an Kraft. Ruckweise wurde die Vici mal langsamer und schneller. Größere Blasen konnten auch zum schlagartigen Untergang führen, wurde George schnell klar.
„Ihh, das stinkt ja eklig“, rief James unter Deck und hielt sich die Nase zu.
Alarmierend wechselten George und Marion ihre Blicke. Der Gestank verhieß nichts Gutes.
„Methan“, roch Marion analytisch. „Ein Blowout, hier? Unmöglich, in diesen Breiten.“
„Schwefeldioxid“, war sich George sicher. „Viel gefährlicher!“
„Wir müssen hier weg!“, rief Marion entschlossen. „Los! Gib Gas! Wir müssen da durch!“
Erneut trieb George die Maschinen an ihre Maximalleistung und hielt zielstrebig Kurs auf die tosenden Wassermassen.
„Komm schon, lass uns nicht im Stich.“, beschwor er das Boot und kämpfte mit dem Ruder, um die Vici ruhig zu halten. Immer wieder stotterte der Antrieb, heulte auf, wenn die Schrauben leer drehten.
„Daddy, sieh mal!“, schrie James plötzlich, der aus dem Unterdeck herauf gelaufen kam. Auch Daniel, der schnelles Bootfahren liebte, wollte nicht allein unter Deck bleiben und lief tapfer zu seiner Mutter in die Arme.
„Meine Güte!“, stammelte auch Marion erschrocken, während sie achtern auf Capri blickte und versuchte, sowohl sich als auch beide Jungs am Boot festzuklammern.
„Verschwindet alle in den Salon und haltet euch gut fest!“, rief George energisch. „Macht schon!“
Die Vici raste wie ein Geschoss auf die Wasserwand zu. George konnte nur einen fassungslosen Blick achtern werfen, als er im selben Augenblick die tosenden Wassermassen durchbrach. Noch immer schossen die Fontänen explosionsartig aus dem Meer, das hier circa 140 Meter tief war. Nur der Umstand, dass die Vici schwer und schnell genug war, bewahrte sie vor dem Schicksal kleinerer und leichterer Boote, die von dem emporschießenden Wasser wie Spielzeug in die Luft gerissen wurden. Gleich einer Gewehrkugel schoss die Vici hindurch, hob leicht ab und landete wieder im Wasser. Unentwegt zermarterte sich George den Kopf, was wohl unter ihnen vorgehen musste. Es konnte nur auf dem Meeresgrund passieren, ein Riss in der Kontinentalplatte vielleicht. Wasser strömte in die Kruste und verdampfte explosionsartig mit dem heißen Magma. Was sollte es anderes sein, dachte er sich. Womöglich stand ein weiterer Vulkanausbruch bevor, hier direkt unter Capri.
Auf Capris höchstem Gipfel
Ähnlich wie der gewaltige Fontänen-Bogen auf dem Meer, öffnete sich auf Capri die Erde zu einem gewaltigen Riss.
„Mein Gott!“, staunte Harold ehrfürchtig und filmte Capri aus der Totalen.
Schnell richtete er alle Kameras auf Capri aus.
„Harold! Sieh, unser Hotel! Es geht ... geht mitten hindurch.“
„Ich bin nicht blind.“
„Wo sollen wir nun hin? Mein teurer Schmuck!“
„Herrje, scheiß auf den Schmuck. Du bleibst jetzt hier!“
Vermutlich sah er das ganze Ausmaß als Erster. Vor seinen Augen brach die ganze Insel auseinander. Der Riss verbreiterte sich zu einem unüberwindlichen Höllenschlund, verschlang erste Häuser und reichte in einem weiten Bogen über die ganze Insel. Er führte mitten durch die Städte Annacapri und Capri bis hinaus aufs Meer, wo Harold die Fontänen gesehen hatte. Dann erkannte er die unfassbare Wahrheit.
„Es ist ein Kreis. Unglaublich! Ein perfekter Kreis.“
Harold wusste sofort, was das bedeutete. Jeder innerhalb des Kreises saß in der Falle, ganz gleich was noch geschehen würde. Niemand konnte mehr über diesen klaffenden Riss springen.
„Da! Was ist das? Unser Hotel. Harold!“, rief Yvonne wie aufgelöst. Er sah es auch. Die abgewandte Seite des Gebäudes ragte über der anderen und wuchs empor. Harold sah es überall. Sein Mund stand ebenso weit offen, wie der von Yvonne.
„Sind das Bilder! Ich glaub das nicht.“
„Herrgott, was geht hier vor?“, stammelte Yvonne weiter.
Mehr und mehr Menschen versammelten sich auf dem weiten Bergplateau der weitläufigen Hotelanlage. Während die Meisten verstört in die Ferne und auf Capris Verderben starrten, vernahm Harold beunruhigende Unkenrufe einer möglichen Bedrohung, an die er noch gar nicht gedacht hatte. Je mehr er davon hörte, umso unsicherer fühlte er sich in seiner Haut.
„Ich sage euch, wir sitzen auf einem Pulverfass. Der Vesuv war erst der Anfang. Hier bricht gleich die Hölle los“, meinte ein älterer Hotelbesucher. „Wir sind hier nicht sicher.“
„Ja, das ist alles höchst seltsam.“
„Glauben Sie etwa, unter uns brodelt noch ein Vulkan?“, fragte eine Frau plötzlich. Diese Aussage traf Harold direkt ins Mark. Er sah zu seinen Füßen hinab.
Sofort griff er zum Telefon und versuchte den Notruf, ein Lufttaxi oder sonst was zu erreichen, doch alle Leitungen waren angesichts der Katastrophe besetzt. Erst jetzt begriff er, dass dieser Ort keineswegs sicher war.
„Wie sollen wir von diesem Berg runterkommen? Die Seilbahn ist zerstört“, erkannte Yvonne korrekt, die sich dem Gespräch der anderen Hotelgäste angeschlossen hatte.
„Es gibt noch einen Pfad, dort drüben“, antwortete jemand und zeigte in die genannte Richtung. „Gott, seht! Die Insel wird angehoben. Heilige …!“
Als auch Harold zum Hotel und zur Seilbahn blickte, stockte ihm der Atem. Seine Augen wanderten zum zerstörten Luxusresort empor und versuchten das Gesehene zu begreifen. Die Felswand wuchs immer weiter in die Höhe.
In der Blauen Grotte
Die beiden Gefangenen der Grotta Azurra erlebten derweil den blanken Alptraum. Das laute Pfeifen übertönte ihre Stimmen.
„Javier!“, schrie Carmen, „Ich will nicht sterben!“
Ungläubig sahen sie, wie der Wasserspiegel absank und sie sich immer tiefer und tiefer dem Meeresboden näherten. Nur noch wenige Meter und das Boot lag auf dem Grund der früher so herrlich blau schimmernden Grotte.
„Wohin fließt das Wasser? Was passiert hier?“
„Ich weiß es nicht! Irgendwas stimmt mit dem Meer nicht. Oder es geschieht was mit der Insel“, versuchte Javier eine Erklärung zu finden, während seine Furcht immer tiefer kroch. Das Wasser lief nun gänzlich ab und verschwand hinter der verschütteten Öffnung, wo zuvor die Sonne ihren Zauber entfaltet hatte. Das Boot lag im Matsch des weichen Meeresgrundes und neigte sich zur Seite. Ohne Wasser unter ihrem Kiel, spürten sie die Erschütterungen und die Aufwärtsbewegung umso intensiver. Beide sahen sich an.
„Es tut mir leid …“, bat er sie um Verzeihung.
„Psssst… Du kannst nichts dafür. Du hattest Recht. Es war wunderschön.“
Angsterfüllt umarmten sie sich fester denn je.
„Lass mich nicht los!“
„Ich bin bei dir.“ Dann löste sich die letzte Kerze und fiel kopfüber in den nassen Matsch. Die Frequenz stieg weiter.
Jenseits der Fontänen auf dem Meer
Nachdem George gut zwei Kilometer Abstand zum emporschießenden Wasser gewonnen hatte, nahm er etwas Gas weg und schaute zurück. Ungläubig riss er seine Augen auf, hielt den Atem an und konnte kaum glauben, was er achtern sah.
Die Insel war mehrfach auseinander gebrochen und hob sich aus dem Wasser empor. Mit unglaublichem Tempo stiegen die Felsen aus dem Meer und hoben die Insel bereits 100 Meter in die Höhe.
Ganze Teile Anacapris, Weinhänge, Villen und Straßen stürzten die steilen Klippen hinab. Deutlich war die ursprüngliche von Algen bewachsene Grenze des normalen Meeresspiegels zu erkennen, die nun der prallen Sonne ausgeliefert war. Und die Insel stieg weiter und weiter.
Starr und ohne Worte schauten alle dem unglaublichen Schauspiel zu. Marion hob das Fernglas und blickte hindurch. Sie suchte nach einer Erklärung. Sie fand sie nicht. Stattdessen sah sie blankes Entsetzen. Nichts konnte das erklären.
Auf Capri rannten die Menschen um ihr Leben, wussten nicht, wohin sie sollten. Viele stürzten ins Meer. Einige sprangen sogar freiwillig, doch sie sprangen in den Tod. Längst hatte sich der Meeresboden, der Capri zur Insel machte, stellenweise über den Meeresspiegel erhoben. Menschen, die entschlossen ins vermeintlich rettende Wasser sprangen, schlugen auf dem schlammigen Meeresboden oder den harten, von Korallen bewachsenen Riffen auf.
Über dem gesamten Golf flogen inzwischen Dutzende Maschinen des Medikorps und versuchten in all dem Wahnsinn einen Landeplatz zu finden, um Menschen aus ausweglosen Situationen zu retten. Ein extrem gefährliches Manöver. Der emporsteigende Untergrund näherte sich den landenden Maschinen ohne unterlass. Eine Landung schien unmöglich. Einige Piloten gingen auf volles Risiko.
Medicopter waren robuste Allrounder und vereinten die besten Flugeigenschaften der vergangenen Jahrzehnte. In ihnen steckte alles Gute der Luftfahrt, was sich jemals bewährt hatte. Sie waren die Kolibris der Lüfte. Doch die Piloten des Medikorps begingen alle einen fatalen Fehler. Sie näherten sich Capri.
An Bord der Vici
Solange es ihr Sichtwinkel erlaubte, hatte Marion ihr Fernglas zum Hafen Marina Grande hinauf gerichtet, wo etliche Boote und Fähren im Schlamm gekentert waren. Die Fluten des angehobenen Wasserspiegels war längst ins Mittelmeer zurück geflossen und verursachte schon bald schwerste Überschwemmungen entlang der Küsten. Andere Boote, Fähren und Schiffe hatten es ebenfalls versucht, das offene Meer zu erreichen. Manche schafften es, doch die meisten blieben auf dem Schlamm des Meeresbodens liegen. Weiter draußen, wo die Flucht zuerst noch gelang, wurden kleinere Segelboote und Kutter von den emporschießenden Wasserfontänen in die Luft gerissen, schlugen hart auf dem Wasser auf und zerschellten. Mit dem Aufstieg des Meeresbodens auf Meeresspiegelhöhe endete jede Chance, sich aus der Zone zu retten. Niemand wagte mehr einen Sprung in hundert Meter Tiefe. Und der riesige Tafelberg stieg weiter empor.
Nur hinter der Grenze des Todes, jenseits der zu Beginn aufgestiegenen Fontänen und der aufsteigenden Insel, schien die Welt in Sicherheit zu sein. Noch.
Zwei Minuten später ragte Capri weit über 800 Meter höher aus dem Meer heraus, als jemals zuvor. Die restlichen Teile der Insel blieben intakt und schienen hinter dem Bruch zum größten Teil unbeschadet und ohne jede Regung auf alter Höhe zu ruhen. Doch die meisten Flüchtlinge Neapels, zehntausende Menschen, befanden sich auf dem rapide ansteigenden Teil in den Städten Marina Grande, Capri und Teilen Anacapris.
Der schnelle und von starken, ruckartigen Beben begleitete Anstieg glich einem wild gewordenen Fahrstuhl, dem kaum ein Mensch im sicheren Stand Herr werden konnte. Immer wieder brachen riesige Gesteinsmassen ab, rissen obere Häuser und ganze Straßenzüge voller Menschen in die Tiefe, wo sie unbeschadete Häuser begruben.
11:35 Uhr.
Mit einem weiteren, lauteren, metallischen Geräusch endete der tosende Anstieg Capris. Einige Sekunden vergingen, bis es abermals ertönte, als sei etwas eingerastet. Es klang schrecklich endgültig, bereit für den letzten Schlag.
Auch das Meer hatte sich beruhigt. Der schrille Pfeifton war verstummt. Wie schon zu Beginn des Infernos gab es wieder einen kurzen Moment der Stille. Wo zuerst die ringförmigen Fontänen aus dem Wasser schossen, ragte nun ein gewaltiger runder Tafelberg aus dem Meer. Nur vereinzelt schossen einige Fontänen aus dem angrenzenden Meer, die sich aber bald legten.
Die Stille war erdrückend. Kein Pfeifen, kein Grollen, kein Wind, nur das ferne Donnern des Vesuvs, der noch immer seine Magmakammer auf geheimnisvolle Weise entleerte, war zu vernehmen. Die Aschewolke verdunkelte den Himmel und breitete sich aus. Erste Asche begann zu fallen und in Augen und Atemwegen zu brennen. Schon bald würde alles mit einem grauen Schleier bedeckt sein.
Aus der Stille erwuchs die Angst. War es wirklich vorbei? Oder sollte noch etwas folgen? Geschrei und Weinen erfüllten die Luft in den Straßen Capris. Verletzte stolperten und krochen aus den Trümmern hervor. Andere riefen vergebens. Es waren die Hilferufe der Verschütteten, denen niemand zur Rettung eilen konnte. Erste Maschinen der Medikorps landeten. Der Vulkanhölle Neapels entkommen, mussten die wenigen medizinischen Besatzungen nun zusehen, was auf der kleinen Insel geschah. Sie versuchten zu retten, wen sie nur retten konnten. Menschen jubelten auf der Straße. Hoffnung kam auf.
„Es hat aufgehört.“
Nördlich von Capri
Die Vici erreichte indessen einen Abstand von sicheren sechs Kilometern zwischen ihren Schrauben und den emporragenden Klippen. Die Motoren liefen zwar noch, machten aber nur mittlere Fahrt. Allen waren das Entsetzen und die Furcht in den Gesichtern anzusehen. Der Anblick Capris war grotesk und unfassbar zugleich. Die Insel und Teile der Erdkruste ragten weit über einen Kilometer in die Höhe.
„Ich muss träumen. Das kann unmöglich wahr sein.“
Ungläubig starrte Marion auf die Insel und auch Georges Mund stand seit Sekunden weit offen.
„Wird Capri zu einem neuen Vulkan?“, wollte James wissen, bekam jedoch nur Schulterzucken zur Antwort.
„Ich weiß nicht, was hier vor sich geht“, antwortete sein Vater schließlich.
Selbst Daniel hatte seine Normandie vergessen und blickte in die Höhe. Er verstand nicht, was sich gerade abspielte. Aber wer verstand das damals überhaupt?
Die Ruhepause dauerte genau 23 Sekunden.