Die Ruhe vor dem Sturm
Seit Anbeginn der Zeit galt sie als Naturwunder und Insel der Götter. Für manche war sie sogar die schönste Insel der Welt. Capri.
Die kleine Insel, 27 Kilometer südlich von Neapel und nur einen Katzensprung von der Landzunge zu Kampanien und Sorrento entfernt, maß kaum mehr als 17 Kilometer Umfang und bestand fast gänzlich aus Kalkstein und atemberaubenden Felsformationen.
Javier Sola, gebürtiger Barceloner und mittelloser Student, hatte seiner süßen Carmen nicht zu viel versprochen. Als sie vor acht Monaten heirateten, mussten beide vorerst auf die geplante romantische Hochzeitsreise verzichten. Doch eine kleine, aber feine Familienerbschaft brachte unerwarteten Segen und sollte ihren lang erträumten Wunsch nach spontanen Flitterwochen erfüllen. Nun wollten sie es endlich in vollen Zügen nachholen. Eine kleine Tour durch Europa. Dieser Garten Eden bildete neben Venedig, Paris, Rom und Mailand nur eine von vielen romantischen Stationen, sicher aber die beeindruckendste.
Zwei Tage zuvor wollten sie im Hafen Marina Grande auf eines der zahlreichen Touristenschiffe an Bord gehen, um die Insel zu umrunden, als ihnen ein älterer Einheimischer den ultimativen Geheimtipp gab. Und so mietete sich Javier ein kleines Boot, mit dem er seine Carmen nun einmal um die Insel ruderte. Der Mann verriet ihnen die einsamsten Plätzchen, die berühmtesten Sehenswürdigkeiten und die schönsten Badestrände.
Der Picknickkorb gehörte ebenso dazu, wie eine Flasche edelster Rotwein, ein Zelt und eine Großpackung Taschentücher. Javier hatte an alles gedacht.
Die drei berühmten Faraglioni- Klippen im Süden Capris, die Ehrfurcht gebietend aus dem Wasser emporragten, hatten sie gestern erreicht. Sie machten Capri zu dem, was es heute war. Capraea, raue felsige Insel oder auch Insel der Sirenen genannt. Dabei hatten sie sogar das Glück, die einmaligen blauen Eidechsen zu entdecken, die weltweit nur auf einem einzigen der drei Faraglioni leben.
Javier führte sie schon an den Ruinen der Villa Jovis des römischen Kaisers Tiberius, der steilen Via Krupp, den ehrfurchtgebietenden Klippen des Monte Solaro und vieler schöner Grotten entlang. Doch weder die weiße noch die grüne Grotte konnten mit dem mithalten, was noch bevorstand. Den absoluten Höhepunkt hatte er sich für diesen Tag aufgespart. Nur eine Biegung um das nordwestliche Kap herum und sie waren am Ziel.
Carmen saß am Bug, die Sonne im Rücken. Ihre nackten Beine baumelten über den Rand des Bootes, während ihre Finger das türkisblaue Nass berührten. Leises Meeresrauschen von der Küste, ein plätschern der Ruder, nichts weiter. In der Ferne donnerten eilige Touristen mit einem schnellen Motorboot um die Insel. Die liebste rote Sonnenbrille auf der Nase, genoss sie die Ruhe und die strahlende Sonne auf ihrer makellosen Haut.
Lautlos tauchte Javier die Ruder ins Wasser und beförderte das kleine Ruderboot langsam an der beeindruckenden Steilküste entlang. Die gläserne See war ruhig und bot perfekte Bedingungen. Das Gestein der nahen Klippen war zum Greifen nah. Unter Carmen glitzerte das klare Wasser des Mittelmeeres, das ihr eine uneingeschränkte Sicht auf den hell erleuchteten Meeresgrund erlaubte.
Wo es flacher war, reflektierte der Grund in den schönsten Blau- und Grüntönen.
„Es ist wunderschön hier.“ Ihre Augen strahlten voller Freude. Allein für diesen Anblick, für dieses eine Lächeln hatte sich die Reise schon gelohnt, dachte sich Javier glücklich.
„Du bist wunderschön“, antwortete er und ruderte weiter.
„Von da oben muss man einen Wahnsinnsausblick haben“, träumte sie indessen fort.
„Morgen wirst du es sehen. Die Aussicht vom Monte Solaro ist der Hammer.“
„Ich freue mich schon darauf. Ich wünschte, wir könnten ewig so weiter fahren.“ Carmen schloss ihre Augen, fühlte eine sanfte Brise, das Wasser und lauschte dem leisen Wellengang.
„Na Schatz, kannst du noch?“, fragte Carmen kess, die sich nur zu gerne verwöhnen ließ. Heute eben mal mit persönlichem Ruderer, obwohl das Boot über einen kleinen Außenbordmotor verfügte. Doch der blieb bewusst aus und war nur für Notfälle gedacht.
„Klar, ist ein gutes Training. Mit ein paar heißen Pausen zwischendurch. Wie letzte Nacht“, zwinkerte Javier bereits voller Vorfreude.
„Das versteht sich ja von selbst.“ Hungrig schweifte ihr Blick sofort über seinen muskelgestählten freien Oberkörper. Er sah heiß aus. Mit jedem Zug der Ruder spannten sich seine Muskeln aufs Neue, dass sie sich jetzt sofort nach einem einsamen Plätzchen sehnte. Langsam ließ sie ihre Zunge ihre Lippen entlang wandern. Sehr langsam. „Kann’s kaum erwarten. Wann sind wir endlich bei unserer Liebesgrotte?“
„Noch ein paar hundert Meter, hinter der nächsten Biegung. Und sie heißt Grotta Azzurra, Blaue Grotte“, verbesserte Javier grinsend und ließ auch seine Zunge kreisen.
„Sag ich doch, Liebesgrotte. Wirst schon sehen.“
Minuten später näherten sie sich dem leeren Anlegeplatz, über dem sich noch mehrere Hotels und Restaurants befanden. Nur Touristen gab es an diesem Tag keine. Oberhalb der Grotte standen ein paar Gäste, die zum Vesuv blickten und in Gespräche vertieft waren. Sie waren zu weit entfernt, als dass Javier etwas verstehen konnte. Für einen Moment folgte er ihren Blicken, konnte jedoch nichts Neues entdecken. Lediglich der Vulkan rauchte vor sich hin, wie er es seit Tagen unverändert tat. Von dem Erdbeben in Neapel hatten beide auf dem Wasser nichts mitbekommen.
„Was ist? Was sagen sie?“ Carmen schob die Sonnenbrille von ihrer Stupsnase und rekelte sich am Bug.
„Keine Ahnung. Nicht so wichtig.“
Sowieso hatte er mit Carmen gleich ganz andere Dinge vor, die ihm seit einer guten Stunde durch den Kopf geisterten.
„Ist nicht so viel los hier wie sonst, oder?“, freute sich Carmen.
„Neee. Umso besser. Gehört uns die Grotte ganz allein.“
„Booah, guck mal. Schau dir den krassen Kahn da draußen an. Die Yacht muss ein Vermögen wert sein“, zeigte Carmen zur weißen Edelmotoryacht nördlich vor Capri. Sie griff zum Fernglas und sah hindurch. „Vici. Scheint ein Rennschlitten zu sein. Ich sehe Kinder an Bord.“
„Jaaa, die kostet sicher ein paar Millionen“, antwortete Javier gelassen und ruderte zum Anlegesteg heran. Nicht in 30 Jahren würde er sich so eine Yacht leisten können.
„Im Lotto müsste man gewinnen, denn würde ich mit dir um die ganze Welt schippern. Aber mit einem Katamaran.“
„Ach Schatz, ich nehme dich auch mit Ruderboot. Außerdem ist es hier schön genug mit dir“, wirkte Carmen glücklich und zufrieden. Doch als sie kurz darauf den kleinen Eingang zur Höhle erblickte, erschrak sie etwas. Die winzige Öffnung über dem Meeresspiegel erinnerte sie eher an ein zu klein geratenes Mauseloch.
„Ist sie das etwa?“, fragte sie stutzend.
„Und ob! Warte nur ab.“
„Das soll ein Witz sein!“ Das ständige Auf und Ab der langsamen Wogen öffnete und schloss den Eingang in regelmäßigen Abständen. „Da passen wir nie durch.“
„Doch, doch, das passt. Keine Angst!“, winkte Javier gelassen und griff die dicke Stahlgliederkette, an der sich Ruderboote schnell ins Innere der Grotte ziehen konnten. Immer wieder polterte der Bootsrumpf gegen die vom Salzwasser angegriffene, scharfe Felswand. Selbst abends, wenn die Grotte offiziell für Besucher geschlossen war, holten sich mutige Schwimmer regelmäßig blutige Füße.
„Ich weiß nicht so recht. Meinst du, das ist eine gute Idee?“
„Glaub mir! Wenn du erst mal drinnen bist, willst du nicht mehr raus. Liebesgrotte, weißt noch? Oder waren deine Andeutungen nur leere Worte?“, stachelte er sie zu gern an.
„Nein, na hör mal! Ich bin ja neugierig. Na gut. Ach, ich weiß nicht.“ Carmen war noch immer unschlüssig.
„Soll ich dir die Augen verbinden?“, fragte Javier schmunzelnd.
„Okay? Du machst es ja sehr spannend. Also gut.“
Carmen drehte sich um und ließ sich ihre Augen mit dem roten Halstuch aus ihrer Handtasche verbinden.
„Und jetzt musst du dich flach ins Boot legen. Vorsicht, stoß nicht deinen hübschen Kopf.“
„Und du? Musst du dich nicht auch hinlegen?“
„Lass mich mal machen“, antwortete er ruhig. „Ich zieh uns gleich hinein.“
Vorsichtig richtete er das Boot aus, hielt sich bereit und wartete auf den richtigen Moment. Der Rhythmus der Wellen gab das Zeitfenster vor, wann er das Boot ins Innere ziehen musste. Und dann ging es ganz schnell. Plötzlich spürte Carmen die Dunkelheit auf ihrer Haut. Es wurde spürbar kühler.
„Sind wir drinnen? Kann ich die Augen aufmachen?“
„Oh ja. Moment, ich helfe dir.“
Carmen richtete sich auf und hielt sich am Rand des Bootes fest, während ihr Javier das Halstuch abnahm. Da sich ihre Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, traf sie das himmlische Blau unfassbarer Schönheit mit voller Wucht.
„Willkommen im Blauen Dom“, sprach Javier voller Erhabenheit. Er wusste von seinem ersten Besuch, wie sich Carmen nun fühlen musste. Es war ein magischer Moment.
Nie zuvor hatte sie solch ein schönes Blau gesehen. Carmen lehnte sich sprachlos mit offenem Mund über den Rand des Bootes und blickte in die tiefdunkle Grotte hinein, die von einem blau strahlenden Meeresspiegel erleuchtet wurde, als sei sie in einer anderen Welt.
„Wow, das ist unglaublich. Irre! So wunderschön!“, kam sie aus dem Staunen kaum heraus und blickte sich weiter um. „Sieh dir das an!“
„Ich weiß. Hab ich zu viel versprochen?“
„Ich hatte ja geahnt, wie es sein würde, aber dass es so schön ist. Wow, das hätte ich mir im Traum nicht so vorgestellt.“
Carmen war sichtlich begeistert.
Mit 54 Metern Länge und 30 Metern Breite glich die Hauptgrotte einer Kathedrale. Unter dem kleinen Boot befand sich in circa 15 Metern Tiefe der Meeresgrund. Über ihnen, erstreckte sich ein bis zu 22 Meter hohes Grottengewölbe, an dessen Decke mächtige Stalaktiten hingen.
Münzen und Statuen aus Tiberius’ Zeiten, säumten zwei Jahrtausende den Meeresgrund der Blauen Grotte und zeugten von antiker Bewunderung. Irgendwann geriet sie dann in Vergessenheit und wurde erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Selbst heute warfen Touristen ab und zu das eine oder andere Geldstück ins Wasser, die Carmen nun vom tiefen Grund blinken und schillern sah. Manche nannten sie daher auch Poseidons Schatzkammer.
„Und? Kann ich kochen, oder was?“, prahlte Javier ebenso euphorisch wie begeistert, als hätte er die Grotte 1826 nicht nur neu entdeckt, sondern auch gebaut.
„Es ist atemberaubend. Wunderschön. Wie … woher kommt das blaue Licht? Ich mein, ich weiß, dass es von der Sonne kommt. Aber wie geht das genau?“, fragte sie wissbegierig und konnte ihre Augen kaum von der scheinbar glühenden Wasseroberfläche abwenden.
„Richtig. Es ist die Sonne oder genauer ihr reflektiertes Licht vom Meeresgrund. Der Grund, warum das Wasser in solch prachtvollem Blau erstrahlt, hängt von einem physikalischen Phänomen ab. Das Meerwasser lässt nur den blauen Anteil des Lichtspektrums herein, welcher durch die unterseeische Öffnung in die Grotte scheint. Dort, genau unter dem Eingang, kommt das Licht herein. Siehst du es?“
„Ja. Fantastisch!“
„Gut, dass du dich reingetraut hast, was?“, suchte er nach Bestätigung.
„Allerdings. Das ist ein echtes Highlight“, gab sie ihm Recht.
„Halt mal deine Hand ins Wasser!“, forderte Javier sie auf.
Ohne nachzufragen, tauchten ihre Finger ins warme Wasser.
„Geil, sie werden ja silbrig. Wie cool!“, rief sie begeistert aus, wobei ihre laute Stimme und Lachen in der Grotte widerhallte.
„Ist sicher genauso wie mit dem Blau. Toll, was?“, meinte er.
In den warmen, sonnigen Ferienmonaten war die Blau- und Silberfärbung des Wassers besonders intensiv und kräftig. Das sonnige Wetter, die ruhige See, alles schien perfekt für diesen besonderen Ausflug.
„Du, Schatz? Wir sind allein hier“, begann sie ihn plötzlich zu liebkosen und knöpfte seine Hose auf. „Lass uns nackt baden. Ich will dich.“
Das ließ sich Javier nicht zweimal sagen und öffnete ihren BH. Wild und ungestüm zogen sich beide die Sachen von den Leibern und sprangen schließlich ins Wasser, als badeten sie in einen abgelegenen beleuchteten Swimmingpool.
Unbeschwert schwammen sie Runde um Runde um das kleine Ruderboot, streichelten ihre silbernen Körper, küssten sich eng umschlungen und stöhnten schließlich hallend in ihrer Ekstase. Niemand da draußen hörte ihr Lachen. Niemand ihr Leiden.
Nördlich vor Capri an Bord der Vici
Auch an diesem 24. Mai 2033, konnten sich nicht alle Menschen der Anziehungskraft des Blauen Domes entziehen. Nur ein einziges Boot mit zwei Seelen befand sich um 11:17 Uhr, knappe acht Minuten bevor es passierte, in der Grotte. Marion Cartright, selbst eine große Bewunderin der Grotta Azzurra, hatte sie mit eigenen Augen eine Stunde zuvor hineinfahren sehen. Es war das letzte Mal, dass sie die beiden sah.
Langsam senkte sie ihr Fernglas von dem Eingang der Grotte und schwenkte gen Osten. Die mächtige Flüchtlingsarmada hatte den Hafen von Marina Grande völlig überfüllt. Immer mehr Schiffe und Boote erreichten die kleine Insel. Sogar die halbe Flotte der Schnellfähren schien sich im Hafen von Capri zu versammeln. Andere Schiffe aus Neapel hatten an der gegenüberliegenden Insel Ischia angelegt. Zehntausende Menschen strömten von ihren Schiffen und Booten in Capris Zentrum, der größten Stadt auf der gleichnamigen Insel.
Währenddessen hatten sich aberhunderte schaulustige Touristen in der zweiten und viel höher gelegenen Stadt Anacapri versammelt. Auch die modernisierte nostalgische Seilbahn zum Monte Solaro, dem mit 589 Metern größten Berg und schönsten Aussichtspunkt Capris, hatte noch nie so viele Menschen befördert wie an jenem Tag. Stündlich wurden es mehr.
Gipfel des Monte Solaro
Von hier oben bot sich die allerbeste Sicht auf das bevorstehende Schauspiel, dachte sich auch Harold Stein.
Seit geschlagenen fünf Tagen harrte der deutsche Frührentner und Exbanker nun schon auf dem Berg aus. Als sich im Internet und Fernsehen die Nachrichten eines möglichen verheerenden Ausbruchs des Vesuvs häuften, buchten er und seine Ehefrau Yvonne den schnellstmöglichen Last-Minute-Flug nach Neapel. Von dort ging es schnurstracks auf die Insel. Doch während seine Gattin im brandneuen Fünf-Sterne-Gipfelhotel residierte, campierte Vielschnarcher Harold lieber im Zelt unter freiem Himmel, aus eigenem Willen. Dabei war die Angst, einen Moment der Apokalypse zu verpassen, weit größer, als wieder mit Yvonne schlafen zu müssen. Und er hatte einen sechsten Sinn für spektakuläre Bilder, wie er immer glaubte. Yvonne war da jedoch etwas anderer Ansicht.
Seit 5:00 Uhr morgens lief Harold mit seinem Fernglas auf und ab, musterte den Berg, jede Veränderung der Rauchsäule und vergaß nicht einmal die Webseite des vulkanologischen Institutes zu prüfen. Er verpasste keine News und selbst wenn er schlief, liefen seine drei Kameras, die er auf automatischen Schwenkstativen aufgestellt und sogar vor Diebstahl gesichert hatte. Die drei teuren Kameras filmten rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag und übertrugen ihre hochauflösenden Rohdaten per Satellitenlink direkt auf seine heimische Großspeicher-Station. Keine Minute ging verloren, selbst wenn er nicht hinschaute, sich mal wieder stritt oder schnarchte. Er könnte tagelang so filmen und warten, wenn da nicht Yvonne wäre, die ihm permanent auf die Nerven ging.
Pünktlich wie jeden Tag nach dem Frühstück erschien Yvonne bei ihrem Gatten.
„Und redet der Berg schon mit dir? Mit mir redest du ja kaum noch“, murmelte sie gelangweilt und wedelte mit ihren frisch gelackten Fingernägeln herum.
„Na, welche Farbe haben sie dieses Mal? Bunt?“
„Nein. Lavendel.“
Augenrollend setzte sich Harold in seinen Liegestuhl, dessen umliegendes Equipment einem eingerichteten Fernsehstudio in nichts nachstand. Auf einem Flatscreen unter dem Sonnenschirm schaltete er die Kameras durch und prüfte das Videobild seiner Lieblingseinstellung, das den Gipfel des Monte Somma zeigte. Genüsslich steckte er sich eine Zigarre an und lehnte sich zurück. Yvonne schob ihren spindeldürren Körper direkt vor das Bild des Gipfels.
„Könntest du bitte deinen Hintern aus meinem Bild schieben, Teuerste?“, klang er überfreundlich.
„Nicht in diesem Ton! Das verbitte ich mir!“
„Hallo? Ich sagte bitte!“
„Nein, du sagtest Hintern!“, schimpfte sie schroff.
„Ja! Er steht mir im Weg! Ich kann nichts mehr sehen.“
„Schau nach links, da ist dein Berg! Du brauchst nicht den ganzen Tag auf die Glotze zu starren. Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“
„Hat das Hotel heute nichts für dich im Programm?“, wollte Harold wissen und kramte den Flyer hervor. „Hier, was hältst du davon? Wassergymnastik für Fortgeschrittene.“
„Ich werde ja wohl noch mal herkommen dürfen, oder? Schließlich bin ich deine Frau und will sehen, was du Unnützes treibst.“
„Aber nicht, wenn du ständig vor meinen Kameras herum stolzierst. Das muss ich ja alles wieder rausschneiden.“
„Er bricht sowieso nicht aus. Du wirst nie Geld für deine stümperhaften Amateurfilmchen bekommen. Da hilft auch die beste Technik nichts, wenn man kein Talent hat.“
„Warum gehst du nicht einfach ins Hotel und berieselst den feschen Poolboy? Vielleicht hört er dir ja zu“, schlug Harold vor, ohne zu ihr aufzusehen.
„Weißt du? Das Leben wäre so viel einfacher ohne dich!“, giftete sie erbost zurück. Sie kehrte auf ihren Hacken um und ging zurück ins Hotel.
„Na endlich siehst du es ein“, rief er ihr grimmig nach und verfluchte den Tag, als er ihr das Jawort gab.
Nicht nur Harold brodelte in seinem Innern. Der Vesuv war ihm mindestens ebenbürtig. Capris Küsten schienen die beste Aussichtsplattform für das Naturspektakel zu sein. Vom Hafen Marina Grande bis zur östlichen Nordspitze der Insel drängelten sich Flüchtlinge, Einheimische und blutgierige Touristen, bis an die Zähne mit High-Tech-Kameras und Handys bewaffnet. Harold war nur einer von ihnen, doch sein Name sollte schon bald berühmt werden.
Die Welt sollte Bilder zu sehen bekommen. Bilder, die alles bisher Gesehene in den Schatten stellten. Bilder, an deren Existenz der gesunde Menschenverstand zweifelte. Bilder, die die Welt ins Religionschaos stürzen konnten.
Zwei Kilometer nördlich vor Capri
An Bord der Vici wertete George die Messdaten der beiden Vorbeben aus, während Marion noch immer das Treiben auf Capri durch ihr leistungsstarkes Fernglas beobachtete. Obwohl die Vici nahezu zwei Kilometer nördlich der blauen Grotte lag, konnte sie mit dem elektronischen Feldstecher viele Details wie durch ein Teleskop beobachten. Marion blickte auf den Hafen und rief George aus dem Salon.
„Schau dir das an! Sie flüchten wie Ameisen.“
„Ich sehe es.“ George blickte auf ein unüberschaubares Durcheinander auf dem farbigen Radar. Er tippte mit dem Finger auf den Schirm und zog einen Kreis um einen Haufen großer und kleiner Punkte. Der Touchscreen vergrößerte einen Ausschnitt der Flüchtlingsboote um Marina Grande.
„Wenn die denken, dass das reicht, werden die ihr blaues Wunder erleben“, dachte George besorgt. Er konnte sich bildhaft vorstellen, was Neapel alles erwartete. Die Bevölkerung hatte allen Grund sich zu beeilen.
Der pyroklastische Strom war die schnellste und furchtbarste Methode eines Vulkans, die Bewohner an seinem Fuße zu töten. Die bis zu tausend Grad heiße Glutwolke vernichtete alles, was ihr in den Weg kam. Das Gemisch aus Gasen, Asche, Gestein und glühenden Lavafetzen konnte sich mit annähernder Schallgeschwindigkeit bis in 30 Kilometer Entfernung ausdehnen.
Aber selbst die simple Asche wurde zu oft und tödlich unterschätzt. Scheinbar harmlos und schleichend war sie dennoch eine sehr wirkungsvolle Methode, Menschen zu töten. Schon im Jahre 79 nach Christus, hatte der Vesuv die Menschen von Pompeji, Herculaneum und Stabiae nicht etwa durch Lava, sondern durch eine Kombination beider Arten getötet. Die Glutwolke erstickte und verbrannte Tausende, um sie anschließend unter etlichen Metern heißer Asche und Lava zu begraben.
Einige Römer, die so starben, verrotteten in ihren erstarrten Hohlräumen und überdauerten als gut erhaltene Zeugnisse die Zeit. Als sie 1800 Jahre später wieder entdeckt wurden, füllten Archäologen die leeren Hohlräume mit Gips aus und erhielten lebensechte detaillierte Abdrücke einer längst vergangenen Epoche.
Diese konservierten Abdrücke und zwei ganze Städte, soweit sie nicht unter der tonnenschweren Last der meterdicken Schicht zusammengebrochen waren, hatten durch die Asche nahezu zweitausend Jahre der Zeit getrotzt. Bis zu diesem Tag.
Capri, das in Sichtweite lag, war nur wenige Minuten vom Vesuv entfernt. Die Asche konnte auch weitere Strecken zurücklegen, bevor sie wieder niederregnete. Schon der Krakatau hatte 1883, wie auch der Pinatubo 1991, riesige Mengen Asche in große Höhen der Atmosphäre gebracht, wo sie mehrmals den Erdball umrundete und anschließend weltweit niederging. Es war närrisch anzunehmen, Capri würde ausreichend Schutz bieten.
11:19 Uhr
Auf dem Achterdeck half James seinem jüngeren Bruder bei der Reparatur seiner Fernsteuerung. Es war höchste Zeit, denn die Normandie schwamm mittlerweile so weit entfernt, dass sie fast die Reichweitengrenze überschritt.
James wollte auf keinen Fall seinen Vater stören und ihn um etwas bitten, wozu er keine Zeit hätte. Momentan war nichts wichtiger als seine Arbeit. Außerdem war er alt genug.
Obwohl James erst Zehn war, fiel es ihm leicht, die komplizierte Fernsteuerung wieder zusammenzubauen. Glücklicherweise war nichts endgültig kaputt gegangen, sondern nur durch den heftigen Sturz auseinander gesprungen. Aufgekratzt rief Daniel von der Reling.
„Beeil dich! Sie ist schon ganz klein.“
„Jaja, ich hab’s gleich.“ Mit geschickten Handgriffen setzte James die Teile wieder zusammen. „Schnell, gib mir die Energiezelle!“ Daniel reichte ihm diese und schaute ungeduldig über die Schulter seines Bruders.
„Kann ich die Zelle einlegen?“
„Nein“, entgegnete ihm James barsch. „Du legst sie nur wieder falsch ein.“
Nachdem James die Stromversorgung sichergestellt und die Rückseite verschlossen hatte, testete er die Fernsteuerung auf Funktion. Die grüne Kontrolldisplay leuchtete wieder.
„Siehst du? Ich hab doch gesagt, ich kann das reparieren.“ Eine Portion Stolz war in seiner Stimme zu hören. Schnell liefen beide Jungs zur Backbordseite und wollten die Normandie zurückholen, als plötzlich ein tiefes, unheimliches Grollen begann.
„Hier, nimm du sie. Ich muss sehen, was los ist.“
Rasch drückte James die Fernsteuerung in Daniels Hände.
11:21 Uhr
Im Salon ertönten wieder Alarmsignale. George wechselte auf die Kameras, die den Berg observierten. Eilig holte er aktuelle Satellitenspektralanalysen auf einen anderen Schirm. Es schien ein neues Beben zu sein. Das vierte des Tages. Auch James und Marion kamen in den Salon gelaufen.
„Noch ein Beben? Schon wieder? Wo und wie tief?“, wollte seine Frau alarmiert wissen.
„Das ist was Größeres. Ich kann das Epizentrum nicht orten. Es ist überall.“
„Aber das ist doch unmöglich.“ Marion setzte sich zu George, um ihn bei der Datenanalyse zu unterstützen.
„Allmächtiger!“, stammelte George. „Sieh dir diese Werte an!“ Seine Augen waren weit aufgerissen.
James sah aufgeregt zu, wie sein Vater die einzelnen Laserstationen und Satellitencamcorder checkte. Auf einem Schirm, der den Südwesthang des eigentlich altertümlichen Vesuvs zeigte, nahe des Kraters des Monte Somma, waren drei Wissenschaftler in silbernen Schutzanzügen zu sehen.
Während sie gerade ihre Kontrollstationen prüften, sackte unbemerkt der Hang unter ihnen ab. George wurde immer unruhiger und sah zu Marion.
„Das gefällt mir nicht. Ruf im Observatorium an! Sie sollen alle evakuieren. Mach schnell!“
Mehrere Lasereinheiten gaben Alarm, die Daten veränderten sich rapide. Dann verstummten plötzlich zwei Seismometer.
James beobachtete besorgt die Männer in den silbernen Schutzanzügen.
„Dad, was tun die Männer da? Ist das nicht sehr gefährlich?“
„Etwas. Aber die wissen schon, was sie tun. Mach dir keine Sorgen!“ Er bemühte sich, Ruhe zu bewahren.
„Du machst dir aber Sorgen“, widersprach James.
„Ja, das tue ich. Aber du bist hier sicher.“
Wie hypnotisiert blickten alle auf den Monitor. Immer mehr Geröll geriet nur wenige Meter neben den Wissenschaftlern ins Rutschen. Das Grollen wurde stärker und schien von allen Seiten zu kommen. Eine weitere Überwachungssoftware wurde aktiviert, so dass ein neuer Alarm ertönte.
George verlor die Geduld, sprang auf und schrie den Bildschirm an. „Verschwindet da, verdammt noch mal! Macht, dass ihr wegkommt!“
„Dad, wie lange brauchen sie, um den Berg zu verlassen?“
„30 Minuten. Zu lange.“
„Werden sie es schaffen, wenn er ausbricht?“
George Schweigen genügte James, so dass er immer größere Angst bekam. Der umfassende Alarm war mehr als deutlich.
„Lauft weg!“, rief er den Wissenschaftlern zu, doch sie hörten nicht. Auch diese Männer waren Väter mit Familien. Sein Dad hatte oft genug von einzelnen Kollegen auf dem Berg gesprochen. Die Spannung war unerträglich.
„Was können wir tun?“, fragte Marion.
„Gar nichts. Die Vorwarnzeit ist vorbei.“
Das Hafenviertel von Neapel
Francesca Graziano spürte das stetig stärker werdende Beben unter ihren Füßen und schritt auf das Dach hinaus. Normalerweise dauerten die Beben nur wenige Sekunden. Dieses jetzt hielt bereits seit über einer Minute an. Auf ihren Armen hielt sie Thai, die unruhig zappelte. Die Sirenen Neapels heulten unaufhörlich, als verkündeten sie die nahende Apokalypse. Das Beben nahm kein Ende.
„Siehst du Thai, nun ist es soweit. Alles wird gut“, beruhigte Francesca ihre liebste Katze und ging zur Vogelvoliere ihres Mannes. Sie öffnete die Verriegelung und sperrte das Gatter weit auf. „Fliegt! Fliegt, meine Hübschen!“, rief sie den ersten Sittichen nach. „Nun seid ihr endlich frei.“
Das Grollen des Bebens wurde stärker, Alarmgetöse erfüllte die vom allgegenwärtigen Smog gesättigte Luft, Autos schrillten um die Wette. Francesca blickte über die Stadt, wo sich erste graue Schwaden Betonstaub emporhoben, wo zuvor noch größere Gebäude standen. Deutlich konnte sie auch das Schwanken ihres Hauses fühlen. Reifen quietschten unten an der Straße.
Wiedersehensfreude mischte sich mit Schüben von Angst und Furcht. Francesca blickte zum Berg empor, der sich geradezu aufzublähen schien. Spielten ihr die Sinne einen Streich, oder würde gleich ein Inferno über die Stadt hinwegfegen.
Regungslos stand sie auf ihrem Dach, umgeben von der ihr vertrauten Idylle blühender Rosenbrücken, Blumenrabatten und kleinen Zierbäumchen. Die rufenden Stimmen in ihrem Haus hörte sie nicht mehr.
„Wo ist sie? Such du im Wohnzimmer, ich geh rauf zum Dach“, schallte die männliche Stimme aus dem gläsernen Oberlicht empor.
„Hier ist sie nicht“, rief Elisa von unten. Die Tür zur Dachterrasse stieß ruckartig auf und Lorenzo blickte seiner Mutter entgegen.
„Mama! Da bist du ja. Ich hab sie gefunden“, rief er die Treppe hinunter und rannte sofort auf sie zu. „Komm Mama, wir müssen gehen! Es wird Zeit!“
„Ich geh hier nicht weg!“, antwortete Francesca apathisch.
„Wir müssen aber schnell von hier fort. Er bricht aus!“
Nun kamen auch Lorenzos Schwester und Elisa aufs Dach gerannt.
„Mutter! Zeit zu gehen!“, rief Sara voller Sorge, umarmte sie kurz und packte Francesca an der Hand.
„Ich kann hier nicht weg. Das alles…“
„… wird schon bald nicht mehr existieren! Los!“, rief Lorenzo mit noch mehr Nachdruck.
Sara sah immer mehr Gebäude schwanken und schrak zusammen, als sich im Stadtzentrum eine schwere Explosion ereignete. Kurz nach dem Feuerball erfolgte auch der Knall.
„Mutter!“, schrie sie, „Wir müssen raus aus Neapel!“
Lorenzo ohrfeigte seine eigene Mutter zur Vernunft.
„Reiß dich zusammen, oder willst du, dass deine Enkelin mit dir stirbt?“
„Großmama, bitte komm schnell!“, rief Elisa flehend.
„Nein, natürlich nicht“, antwortete sie abwesend, kaum begreifend, warum ihre Liebsten bei ihr waren. Das durften sie doch nicht. „Was macht ihr hier? Seid ihr verrückt, hier herzukommen? Seht ihr nicht…“
„Sie ist weggetreten. Du musst sie tragen, Lorenzo!“, rief Sara bestimmend und zuckte zusammen, als sie die Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen sah. „Oh Gott!“
„Nein, nicht ohne meine Katzen!“, brüllte Francesca zurück. „Ich kann sie nicht sterben lassen.“
„Wir können sie nicht alle fangen und retten. Elisa, schnapp dir die Tasche dort“, zeigte Lorenzo auf eine Tragetasche für Katzen und schnappte sich Thai aus Francescas Armen. Hastig stopfte er die Heilige Birma in die Tasche.
„So, ich hab deine Katze. Nun los!“
„Ist dieses Haus erdbebensicher?“, fragte Elisa ängstlich und bereute ihre Entscheidung, heute unbedingt mitkommen zu wollen.
„Nicht sicher genug, fürchte ich. Wir müssen vom Dach runter!“ Lorenzo zerrte seine Mutter hinter sich her und rannte auf den Fahrstuhl zu. Seine Schwester und Elisa folgte ihnen.
„Nicht in den Fahrstuhl!“, rief Sara aus zahlreichen Erinnerungen diverser Katastrophenfilme. Zu oft wurden Fahrstuhlschächte bei Stromausfällen, Feuer und Erdbeben zu lebensgefährlichen Todesfallen.
„Wir haben keine Wahl!“, zog er sie schnell durch die Tür und drückte den Knopf zum Erdgeschoss. Die Tür schloss sich.
Die Angst fuhr mit und pochte jedem bis zum Hals. Ruckartige Erschütterungen brachten sämtliche Verkleidungen des Fahrstuhles zum Klappern. Nur das moderne Licht wollte nicht so flackern wie in den Filmen. Es leuchtete kühl und beständig. Alle starrten auf die Stockwerkanzeige, die sich viel zu langsam dem Erdgeschoß näherte.
„Komm schon, komm schon!“, betete Sara leise vor sich hin.
Als sich schließlich die Fahrstuhltür öffnete und das Tageslicht blendete, rannten sie so schnell sie konnten aus dem Haus.
„Alter, NEIN! Wo ist meine Karre?“, fluchte Lorenzo laut, als ihm einfiel, dass er in aller Eile weder Zündschlüssel abgezogen, noch den Wagen verschlossen hatte. „Merda, das gibt’s doch nicht. Jemand hat ihn geklaut. Figlia di puttana!“
Ein Blick die leere Straße hinunter machte ihnen deutlich, wie schnell sie ins Freie mussten. Fassade um Fassade krachte zu Boden und begrub Autos wie Bürgersteige mit Steinen und Dachziegeln.
Drei Häuser stadteinwärts eilte eine weitere sechsköpfige Familie vor das Haus und warf Koffer und Kinder in Panik in den bereitstehenden blauen Van. Dachpfannen stürzten vom Dach über den Balkon auf das Auto, so dass die getönten Scheiben barsten. Sara blieb die Luft im Hals stecken, noch ehe sie einen Schrei ausstoßen konnte.
„Achtung! Vorsicht! Das Haus bricht zusa…!“, rief Elisa schockiert. Sie wollte die Familie noch warnen, als sich das marode Mauerwerk löste und auf die neben dem Wagen stehenden Erwachsenen stürzte. Tonnen aus Schutt und Gestein begrub die gesamte Familie, quetschte das Fahrzeug zusammen, dass die Achsen brachen.
Elisa schrie und wandte sich ab. Auch Sara kämpfte mit der Fassung. Noch nie hatten sie dem Tod so nah ins Gesicht sehen müssen. Die Steine verbargen nicht alles.
„Sie sind…“, schluchzte Elisa
„Ich weiß, mein Schatz. Schau nicht hin!“ Doch aus dem begrabenen Van vernahm Sara plötzlich Rufe und weinende Stimmen der Kinder, die offenbar überlebt hatten.
„Hörst du das? Die Kinder im Auto“, horchte Elisa auf.
„Wir müssen hier weg!“, rief ihr Vater mit Nachdruck und sah den blutüberströmten Kopf des Familienoberhauptes auf der anderen Straßenseite. Die Ziegel hatten seinen Schädel bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Panisch starrte Lorenzo zu den Dächern hinauf. Er hatte nicht vor, der Nächste zu sein.
„Aber sie leben! Wir müssen sie da rausholen!“, protestierte Sara und wollte die Kinder mit bloßen Händen aus dem Geröll befreien.
„In dem Auto sind sie sicherer als wir. Wir müssen hier weg, oder uns passiert dasselbe! Los jetzt! Sie werden sicher befreit, wenn das überstanden ist.“
„Aber der Vesuv. Wenn die Lavaströme bis hier…“
Ehrfürchtig sah Lorenzo zum drohenden Gipfel empor. Dem Himmel sei Dank, passierte dort noch nichts.
„Sieh hin! Nur Rauch. Der bricht nicht aus“, betete er innerlich. Dafür konnte er das Beben spüren, das Haus um Haus zu Boden zwang. Erneut stürzte eine benachbarte Fassade krachend in sich zusammen. Sara erschrak.
„Seht ihr das? Kommt schon! Lava ist unser kleinstes Problem. Wir dürfen nicht stehen bleiben!“
„Bitte Lorenzo, nein! Die Kinder.“
„Wenn wir bleiben, sterben wir alle. Entweder sie oder wir!“
Die schreienden Hilferufe wurden immer lauter und durchdrangen Saras Mutterherz. Sie konnte es nicht zulassen und schüttelte den Kopf. Noch immer fielen Trümmer auf die Straße und den Van.
„Wir können ihnen nicht helfen!“, blickte er verbittert zum Van. Er konnte es sich nicht leisten, Held zu spielen. Er hatte eine Familie. Entschlossen packte er ihre Hände und zerrte alle die Straße hinunter. Vermutlich würde ihn diese Sünde ein Leben lang plagen und in Träumen heimsuchen. Doch dafür mussten sie erstmal überleben.
„Wo sollen wir denn hin? Wie kommen wir aus der Stadt raus?“, rief Sara verzweifelt und umarmte Elisa tröstend. Immer wieder sah sie zu den hilflos weinenden Kindern zurück.
Lorenzo überlegte hastig. Flaches Terrain oder starke Mauern. Wie ein Geistesblitz schoss es ihm durch den Kopf. Es gab nur einen halbwegs sicheren Ort.
„Zum Strand! Lauft! Schnell!“
An Bord der Vici
Marion wählte hastig die Nummer des vulkanologischen Observatoriums am Vesuv.
„Ja, Cartright hier, geben Sie mir Doktor Jacobi. Schnell! Es eilt! … Doktor Jacobi, hier ist Marion. Sie müssen die Männer vom Berg …“
Die Verbindung brach abrupt ab.
Es war 11:24 Uhr und 48 Sekunden.
Das Unfassbare nahm seinen Lauf.