Fromme Lügen
Der Schlag der Turmuhr weckte sie.
»Rory!«, war ihr erster Gedanke, als sie mit
einem Ruck aus dem Schlaf schreckte. Sie lag mit dem Gesicht nach
unten, Arme und Beine ausgestreckt auf dem Bett – voll bekleidet
und schmutzig.
Wieder ertönte die Glocke. Drei Schläge in der
Dunkelheit. Das dritte Viertel! Schon? Razi brach am Mittag auf.
Sie selbst brach am Mittag auf. Wynter blieben weniger als
sechs Stunden mit ihrem Vater.
Hastig zerrte sie an der Decke und versuchte, sich
zu sammeln. Sechs Stunden! In weniger als sechs Stunden würde sie
ihn verlassen. Ohne sie wäre Lorcan ganz allein, und sie wäre
irgendwo da draußen in der Welt. O lieber Gott im Himmel!
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie es wirklich
fertigbringen würde.
Benommen schob sich Wynter auf Hände und Knie hoch
und kroch vom Bett. Jeder Zoll ihres Körpers schmerzte. Einen
Moment lang blieb sie schwankend stehen und kämpfte um ihr
Gleichgewicht; ihre Sicht war verzerrt, da ihr gesamtes Blut aus
dem Kopf nach unten strömte. Sie lehnte sich an das Fußteil des
Bettes und versuchte, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen.
Sie würde jetzt zu Lorcan gehen, ihn wecken, und sie beide würden
…
Ein Geräusch aus dem Gemeinschaftsraum unterbrach
ihre Überlegungen; sie stockte und horchte. Marcello Tutti murmelte
vor ihrer geschlossenen Tür, und Wynters Herz zog sich zusammen,
als sie Lorcan zur Antwort erst stöhnen und dann glucksen hörte.
Die beiden Männer gingen langsam an ihrer Tür vorbei in den
Empfangsraum. Wynter konnte die schleppenden, bedächtigen Schritte
ihres Vaters vernehmen, der von Marcello gestützt wurde. Was für
eine Anstrengung das für ihn bedeutete, dieser kurze Weg von einem
Raum in den anderen! Wynter wusste sofort, dass er es ihr zuliebe
tat, damit sie ein richtiges Frühstück einnehmen konnten, ohne dass
Lorcan wie ein Invalide im Bett liegen musste.
Hätte sie kurz nachgedacht, wäre sie niemals durch
die Tür getreten, ohne sich vorher zu waschen. Doch sie war durch
und durch erschöpft, ihr Kopf sauste wie ein Glas voller Fliegen,
und so riss sie den Riegel zurück und taumelte in den Empfangsraum.
Ihr einziger Gedanke war, dass sie ihren Vater sehen wollte.
Marcello half Lorcan gerade, sich an den
Frühstückstisch zu setzen, als sie im Türrahmen auftauchte. Lorcan
hielt sich an der Tischkante fest, während Marcello ihn mit einer
Hand stützte und mit der anderen einen Stuhl für ihn heranzog. Als
die Männer Wynter bemerkten, hielten sie inne, und beide stießen
bei ihrem Anblick hörbar die Luft aus und machten erschrockene
Gesichter.
»Oh, Signorina!«, rief Marcello.
Lorcans Miene wurde schwarz und drohend, als er
ihre schmutzigen Kleider musterte, ihr aufgeschürftes Kinn, das
zerschundene Gesicht. »Wer zum Teufel hat das mit dir gemacht?«,
fauchte er.
Die Entrüstung der beiden Männer focht Wynter im
ersten
Moment überhaupt nicht an – sie war ganz vertieft in den Anblick
der Kerzen, der Vase mit den gelben Rosen, des wunderschön
gedeckten Tisches. Sie wandte ihren benebelten Blick Lorcan zu und
bemerkte sein frisches weißes Hemd, den förmlichen langen Mantel
und die Hose, die auf Hochglanz polierten Stiefel. Lorcans Haar war
gebürstet, glänzte und hing ihm offen über die Schultern, als
speiste er bei Hofe. Doch er war immer noch totenbleich, die Augen
und Wangen hohl, und seine massigen Arme zitterten vor Anstrengung,
während er sich schwer auf den Tisch stützte. Dennoch war er ein
prachtvoller Anblick. Wynter sah den Zorn in seinen Zügen und
wusste, sie würde das alles verderben, dieses sorgfältig
vorbereitete Lebewohl, wenn sie sich nicht zusammenriss. Und zwar
schleunigst.
Etwas zittrig holte sie Luft und drückte den Rücken
durch. Blinzelte heftig, um den trüben Nebel der Erschöpfung aus
ihrem Kopf zu vertreiben. Dann räusperte sie sich und zwang sich zu
kichern. Wie überzeugend das klang! Sie war sehr zufrieden mit
sich.
»Schickt nicht gleich die Kavallerie los, meine
Herren«, begann sie trocken. »Das war ich selbst.« Die beiden
Männer sahen sie misstrauisch an, woraufhin sie eine neckische
Verbeugung machte und dabei auf die zerrissenen Knie ihrer Hose
deutete, die Rußflecken auf ihrem Hemd. »Meine Kerze verlosch auf
der Hintertreppe, und ich hatte im Dunklen plötzlich ganz
mädchenhafte Anwandlungen.« Sie grinste breit unter ihrem
zerzausten Haarkranz hervor. »Ich bin gestürzt, und es hat leider
einige Stufen gedauert, bis ich mich wieder gefangen hatte. Ich
kann von Glück sagen, dass ich mir nicht das Genick gebrochen
habe!«
Lorcan forschte in ihrem Gesicht, sein Atem ging
flach. Marcello sah ihn an. Besänftigend legte er ihm die Hand auf
den Arm und raunte ihm auf Italienisch zu, dass sein Stuhl auf ihn
warte.
Wynter leckte sich über die Lippen und blickte
ihrem Vater in die Augen. Komm schon. Wir tun so, als ob, schon
vergessen? Fromme Lügen!
»Warum setzt du dich nicht?«, forderte sie ihn
fröhlich auf. »Und ich mache mich rasch vorzeigbar. Es dauert nicht
lange, versprochen.«
Noch einmal musterte er sie von Kopf bis Fuß.
Wynter warf ihm einen flehentlichen Blick zu, und er gab sich
sichtlich Mühe, seine Wut zu beherrschen. Langsam stieß er die Luft
aus und zwang sich, die zu Fäusten geballten Finger zu lösen. Dann
nickte er, straffte die Schultern, neigte den Kopf in stillem
Einverständnis. Demonstrativ wandte er sich von ihr ab und
gestattete Marcello, ihm auf den Stuhl zu helfen.
Als er schließlich am Tisch saß, hatte er sich voll
und ganz auf das Spiel eingelassen. Er zog die Serviette zu sich
und grinste seine Tochter an. »Beeil dich lieber, meine Kleine«,
sagte er, »sonst sind nur noch Eierschalen und Butterreste
übrig.«
Wynter verengte die Augen und drohte ihm streng mit
dem Finger. »Ich bin gleich wieder da! Fass bloß nichts an!«
Auf dem Weg durch den Gemeinschaftsraum hörte sie,
wie Marcello sich entschuldigte und ging. Sie blieb in der Tür zu
ihrer Schlafkammer stehen und sah sich nach dem kleinen Mann um,
der gerade in den Gang hinaustrat. Marcello war gewiss kein Narr;
dennoch hatte er sich offenbar entschlossen, die Geschichte, die
Lorcan ihm über dieses höchst ungewöhnliche Frühstück aufgetischt
hatte, nicht zu hinterfragen. Vielleicht hatte Lorcan ihm erzählt,
dass Wynter Geburtstag hätte oder dass sie einen besonderen
Gedenktag feierten. Was auch dahintersteckte – sie war diesem
diskreten kleinen Italiener unendlich dankbar. Er war Balsam für
ihre Seele.
Sie lehnte sich gegen den Rahmen und sah ihm nach,
und gerade, als er die Tür hinter sich schließen wollte, blickte
Marcello auf und entdeckte sie. Er hielt inne; seine Miene wurde
weich, die Augen glänzten im Flackern der Kerzen. Mit sanftem
Mitgefühl zog er die Augenbrauen zusammen und nickte. Wynter hob
das Kinn, aus irgendeinem Grund bewegte sie dieser Blick zutiefst.
Dann schloss Marcello leise die Tür, und sie ging in ihre
Kammer.
Sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu
fangen.
Das Haar auf dem Kopf aufgetürmt, zog sich Wynter
aus und tastete sich durch das Dämmerlicht zu ihrer Waschschüssel.
Sie füllte sie mit lauwarmem Wasser, presste die Lippen zu einem
festen, dünnen Strich zusammen, tauchte den Meeresschwamm ein und
begann, sich von Kopf bis Fuß zu schrubben. Jede ihrer Bewegungen
war genau und beherrscht. Ihr Geist, ihre Miene, ihr Herz – erfüllt
von nichts als Entschlossenheit.
Sie wusch die Seife fort, trocknete sich am ganzen
Körper ab, bis ihre Haut kribbelte und glühte. Sie reinigte ihre
Nägel, putzte sich die Zähne mit Zahnpulver. Suchte sich aus der
Truhe ihrer Mutter ein blassrosa Kleid mit dunkelrosa Borten und
Unterkleid aus. Vor dem Spiegel kämmte sie ihr Haar und ließ es
offen; ein dunkelroter Vorhang, der über ihre Schultern hing, als
sollte auch sie heute mit einem König speisen. Waschen werde ich
es später, dachte sie. Bevor ich aufbreche. Gott allein
wusste, wann sie wieder Gelegenheit dazu bekäme.
Sie bedauerte die aufgeschürfte Stelle an ihrem
Kinn, die roten Kratzer auf den Händen. Sie bedauerte den
dunkelblauen Fleck auf ihrer Stirn, wo sie gegen die Wand geprallt
war. Es bedrückte sie, dass ihr Vater sie über den wunderschön
gedeckten Tisch hinweg ansähe und von diesen Andenken schonungslos
an die Wahrheit erinnert würde.
Mit zitternden Lippen schloss sie die Augen, die
Hände zu Fäusten geballt. Dann drehte sie sich unvermittelt um und
ging hinüber.
Lorcan lächelte und machte galant Anstalten, sich
zu erheben, als sie eintrat. Liebenswürdig bedeutete Wynter ihm,
Platz zu behalten, und er neigte höflich den Kopf und setzte sich
wieder, als wäre ihre Geste das Einzige, was ihn davon abhielt,
aufzuspringen und ihr einen Stuhl anzubieten.
Mein Gott, wir machen das wirklich gut.
Anerkennend ließ sie den Blick über den Tisch schweifen, nahm ihre
Serviette und atmete so genüsslich sie nur konnte ein. Wird er
essen können? Bitte, lieber Gott, lass ihn essen können! »Wie
schön das aussieht!«, stellte sie aufrichtig fest und hob ihm den
Blick entgegen. »Vielen, vielen Dank!« Lorcan erwiderte ihr
Lächeln, und eine sachte Anspannung, die zwischen ihnen in der Luft
gehangen hatte, löste sich auf.
Sie machten sich über ihr Frühstück her, vertilgten
alles bis auf den letzten Bissen und unterhielten sich unbeschwert
über Musik und Bücher. Lorcan erzählte heitere Geschichten aus
seiner Jugend, die Wynter bereits kannte. Es war angenehm, es war
friedlich, und die Zeit rann ihnen unmerklich rasch durch die
Finger.
Als sie schließlich fertig waren, blieben sie noch
ein Weilchen lächelnd sitzen, bis Wynter aufstand und alles außer
dem Kaffeegeschirr abräumte. Das Tablett stellte sie vor der Tür im
Gang ab, und als sie zurückkam, hatte Lorcan seinen Stuhl etwas vom
Tisch abgerückt und zur Seite gedreht, um seine langen Beine
auszustrecken. Bedächtig rührte er Sahne und Zucker in ihre
Kaffeeschalen, sein Haar glänzte im hellen Sonnenlicht.
Wynter drückte sich mit dem Rücken an die Tür und
blickte aus dem Fenster. Hübsche zarte Wölkchen zogen
langsam über den hellblauen Himmel, schimmerten im prallen Licht
des Tages. Unwillkürlich begann ihr Kinn zu beben, sie biss die
Zähne zusammen und bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen.
Reiß dich zusammen, schalt sie sich. Reiß dich
zusammen! Gehorsam entspannten sich ihre Muskeln wieder, die
Knoten in ihrer Magengegend lösten sich. Gut.
Sie lockerte die Fäuste und begann ruhig, eine
Kerze nach der anderen zu löschen. Die Luft wurde erfüllt vom
warmen Duft rauchender Dochte, und Lorcan hob den Kopf, als er es
bemerkte. Er warf einen Blick auf die Fenster, die Augen ungläubig
geweitet.
Wynter legte ihm eine Hand auf die massige Schulter
und beugte sich vor, um die letzte Flamme zu löschen. Doch Lorcan
hielt ihren Arm fest. »Nicht diese, mein Schatz.« Sie zögerte.
»Lass diese brennen.« Seine Stimme zitterte leicht, er ließ sie
nicht los.
Da stützte sich Wynter matt auf den Tisch, den Kopf
gesenkt, sie konnte plötzlich nicht mehr. Sie sahen einander nicht
an. Lorcan drückte ihren Arm, die Augen starr auf die Kerzenflamme
gerichtet. Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
»Ich hatte gehofft …«, flüsterte er. »Ich hatte
gehofft, ich wäre … in der Verfassung … einen Spaziergang im …«
Sein Griff um ihren Arm verstärkte sich.
Die Turmuhr schlug das vierte Viertel. Noch vier
Stunden. Verzweifelt sah sich Lorcan im Zimmer um. Was konnten sie
sagen? Was konnten sie tun?
Wynter sank zu Boden und legte den Kopf auf das
Bein ihres Vaters, dann schlang sie ihm die Arme um die Hüften und
umklammerte den Stoff seines Hemds. Sanft legte Lorcan seine große
Hand auf ihren Scheitel, lehnte sich zurück und drehte den Kopf zum
Fenster. Wynter tat es ihm gleich,
die Wange auf sein Knie gebettet. Er streichelte ihr Haar, und
gemeinsam beobachteten sie die Wanderung der Wölkchen über den
Morgenhimmel, bemerkten darüber gar nicht, wie die Zeit verging.
Sie verstrich lautlos und allzu rasch, und als die Uhr das fünfte
Viertel schlug, hatten sie sich noch immer nicht bewegt oder ein
Wort gesprochen.
Lorcan beugte sich vor und küsste Wynter auf die
Wange. »Zeit, dich bereitzumachen, meine Kleine.« Doch sie krallte
sich nur noch fester in sein Hemd. Begütigend rieb er ihr den
Rücken. »Komm, mein Liebling. Es wird Zeit. Du hast Dinge zu
erledigen.« Da sie sich nicht rührte, schob er sie sanft von sich
fort, bis sie gezwungen war, sich aufzusetzen und sein Hemd
loszulassen. Zärtlich strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und
zwinkerte ihr zu. »Nun geh schon.«
Wie betäubt stand Wynter auf und ging in ihre
Kammer.
Der Großteil ihres Gepäcks stand außerhalb der
Burgmauern für sie bereit; es war nach und nach im Laufe der
letzten Tage von Marni zusammengestellt worden. Auch ihr Pferd
Ozkar wartete dort auf sie, nachdem eine geheimnisvolle Krankheit
es überraschend erforderlich gemacht hatte, es von Razis kostbaren
Arabern zu trennen. Ozkar würde gesattelt und bepackt im Stall
eines kleinen Gasthauses eine halbe Stunde Fußmarsch vom Palast
entfernt auf sie warten.
Wynter blieb nur noch, ihr Waschzeug, den
Reisegürtel, frische Kleider zum Wechseln, die nötigen Utensilien,
falls ihre Menses auftreten sollten, sowie ihre Landkarten
zusammenzusuchen. Die Karten waren das Wichtigste überhaupt; bis
zur letzten Nacht hatte sie ja keine Ahnung gehabt, welche Richtung
sie einschlagen sollte. Sie musste diese Karten noch sehr genau
studieren.
Schwerfällig blieb sie mitten im Raum stehen, sie
war wie
gelähmt. Je länger du hier stehst, ermahnte sie sich,
desto länger muss Vater allein dort sitzen. Das spornte sie
an.
Als sie schließlich zurück in den Empfangsraum
trat, war sie völlig verwandelt: Sie hatte sich das Haar gewaschen,
zu einem festen Zopf gebunden und sorgfältig unter eine eng
anliegende, dünne Strickhaube gesteckt. Sie trug ihre Reithose,
Reitstiefel und eine langärmelige Reiserobe über dem Unterhemd.
Darüber hatte sie Christophers dunkle Jacke gezogen, und der
breitrandige Strohhut hing auf dem Rücken. Bei jedem Atemzug
knisterte Razis Brief an ihrem Herzen, dicht an ihr Zunftmedaillon
geschmiegt. All ihre Habseligkeiten – einschließlich der
Zunftabzeichen – waren säuberlich in dem kleinen Ranzen auf ihrem
Rücken verstaut oder auf die Beutel und Säckchen verteilt, die
ihren Reisegürtel zierten. Sie war gut ausgerüstet, gut bewaffnet –
und nicht im mindesten aufbruchbereit.
Lorcan sah auf und begegnete ihrem Blick. Er erging
sich nicht in seiner üblichen Litanei aus Ermahnungen. Achte im
Gedränge auf deinen Beutel. Hast du genug Geld dabei? Hast du ein
Mittel gegen Bauchschmerzen? Sieh zu, dass dein Dolch immer in
Reichweite ist. Nein, heute betrachtete er sie lediglich mit
großen, verwundeten Augen, die Hände so fest um die Armlehnen
geklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Schon schlug die Turmuhr das halbe Viertel, ihnen
blieb keine Zeit mehr.
Wynter verschwamm alles vor Augen.
»Du musst jetzt gehen, mein kleines Mädchen.«
Bei seinem halbherzigen Flüstern schüttelte sie den
Kopf.
Nein. Sie schloss die Augen.
Nein.
Nein! Jetzt war sie ganz sicher:
Nein. Sie konnte das nicht tun. Hastig nestelte sie an den
Schnüren ihres Ranzens. Sie würde es nicht tun! Sie würde
nicht diesen wundervollen
Mann opfern und damit alles, was sie einander bedeuteten, was er
für sie gegeben hatte. Sie würde nicht alles für die Politik, für
das Reich opfern. Sie würde einfach bleiben. Sie würde verdammt
noch mal hierbleiben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Sie musste Lorcan Trost und Anker sein, wie er es stets für sie
gewesen war. Sie würde bei ihm bleiben bis zum Ende.
Warum bekam sie denn nur diese gottverfluchten
Knoten nicht gelöst! Ungeduldig grunzend machte sie sich an der
Schnalle ihres Gürtels zu schaffen.
Unterdessen stand Lorcan langsam auf. Sie spürte,
wie er mit unsicheren Schritten um den Tisch herumging.
»Nein, Vater!«, knurrte sie, ohne ihn anzusehen.
»Nein!« Ungeschickt zerrte sie an ihrem Gürtel.
Da stand er neben ihr. Schwerfällig an den Tisch
gelehnt, schlang er ihr seine Arme um die Schultern und zog sie an
sich, quetschte sie an seine Brust. Wynter vergrub das Gesicht in
seinem Hemd. Sie konnte sein Zittern fühlen, als er sein Kinn auf
ihren Scheitel legte. Er würde sie bei sich bleiben lassen – sie
wusste es einfach!
»Oh, Vater …«, setzte sie dankbar an und schob die
Hände nach oben, um sie um seinen Hals zu schlingen. Doch seine
Umarmung wurde noch fester und klemmte ihre Arme ein. Mit einem
Ächzen stieß sich Lorcan plötzlich vom Tisch ab, so dass beide zur
Seite taumelten und in Richtung Tür kippten.
Wynter glaubte, sie würden stürzen, und stieß einen
erschreckten Schrei aus. Doch Lorcan fing sie beide auf, indem er
sich mit der Hand am Sturz der Eingangstür abstützte. So verharrte
er einen Augenblick, keuchend, seine Tochter immer noch hilflos wie
eine Puppe an die Brust gepresst. Schnell und unregelmäßig schlug
sein Herz.
»Vater«, flehte sie. »Nein!« Mit aller Kraft
versuchte sie, sich aus seinem entschlossenen Griff zu befreien.
»Vater! Bitte!« Er hielt sie so dicht an sich gedrückt, dass sie
sein Gesicht nicht sah. Alles, was sie erkennen konnte, als es ihr
endlich gelang, den Kopf etwas zu drehen, waren sein blutrotes
Haar, das ihr ins Gesicht fiel, und sein glatt rasierter
Kiefer.
»Vater! Bitte!«
Sein Atem stockte kurz, als er sein Gewicht
verlagerte und sich mit einer Schulter gegen das Holz lehnte, und
Wynter hörte das schreckliche Geräusch von Metall auf Metall, als
Lorcan mit einer Hand den Riegel zurückschob.
»Vater!«, jammerte sie. »Vater! Bitte!« Eine
Träne tropfte auf ihr emporgewandtes Gesicht, und dann eine zweite.
Sie rannen über Lorcans glattes Kinn und fielen in ihre Augen, auf
ihre Wangen. Wynter schluchzte, als Lorcan sie beide vom Holz
abstieß, beinahe verlor er das Gleichgewicht, während er die
letzten Reste seiner unglaublichen Kraft zusammennahm, um einen
Schritt zurückzutreten und die Tür zu öffnen.
Lediglich einen Spalt zog er sie auf, musste aber
sofort die freie Hand wieder auf dem Türstock abstützen. Da entließ
er Wynter ohne Vorwarnung aus seinem eisernen Griff und schob sie
durch die schmale Lücke in den Gang hinaus.
»Nein! Nein!« Verzweifelt klammerte sie sich an ihm
fest. Lorcan jedoch war entschlossen. Immer fester drückte er gegen
die Tür. Wynters Hände glitten von seiner Schulter auf die Ellbogen
hinab. Er zog unerbittlich den Arm zurück, sie hielt seinen
Unterarm fest, er zog weiter. Einen kurzen Moment lang umschlossen
sich ihre Finger, und dann ließ Lorcan los und schloss die
Tür.
Er schob den Riegel vor. Der Schlüssel drehte sich
im Schloss.
Wynter presste sich an das Holz, Tränen strömten
ihr über das Gesicht. Sie lauschte: Kein Geräusch kam von
drinnen.
»Vater«, flüsterte sie. »Vater.«
»Bitte«, sagte er da leise, die Stimme gedämpft,
als drückte er das Gesicht an die Tür.
Wynter schloss die Augen und schluchzte.
»Bitte«, hörte sie ihn erneut. »Geh …«
Wynter legte die Hände flach auf das Holz und
lehnte ihre Stirn daran. Nass tropfte es von ihrem Gesicht auf die
Steinfliesen. Sie nickte. »Lebe wohl, Vater«, flüsterte sie. »Ich
liebe dich.«
Zunächst vernahm sie keinen Laut von der anderen
Seite. Dann, als sie das Ohr an die Tür legte, hörte sie schwach,
sehr schwach, ein langgezogenes, zögerndes Schaben, als hätte ihr
Vater mit der Hand über das Holz gestrichen.
Bedächtig und unendlich langsam richtete sich
Wynter auf, denn jede Bewegung kostete sie fast übermenschliche
Willensanstrengung. Sie verharrte einen letzten Augenblick, eine
Hand immer noch auf die Tür gelegt. Dann ließ sie den Kopf sinken,
die Hände fallen und ging mit steifen Schritten davon.