Es gibt kein Zurück
Als Wynter den Riegel zurückgeschoben
hatte, schlüpfte
Jonathon herein und schloss die Tür sorgsam hinter
sich. Er musterte Wynter von Kopf bis Fuß und runzelte angesichts
ihres zerzausten Haars und der geschwollenen Augen die Stirn. Er
roch stark nach Wein, und Wynter trat einen Schritt zurück.
Betrunkenen brachte sie ausgeprägtes Misstrauen entgegen.
Doch der König war lediglich etwas wackelig auf den
Beinen, und seine Augen – wenn auch rot und schwer – blickten wach.
Leicht schwankend stand er dort und spähte an ihr vorbei. »Ist er
wach?«, fragte er leise.
Wynter nickte, hielt aber Abstand zu ihm. Was
zum Teufel willst du?, dachte sie. Ausgerechnet heute Abend
– konntest du uns nicht einfach in Ruhe lassen?
Einen Moment lang wirkte Jonathon unentschlossen,
er stieß ein tiefes Seufzen aus. Dann fuhr er sich mit einer Geste
durchs Haar, die Wynter so stark an Razi erinnerte, dass sie
zusammenzuckte. Sie hatte Ungeduld erwartet, da man ihn warten
ließ, oder Zorn, da sie sich ganz offensichtlich nicht
angekleidet hatte. Doch Jonathon machte einen so zaghaften, so
verunsicherten Eindruck, dass sie nicht wusste, wie sie sich
verhalten sollte. Plötzlich schien er sich zu fangen und tätschelte
Wynter zu ihrer Verblüffung die Schulter, bevor er
in den Gemeinschaftsraum ging und den Kopf in Lorcans Kammer
steckte.
»Lorcan.« Er verharrte auf der Schwelle, die Hand
auf den Türsturz gelegt.
»Was willst du?«, hörte man Lorcan kalt und
deutlich krächzen.
Jonathon ließ den Kopf hängen, der Schein des
Feuers umkränzte ihn golden. »Gestatte mir, einzutreten, Bruder.
Ich möchte mit dir sprechen.«
Das dem Klang nach aufrichtige Bitten in seiner
Stimme machte Wynter misstrauisch. Bedeutet das, dachte sie,
du würdest tatsächlich wieder gehen, wenn Vater dir den Wunsch
verweigerte?
Vielleicht dachte Lorcan über dieselbe Frage nach,
denn es folgte ein langes, düsteres Schweigen, während der König an
der Tür verharrte. Endlich sagte ihr Vater: »Ich bin müde,
Majestät. Ein anderes Mal vielleicht.«
Der König richtete sich auf und starrte Lorcan an.
Wynter hielt den Atem an, sie wartete auf den Ausbruch, rechnete
mit Jähzorn. Doch Jonathon blieb einfach nur reglos stehen, dann
senkte er den Kopf und drehte sich um.
Steif und ängstlich sah Wynter den König auf sich
zukommen. Doch er ging einfach an ihr vorbei und entriegelte ohne
ein weiteres Wort die Tür. Schon hatte er einen Fuß über die
Schwelle gesetzt, als Lorcan ihn rief.
»Jon!«
Der König hielt inne und horchte. Wieder hörte man
lange nichts, dann sagte Lorcan still: »Komm wieder herein.«
Jonathon gehorchte und schob den Riegel wieder vor.
Auf dem Weg hob er einen der schweren runden Sessel auf und trug
ihn in Lorcans Kammer.
Wynter blieb in der Tür stehen und beäugte den
König,
wie er ungeschickt den Sessel vor Lorcan abstellte und sich
setzte. Sie sah fragend ihren Vater an und wartete auf Anweisungen.
Er saß zusammengesunken mit finsterer Miene in seinem Stuhl, hatte
sich die Tränen vom Gesicht gewischt und sein unordentliches Haar
auf den Rücken geworfen; in seinem Blick lag nichts Weiches. An
Wynter gewandt sagte er: »Komm herein. Setz dich.«
Nicht besonders erfreut sah Jonathon sie über seine
massige Schulter hinweg an, erhob aber keine Einwände, als sie
eintrat und sich am Fußende des Bettes auf die Kante setzte.
»Ich habe noch nicht gegessen, Vater«, sagte sie.
»Später muss ich vielleicht noch einmal in die Küche gehen und
etwas holen.«
Lorcan begegnete ihrem Blick und verstand: Sie
hatte Dinge zu erledigen – Dinge, die vermutlich mit ihrer
verfrühten Abreise zu tun hatten. Er nickte. »Wann immer du Hunger
verspürst, mein Kind, geh nur. Ansonsten bleib, solange du
willst.«
»Danke, Vater.«
Nun wandte Lorcan seine volle Aufmerksamkeit dem
König zu, die Züge erneut verhärtet. Einen Moment lang sahen die
beiden Männer einander schweigend über die Überbleibsel ihrer
brüchigen Freundschaft hinweg an.
Lorcans Gesicht blieb steinern, und Jonathon wandte
sich als Erster ab. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf,
starrte ins Feuer, als überlegte er. Zögerlich steckte er die Hand
unter sein Hemd und zog ein gefaltetes Blatt hervor. Er umklammerte
es kurz, als wollte er sich nicht davon trennen, dann beugte er
sich vor und streckte es Lorcan entgegen.
Lorcan betrachtete das Papier, als könnte es ihn
beißen, weswegen Jonathon es seinem alten Freund ungeduldig
aufzudrängen
versuchte. »Herrgott nochmal«, knurrte er schließlich. »Jetzt nimm
das blöde Ding schon!«
Unwillig gehorchte Lorcan. Er faltete das Blatt auf
und überflog den Inhalt. Wynter sah seine Züge zusammenfallen; er
las die Zeilen erneut und noch einmal und dann ein letztes Mal.
Schließlich senkte er den Bogen und richtete den Blick ins Leere.
Als er Jonathon wieder ansah, musterte er ihn mit neu erwachtem
Argwohn.
Ehrlich betroffen stöhnte der König auf und hielt
die Hände hoch, als wollte er eine unausgesprochene Anschuldigung
abwehren. »Ach, Bruder …« Er wandte die Augen ab. »Diesen Blick
habe ich wirklich verdient. Doch hab Nachsicht mit mir, ich bitte
dich. Ich schwöre dir, dass keine Forderungen damit
verknüpft sind. Es gehört dir. Es gehört alles dir. Zu spät, ich
weiß, aber ich wünsche dir alle erdenkliche Freude, die noch davon
geblieben sein mag.«
Wynter konnte die Auswirkungen des Alkohols in
Jonathons Stimme hören, und das beunruhigte sie. Betrunkene Männer
waren immer so unberechenbar und seltsam. Besorgt über Lorcans
Gesichtsausdruck glitt sie von der Bettkante. Sie beobachtete die
Gefühlsverwirrung in seiner Miene und wusste nicht, ob er weinen,
schreien oder sich aufbäumen und Jonathon niederschlagen wollte.
Sein Atem ging eine Spur zu rasch, die Wangen brannten hellrot.
Endlich streckte Lorcan ihr – die Augen unverwandt auf den König
gerichtet und heftig mit dem Kiefer mahlend – das Schreiben hin.
Der Schein des Feuers beleuchtete es flüchtig, schattenhaft konnte
sie Jonathons flüssige Handschrift erkennen.
Sie nahm es entgegen. Natürlich war es ihres Vaters
Konzession. Gezeichnet, mit Siegel versehen, alles entsprechend der
strengen Verordnung. Bewilligt – umsonst und aus freien Stücken -,
doch aus welchem Grund, wusste sie nicht zu sagen.
Sie las die Urkunde durch, das Papier bebte in ihrer Hand. Dann
hob sie den Kopf, um Jonathon anzusehen, der immer noch das Gesicht
abgewandt hatte.
»Wir danken Eurer Majestät«, zischte sie, »für Eure
Güte und Großzügigkeit. Was für ein Jammer, dass Ihr es nicht übers
Herz brachtet, ihm diese Konzession anzuvertrauen, bevor Ihr ihn
zugrunde richtetet.«
»Bedeutet das, Jonathon, du willst, dass ich gehe?«
Lorcans Stimme war kaum mehr als ein trockenes Flüstern.
Vor Schreck krallte Wynter die Hand um die Schulter
ihres Vaters. O nein, das kann nicht sein! Du kannst ihn doch
nicht fortjagen! Nicht in seinem Zustand! Nicht, wenn ich ihn
verlassen und deiner Obhut übergeben muss!
Doch Jonathon hob den Kopf, und sein Gesicht
drückte solch tiefe Bestürzung aus, dass sich Wynter durch ein
Blinzeln vergewissern musste, dass es nicht lediglich das
flackernde Licht war, das ihren Augen einen Streich spielte. Er
fand keine Worte, forschte in Lorcans bleichen Zügen und fand dort
nur Vorwürfe.
»Mein Freund«, gelang es ihm endlich zu sagen, »bin
ich ein solches Ungeheuer geworden, dass du mir das
zutraust?«
Lorcan schwieg, doch Wynter spürte, wie seine
Haltung etwas gelöster wurde. Sie fragte sich, was er wohl dachte.
Was sie betraf – sie sah immer nur den Mann vor sich, der Razi so
grausam behandelt hatte, der Christopher beinahe das Leben genommen
und Alberon einer Treibjagd ausgesetzt hatte, als wäre er nicht
sein Sohn, sondern ein Fuchs. Sie blickte in Jonathons sanft
flehendes, vom Wein gerötetes Gesicht und sah nur Selbstsucht und
ein kindisches Verlangen nach Absolution.
Jetzt neigte Jonathon den Kopf, ohne Lorcan aus den
Augen zu lassen, seine Stimme klang verzagt. »Lorcan?« Es
klang wie eine Frage. »Heute hat Razi fünf von meinen Männern
bewusstlos geschlagen. Und nicht nur das … Ich habe auch den
Verdacht, dass er drei weitere töten ließ … Sie befanden
sich im Wald und wurden noch nicht gefunden.« Ungläubig hielt
Jonathon inne, als versuchte er, das alles zu verstehen. »Das war
Razi«, murmelte er. »Mein Razi.«
Lorcan war erbarmungslos. »Du hast immer gewusst,
wozu dieser Junge fähig ist, wenn er die beschützt, die er liebt.
Was zum Henker hattest du denn erwartet? Nachdem du ihn so in die
Ecke gedrängt hast?«
»Aber welche Wahl hatte ich denn!«, rief er
aufgewühlt. »Sag mir, was ich hätte anders machen können, Lorcan!
Sag mir, wie ich noch etwas ändern kann – nun, da der Stein ins
Rollen gebracht wurde.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Lorcan sanft. »Weil
ich immer noch nicht genau weiß, was du getan hast.«
Jonathon stieß ein bitteres Lachen aus. »Abgesehen
davon, dass ich mein Volk unterdrücke und meine wunderschönen Söhne
zerstöre? Abgesehen davon?« Er schluckte sichtlich und sah Lorcan
eindringlich an. »Abgesehen davon, dass ich meinen besten Freund
beinahe ins Grab gebracht hätte, weil ich zweifelte, ob er auf
meiner Seite steht?« Er biss sich auf die Lippen, seine Augen
leuchteten hell. Mit einer hilflosen Geste fuhr er fort: »Es tut
mir leid, Bruder. Ich habe keine Ahnung, wie wir das durchstehen
sollen. Und das tut mir leid.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Lorcan
neigte sich leicht nach vorn und sah seinen alten Freund an. Sein
allzu flacher Atem gefiel Wynter gar nicht, und sie legte ihm die
Hand von der Schulter auf den Rücken. »Vielleicht«, sagte Lorcan
heiser, »vielleicht ist es noch nicht zu spät, Alberon zu vergeben.
Wenn du das Mortuus …«
Jonathon setzte sich zurück, bedauernd schüttelte
er den Kopf. »Glaubst du, ich hätte das alles getan, wenn ich an
Alberons Absichten auch nur den geringsten Zweifel hegte? Der Junge
steht gegen mich. Er plant einen Umsturz. Dessen bin ich mir
absolut gewiss. Während wir hier sprechen, versammeln er und Oliver
Vertreter um sich – sie stecken bereits tief in Verhandlungen mit
allen gegnerischen Lagern, die an den Rändern dieses zerbrechlichen
Reichs nagen.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte der König in
die Flammen. »Sie werden ihre Verbündeten zusammenziehen, und dann
werden sie versuchen, mir dieses Reich mit Hilfe deiner Maschine zu
entreißen.« Erneut schüttelte er den Kopf und seufzte. »Ich sitze
in der Falle. Ich weiß keine andere Möglichkeit, als Alberon zu
töten und den armen Razi zugrunde zu richten, indem ich ihn den
Platz seines Bruders einnehmen lasse.«
»Mit Hilfe meiner …« Lorcans Muskeln zuckten unter
Wynters Hand. »Sie haben die Maschine?« Zitternd
umklammerte er die Sessellehnen.
»Vater«, raunte sie ihm zu, »so beruhige dich doch
…«
»Nein!«, brüllte der König ungeduldig. »Sie
haben die Maschine nicht. Es ist nur noch eine übrig, und
die befindet sich …« Er warf Wynter einen schnellen Seitenblick zu.
»In meiner Obhut.« Etwas Neues lag in seinen Augen, als er sich
Lorcan wieder zuwandte, eine Art beleidigte Rachsucht, die Wynter
in Alarmbereitschaft versetzte.
»Ich habe deine Maschine benutzt, um den Aufstand
niederzuwerfen, Lorcan … Oliver war dabei … Er gehörte zur
Mannschaft.«
Lorcan stöhnte auf und verbarg das Gesicht in den
Händen. In Jonathons Miene entdeckte Wynter ein winziges
Aufflackern von Genugtuung.
»Ach, mach dir bloß keine Sorgen«, spöttelte er.
»Es war
nicht in der Schlacht, es gab keine geschwätzigen
Überlebenden. Nein, es war genau wie früher … ein Hinterhalt.
Innerhalb von Minuten war jeder Mann tot.«
Wieder stöhnte Lorcan und wiegte sich vor und
zurück. Jonathon betrachtete ihn mit kalter Miene.
»Die Mannschaft«, zischte Lorcan. »Was wurde aus
der Mannschaft?«
»Neben Oliver und mir selbst? Sie sind allesamt
…«
Lorcan hob den Kopf und starrte Jonathon
flehentlich an. »Jon … Jon, hast du …«
Jonathon verdrehte missbilligend die Augen, lehnte
sich in den Sessel zurück und drehte den Kopf weg. »Sie leben alle
noch. Alle neun, meine Leibwache. Sie würden lieber sterben als zu
reden.« Er schob den Unterkiefer vor und blickte ins Feuer. »Aber
Oliver«, knurrte er. »Oliver …«
Urplötzlich sprang Lorcan wie von der Tarantel
gestochen auf, schob Wynter voller Angst von sich fort und zischte
sie an: »Raus! Raus hier! Du darfst nicht hier sein!«
Jonathon schnaubte laut. »Aber natürlich«,
versetzte er. Wynter und ihr Vater sahen ihn mit großen Augen an,
beide erschüttert von der kalten Verachtung in seiner Stimme. »Wir
können ja nicht zulassen, dass das kleine Moorehawke-Kind davon
besudelt wird, nicht wahr? Die Königssöhne dürfen sich gern in die
Flammen werfen, das ist dir gleichgültig. Aber dein kostbares
Mädchen muss frei und ohne Tadel bleiben.«
»Jonathon«, bat Lorcan inständig, während er
gleichzeitig den massigen Arm um Wynter schlang und sie langsam
hinter seinen Stuhl schob. »Jonathon … bitte. Du darfst nicht
…«
»Darf was nicht?« Der König beugte sich vor und
funkelte ihn böse an. »Darf was nicht? Oliver will
deine Maschine benutzen, um das Königreich auszudehnen. Er
will sie im Dutzend
bauen!« Er suchte in Lorcans Miene nach einer Gefühlsregung und
schien erfreut über das Entsetzen, das er darin fand. »Er hat deine
Pläne gestohlen«, fuhr er fort. »Er hat Hunderte und Aberhunderte
deiner ausgeklügelten kleinen Kartuschen mitgenommen
und verspricht jeder Partei, die sich ihm anschließt, ihre eigene
Maschine!« Unversehens schlug er sich mit der Faust auf die Brust,
seine Stimme bebte. »Ich opfere meine Söhne, Lorcan. Manchmal
glaube ich, dass ich meine eigene verfluchte Seele opfere,
um das zu verhindern.« Nun rannen ihm Tränen über die Wangen, doch
seiner Miene fehlte jede Sanftheit; da waren nur Zorn und bitterer,
bitterer Groll gegen den Mann, der vor ihm saß. Er stach mit dem
Finger in der Luft nach Lorcan, sein Gesicht war dunkelrot, die
Zähne gefletscht. »Du hast dieses verfluchte Ding gebaut! Du
allein! Versuch nicht, dich reinzuwaschen! Wag es nicht, mir zu
sagen, dass dich keine Schuld trifft!«
»Aber Jon …«, beschwor ihn Lorcan. »Du sagtest, sie
wären zerstört worden! Du hast es versprochen! Wir haben die
Kartuschen in den Fluss geworfen! Du hast mich die Pläne verbrennen
lassen – die einzigen Pläne. Zumindest hast du das damals
behauptet. Mein Gott, Jon! War das alles nur eine große Lüge?
Alles, was wir taten … die Männer, die wir … nur, um das alles zu
begraben! Und das war eine Lüge? Wir haben doch geschworen, Jon …
geschworen. Das sollte alles vorbei sein.«
Der König blinzelte. Er sah verwirrt aus und sank
in den Sessel zurück. »Nun ja …«, brummte er. »Das ist es
nicht.«
Drückendes Schweigen legte sich über den Raum.
Wynter hatte Angst, sich zu bewegen, um die Männer nicht daran zu
erinnern, dass sie noch da war. Der Arm, den ihr Vater beschützend
um sie geschlungen hatte, war herabgesunken, die
andere Hand lag totenbleich in seinem Schoß. Alle Kraft schien ihn
verlassen zu haben.
Jonathon saß still brütend am Kamin, als wäre er
allein in seinem Gemach, er schenkte Wynter und ihrem Vater
keinerlei Beachtung. Die Hände auf die Armlehnen des Sessels
gelegt, starrte er entrückt in die Flammen. Als er endlich wieder
das Wort ergriff, war er gefasst und nachdenklich. Bitterkeit und
Verachtung waren aus seiner Stimme verschwunden. »Du hast deine
Sache dort oben im Norden hervorragend gemacht, Lorcan. Ohne dich
wäre ich verloren gewesen. All die Jahre hast du mir diese
Bluthunde vom Hals gehalten.« Der König sah ihn von der Seite an,
doch sein Freund hielt den Kopf gesenkt, daher drehte sich Jonathon
ganz zu ihm um und stützte die Wange auf seine Faust. »Ohne deine
Maschine hätte dieser verfluchte Aufstand viel mehr Menschenleben
und Mittel gefordert, als wir uns leisten konnten. Du hast mein
Königreich gerettet … wieder einmal. Du warst ein wahrer und treuer
Untertan. Und ein Freund von unschätzbarem Wert.«
Immer noch hielt Lorcan den Kopf gesenkt. Wynter
spürte ihn langsam und tief atmen, als schliefe er. Sie sah ihn an:
Seine Augen spiegelten hell den Feuerschein wider, während er auf
die Spitzen von Jonathons Stiefeln starrte.
»Es tut mir leid, dass ich dir misstraut habe«,
fuhr der König fort. »Ich wünschte, ich hätte dich nach deiner
Rückkehr nicht so bedrängt. Ich wünschte …«
»Nimm deine Wünsche und wirf sie ins Feuer«,
knurrte Lorcan. »Ich möchte nicht hören, was du wünschst oder wofür
du mir dankbar bist oder was du empfindest. Ich möchte nicht einmal
dein Gesicht ansehen. Ich möchte nur, dass du mich in Ruhe
lässt.«
Jonathon lächelte und schnaufte leise. »Tja, du
konntest dir immer den Luxus einer edlen Gesinnung erlauben.« Er
erhob sich aus dem Sessel und musste erst sein Gleichgewicht
finden, bevor er sich aufrichten konnte. »Ich hingegen …« Er lachte
bitter auf. »Ich muss meine Freunde töten und meine Grundsätze
begraben und meine Söhne auf den Scheiterhaufen des Königreichs
werfen.« Er schwankte kurz und wandte sich dann auf unsicheren
Beinen der Tür zu. »Weil ich …« In einer raumgreifenden Geste
breitete er beide Arme aus, während er Lorcans Kammer verließ.
»Weil ich der gottverdammte König bin!«
Sie hörten ihn durch den Empfangsraum stolpern,
dann wurde der Riegel zurückgeschoben, und er war fort, ohne die
Tür hinter sich zu schließen.
Lorcan regte sich nicht, immer noch blickte er zu
Boden. Wynter kniete sich neben ihn. Auch als er sagte »Geh und
mach die Tür zu, Liebes«, sah er sie nicht an.
»Vater, ich …«
»Die Tür, bitte, Wynter.«
Sein Haar war nach vorn gefallen, und sie konnte
sein Gesicht nicht erkennen. Da sie immer noch zögerte, ballten
sich Lorcans Hände ganz langsam zu Fäusten.
Wynter seufzte und ging.
Es war dunkel geworden, und der Empfangsraum wurde
lediglich von dem scharf umrissenen Rechteck aus Licht erhellt, das
vom Gang hereinfiel. Auf dem Weg durch das Zimmer nahm Wynter aus
dem Augenwinkel etwas Weißes wahr und blieb abrupt mit hämmerndem
Herzen stehen. Die orangefarbene Katze saß dort im Schatten, die
weiße Brust und die Spitzen ihrer Pfoten schimmerten im Dämmerlicht
gespenstisch. Die Pfoten lagen fein säuberlich nebeneinander, die
Schwanzspitze wedelte unablässig hin und her. Das Tier sagte
nichts, neigte nur den Kopf zur Seite und weitete erwartungsvoll
die Augen.
Was ist jetzt?, bedeutete dieser Blick.
Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.
Wynter atmete tief durch, um sich wieder zu fangen,
und hielt sich einen Zeigefinger an die Lippen. Schsch,
bedeutete das. Bleib, wo du bist. Rasch schloss und
verriegelte sie die Tür, dann kehrte sie zu ihrem Vater zurück,
wobei sie der Katze immer wieder Blicke zuwarf. In der Tür zum
Gemeinschaftsraum blieb sie kurz stehen und sah sie ein letztes Mal
warnend an: Warte dort!
Die Katze verdrehte die Augen und rümpfte nörgelig
die Nase. Wynter verstand es als Einwilligung.
Ihr Vater hatte sich nicht bewegt; immer noch
starrte er grimmig ins Nichts, die Kiefer fest aufeinandergebissen,
die Hände im Schoß zu Fäusten geballt. Wynter sehnte sich danach,
ihm die verfilzten Haare auszubürsten und einen ordentlichen Zopf
zu flechten. Doch sie ging lediglich zu ihm und kniete sich hin.
Ihr war nur zu bewusst, dass die Katze im Nebenraum saß – horchend,
ungeduldig wartend.
»Vater«, sagte sie leise. »Geht es dir gut?«
Lorcan starrte einfach weiter auf den Boden. Sie
nahm seine Hand. Sie war sehr kalt, und Wynter rieb mit dem Daumen
darüber. Er schien es nicht zu bemerken.
Diese ganze Sache war Wynter ein Rätsel. Ihrer
Ansicht nach war diese Maschine – was auch immer das sein
mochte – ein Gottesgeschenk für das Königreich. Alles, was eine
Auseinandersetzung rascher beenden konnte, musste doch ein Segen
sein? Schlachten wurden auf Kosten der Leben Hunderter, manchmal
Tausender Männer geschlagen. Sie wurden von Kanonenkugeln
erschlagen, von Pfeilen durchbohrt, von Schwertern und Hellebarden
zerfetzt. Sie wurden von Piken und Lanzen aufgespießt, geschlagen
und verstümmelt und schreiend liegen gelassen, um von den Hufen der
Pferde zertrampelt
zu werden. Wenn ihr Vater etwas geschaffen hatte, eine Waffe, die
all das zu einem schnellen Abschluss bringen konnte – umso besser!
Lass Jonathon sie zu Hunderten bauen und die Grenzen des
Königreichs damit säumen! Ginge es nach Wynter – genau das täte
sie.
Doch ein Blick in das Gesicht ihres Vaters zeigte
ihr, dass er von dieser Vorstellung gebrochen, ausgehöhlt war. Das
verstörte sie. Zwar war er nie ein Freund des Kriegs gewesen, doch
er hatte auch nie vor der brutalen Notwendigkeit körperlicher
Auseinandersetzungen zurückgescheut. In seinen jungen Jahren war er
selbst in den Krieg gezogen und für seine wilde Unerschrockenheit
im Kampf berühmt gewesen. Damals, in den Anfangstagen des Aufstands
– bevor er in den Norden entsandt wurde -, hatte Lorcan gemeinsam
mit Jonathon über die Landkarten gebeugt gestanden und
Schlachtpläne geschmiedet, die gewiss Hunderte Männer in den Tod
schicken würden. Warum also bekümmerte ihn die Aussicht, seine
Maschine könnte zur Verteidigung des von ihm so geliebten
Königreichs eingesetzt werden?
Was Jonathon betraf – ihn verstand Wynter besser.
Er befürchtete, die Maschine könnte gegen ihn gerichtet werden –
vielleicht hatte er sie für sich allein haben wollen und deshalb
alles Wissen über sie zurückzuhalten versucht. Doch warum hatte er
dann überhaupt je eingewilligt, sie zu zerstören? Ein so mächtiges
Instrument! Nichts von alldem wollte ihr einleuchten … Und nun war
sie erst recht entschlossen, Alberon zu suchen, um Antworten auf
diese Fragen zu erhalten.
Lorcan zischte, und Wynter riss sich erschrocken
aus ihren Gedanken. Er verzog das Gesicht und entwand sich sanft
ihrem Griff. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seine Finger in
ihrem inneren Aufruhr geknetet hatte wie Kuchenteig.
»Oh, Vater, entschuldige!«
Er war immer noch verstört und aufgewühlt. »Morgen
früh wird er das bereuen«, murmelte er. »Wenn der Wein seine
Wirkung verloren hat.«
»Aber jetzt kann er es nicht mehr zurücknehmen! Sie
gehört dir!«
Ratlos blickte Lorcan sie an, dann begriff er, dass
sie von der Konzession sprach. »Nein, mein Schatz. Er wird bereuen,
vor dir so gesprochen zu haben. Es wird an ihm nagen … er wird sich
nicht sicher fühlen. Zu wissen, dass er sich vor dir so offenbart
hat.« Er sah durch sie hindurch. »Du musst fort – mehr denn je.
Sobald Razi aufgebrochen ist, musst du ihm folgen. Du darfst
keine Zeit vergeuden, sonst verlierst du ihn noch …« Jetzt blickte
er ihr fest in die Augen und schüttelte sie leicht, um die
Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. »Du … darfst … nicht …
zögern!«
»Aber was wird aus dir, Vater?«
»Aus mir? Aus mir wird nichts mehr, ich bin am
Ende. Aber ich werde nicht zulassen, dass du in den Flammen
verbrennst, die ich selbst schürte. Geh! Folge Razi nach Padua!
Unterstell dich seinem Schutz, denn er wird dich niemals hierher
zurückschicken, das verspreche ich dir. Du sollst ein gutes Leben
haben, mein kleines Mädchen …« Er zog die Augenbrauen hoch und
lächelte schief. »Und das wirst du gewiss – hat nicht der König
persönlich dir soeben die beste Handwerkskonzession ausgehändigt,
die je in der Geschichte dieses Königreichs einem Mann oder einer
Frau gewährt wurde?« Erneut strich er ihr über das Haar und neigte
liebevoll den Kopf. »Bei deiner Begabung, meine Kleine, kannst du
gar nicht scheitern.«
»Oh, Vater, bitte.« Sie konnte ihm nicht in die
Augen sehen – konnte nicht die unerschütterliche Hoffnung darin
lesen und gleichzeitig wissen, dass sie ihn hintergehen würde.
Sie wandte den Kopf ab und erstarrte, als sie die Katze auf der
Fensterbank fand. Das Tier fletschte ungeduldig die Zähne und
funkelte sie an. Wynter riss sich von dem Anblick los. Herr im
Himmel.
»Wynter?« Lorcan klopfte ihr auf die Hand.
»Liebling?«
Nun sah sie ihn an und konnte die Tränen nicht mehr
zurückhalten. Er nahm ihr Kinn in seine große Hand und wischte sie
mit dem Daumen ab. »Mein Schätzchen«, flüsterte er. »Könnten wir …
könnten wir uns nicht etwas vormachen?«
Noch mehr Tränen flossen, Wynter senkte den Kopf.
Sie gehörten nicht zu den Menschen, die sich oder anderen etwas
vormachten, die Moorehawkes, ganz und gar nicht. Als sie ihm das
Gesicht wieder zuwandte, nahm sie seine Hand. »Ja, Vater. Was
wollen wir uns vormachen?«
Er drückte ihre Finger. »Lass uns so tun, als ob
das morgen nicht unser Abschied wäre.« Sie schluchzte vernehmlich
auf. Lorcan sah sie liebevoll an. »Tun wir so, als gingest du nur
nach Helmsford, um eine Fuhre Holz zu begutachten. Als wärest du in
einer Woche wieder zurück. Als sähen wir einander in einer Woche
schon wieder. Wynter, könnten wir das tun?«
Gleich, wie heftig sie die Kiefer auch
zusammenpresste, ihr Kinn wollte einfach nicht aufhören zu beben,
die Tränen rannen ihr jetzt hemmungslos über die Wangen und
tropften auf ihren Hals. Lorcan machte ein ersticktes Geräusch und
legte ihr die Hände um das Gesicht. Er schob ihr das Haar aus der
Stirn, trocknete ihr erneut die Wangen und verzog entschlossen den
Mund. »Lass uns so tun, als ob, meine Kleine«, brummte er. »Bitte
…«
»Ja, Vater!« Sie nahm seine Hände von ihrem Gesicht
und hielt sie ganz fest in ihren, da er immer aufgewühlter über
ihre Wangen strich. »Ja. Helmsford. Holz. Eine Woche. So ist
es.«
Kurz wurden seine Augen riesig, und in dieser
Sekunde glaubte sie, er wäre selbst nicht in der Lage, zu tun, was
er von ihr verlangte. Doch dann presste er die Lippen zu einem
schmalen Strich zusammen, biss die Zähne aufeinander, dass die
Kiefer hervortraten, und nickte gefasst.
»Ich muss jetzt zu Bett gehen, meine Kleine«, sagte
er. »Ich werde Marcello ausrichten lassen, dass er morgen sehr früh
kommt, damit ich mit dir frühstücken kann, bevor …«
Sie senkte zustimmend den Kopf. »Du musst dich
ausruhen. Und ich muss mit Marni sprechen.« Er zuckte besorgt, doch
Wynter tätschelte ihm die Hand. »Ich passe schon auf.« Sie warf der
Katze einen vielsagenden Blick zu, woraufhin diese hochmütig
davonstolzierte – zweifelsohne über das Sims zurück in den
Empfangsraum. »Ich verspreche dir, dass ich nicht mehr heimlich
herumschleichen werde. Mir passiert schon nichts.«
Lorcan nickte, und sein bedingungsloses Vertrauen
brach ihr fast das Herz.
Sie schniefte laut, schüttelte sich und drängte
ihre Empfindungen sorgsam in die Tiefen ihrer Magengrube zurück.
Dann schob sie Lorcan ihre Schulter unter die Achsel und half ihm
auf die Füße. Mit ihrer Unterstützung schaffte er – wenn auch
langsam und schmerzgeplagt – den Weg zum Bett. Schwer wie ein
Felsbrocken ließ er sich auf sein Kissen sinken, hielt noch kurz
ihre Hand, ohne sie anzusehen, und schob sie dann sanft von sich
fort.
Wynter ging hinaus und schloss die Tür. Als sie
einen letzten Blick auf ihn warf, sah sie ihn ins Feuer starren,
die Hände auf der Brust geballt, das Gesicht gequält. Er würde noch
lange nicht schlafen.
Sie hielt sich nur noch einen Moment auf, um sich
ihren Dolch umzuschnallen und Kerze und Zunderbüchse in den
Gürtelbeutel zu stecken. Im letzten Augenblick schob sie
Christophers Karte neben Razis tröstlich knisternden Brief an ihrem
Herzen und zog Christophers Jacke über ihr Hemd, bevor sie endlich
wieder zurück zu der Katze ging.
Die schäumte inzwischen vor Zorn. »Du hast dir ja
hübsch Zeit gelassen, was?«, zischte sie. »Ich muss beträchtlich
gealtert sein während deiner schier endlosen Unterredung mit diesem
Mann.«
Wynter atmete tief durch und ballte die Hände.
»Dann sollten wir uns beeilen«, stieß sie zähneknirschend hervor.
»Ehe dein Gehirn vollends vergreist ist.«
Die Katze fauchte unterdrückt, und Wynter deutete
auf die Tür. »Du wirst einen anderen Zugang zu dem Geheimgang für
mich finden müssen. Ich kann nicht riskieren, dass mein Vater mich
hört und ahnt, was ich vorhabe.«
Die Katze führte sie hinaus, und schon bald darauf
schlüpfte sie geschmeidig hinter einen Wandteppich. Wynter folgte
ihr. Ein rasches Abtasten der dahinterliegenden Holztafel brachte
den allgegenwärtigen Cherub zum Vorschein, den sie halb
herumdrehte. Sogleich glitt eine kleine Geheimtür auf, und Wynter
und die Katze traten in die staubige Schwärze der verborgenen
Stollen.
Beinahe unmittelbar spürte Wynter, wie die Katze
über ihre Beine und den Oberkörper hinaufkletterte und sich auf
ihrer Schulter zusammenkauerte. Zischend begann sie, Anweisungen zu
erteilen, und Wynters Herz pochte schmerzlich in ihrer Kehle, als
sie die gewundene Reise durch die Finsternis antraten.