Es gibt kein Zurück
Als Wynter den Riegel zurückgeschoben hatte, schlüpfte
Jonathon herein und schloss die Tür sorgsam hinter sich. Er musterte Wynter von Kopf bis Fuß und runzelte angesichts ihres zerzausten Haars und der geschwollenen Augen die Stirn. Er roch stark nach Wein, und Wynter trat einen Schritt zurück. Betrunkenen brachte sie ausgeprägtes Misstrauen entgegen.
Doch der König war lediglich etwas wackelig auf den Beinen, und seine Augen – wenn auch rot und schwer – blickten wach. Leicht schwankend stand er dort und spähte an ihr vorbei. »Ist er wach?«, fragte er leise.
Wynter nickte, hielt aber Abstand zu ihm. Was zum Teufel willst du?, dachte sie. Ausgerechnet heute Abend – konntest du uns nicht einfach in Ruhe lassen?
Einen Moment lang wirkte Jonathon unentschlossen, er stieß ein tiefes Seufzen aus. Dann fuhr er sich mit einer Geste durchs Haar, die Wynter so stark an Razi erinnerte, dass sie zusammenzuckte. Sie hatte Ungeduld erwartet, da man ihn warten ließ, oder Zorn, da sie sich ganz offensichtlich nicht angekleidet hatte. Doch Jonathon machte einen so zaghaften, so verunsicherten Eindruck, dass sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Plötzlich schien er sich zu fangen und tätschelte Wynter zu ihrer Verblüffung die Schulter, bevor er in den Gemeinschaftsraum ging und den Kopf in Lorcans Kammer steckte.
»Lorcan.« Er verharrte auf der Schwelle, die Hand auf den Türsturz gelegt.
»Was willst du?«, hörte man Lorcan kalt und deutlich krächzen.
Jonathon ließ den Kopf hängen, der Schein des Feuers umkränzte ihn golden. »Gestatte mir, einzutreten, Bruder. Ich möchte mit dir sprechen.«
Das dem Klang nach aufrichtige Bitten in seiner Stimme machte Wynter misstrauisch. Bedeutet das, dachte sie, du würdest tatsächlich wieder gehen, wenn Vater dir den Wunsch verweigerte?
Vielleicht dachte Lorcan über dieselbe Frage nach, denn es folgte ein langes, düsteres Schweigen, während der König an der Tür verharrte. Endlich sagte ihr Vater: »Ich bin müde, Majestät. Ein anderes Mal vielleicht.«
Der König richtete sich auf und starrte Lorcan an. Wynter hielt den Atem an, sie wartete auf den Ausbruch, rechnete mit Jähzorn. Doch Jonathon blieb einfach nur reglos stehen, dann senkte er den Kopf und drehte sich um.
Steif und ängstlich sah Wynter den König auf sich zukommen. Doch er ging einfach an ihr vorbei und entriegelte ohne ein weiteres Wort die Tür. Schon hatte er einen Fuß über die Schwelle gesetzt, als Lorcan ihn rief.
»Jon!«
Der König hielt inne und horchte. Wieder hörte man lange nichts, dann sagte Lorcan still: »Komm wieder herein.«
Jonathon gehorchte und schob den Riegel wieder vor. Auf dem Weg hob er einen der schweren runden Sessel auf und trug ihn in Lorcans Kammer.
Wynter blieb in der Tür stehen und beäugte den König, wie er ungeschickt den Sessel vor Lorcan abstellte und sich setzte. Sie sah fragend ihren Vater an und wartete auf Anweisungen. Er saß zusammengesunken mit finsterer Miene in seinem Stuhl, hatte sich die Tränen vom Gesicht gewischt und sein unordentliches Haar auf den Rücken geworfen; in seinem Blick lag nichts Weiches. An Wynter gewandt sagte er: »Komm herein. Setz dich.«
Nicht besonders erfreut sah Jonathon sie über seine massige Schulter hinweg an, erhob aber keine Einwände, als sie eintrat und sich am Fußende des Bettes auf die Kante setzte.
»Ich habe noch nicht gegessen, Vater«, sagte sie. »Später muss ich vielleicht noch einmal in die Küche gehen und etwas holen.«
Lorcan begegnete ihrem Blick und verstand: Sie hatte Dinge zu erledigen – Dinge, die vermutlich mit ihrer verfrühten Abreise zu tun hatten. Er nickte. »Wann immer du Hunger verspürst, mein Kind, geh nur. Ansonsten bleib, solange du willst.«
»Danke, Vater.«
Nun wandte Lorcan seine volle Aufmerksamkeit dem König zu, die Züge erneut verhärtet. Einen Moment lang sahen die beiden Männer einander schweigend über die Überbleibsel ihrer brüchigen Freundschaft hinweg an.
Lorcans Gesicht blieb steinern, und Jonathon wandte sich als Erster ab. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf, starrte ins Feuer, als überlegte er. Zögerlich steckte er die Hand unter sein Hemd und zog ein gefaltetes Blatt hervor. Er umklammerte es kurz, als wollte er sich nicht davon trennen, dann beugte er sich vor und streckte es Lorcan entgegen.
Lorcan betrachtete das Papier, als könnte es ihn beißen, weswegen Jonathon es seinem alten Freund ungeduldig aufzudrängen versuchte. »Herrgott nochmal«, knurrte er schließlich. »Jetzt nimm das blöde Ding schon!«
Unwillig gehorchte Lorcan. Er faltete das Blatt auf und überflog den Inhalt. Wynter sah seine Züge zusammenfallen; er las die Zeilen erneut und noch einmal und dann ein letztes Mal. Schließlich senkte er den Bogen und richtete den Blick ins Leere. Als er Jonathon wieder ansah, musterte er ihn mit neu erwachtem Argwohn.
Ehrlich betroffen stöhnte der König auf und hielt die Hände hoch, als wollte er eine unausgesprochene Anschuldigung abwehren. »Ach, Bruder …« Er wandte die Augen ab. »Diesen Blick habe ich wirklich verdient. Doch hab Nachsicht mit mir, ich bitte dich. Ich schwöre dir, dass keine Forderungen damit verknüpft sind. Es gehört dir. Es gehört alles dir. Zu spät, ich weiß, aber ich wünsche dir alle erdenkliche Freude, die noch davon geblieben sein mag.«
Wynter konnte die Auswirkungen des Alkohols in Jonathons Stimme hören, und das beunruhigte sie. Betrunkene Männer waren immer so unberechenbar und seltsam. Besorgt über Lorcans Gesichtsausdruck glitt sie von der Bettkante. Sie beobachtete die Gefühlsverwirrung in seiner Miene und wusste nicht, ob er weinen, schreien oder sich aufbäumen und Jonathon niederschlagen wollte. Sein Atem ging eine Spur zu rasch, die Wangen brannten hellrot. Endlich streckte Lorcan ihr – die Augen unverwandt auf den König gerichtet und heftig mit dem Kiefer mahlend – das Schreiben hin. Der Schein des Feuers beleuchtete es flüchtig, schattenhaft konnte sie Jonathons flüssige Handschrift erkennen.
Sie nahm es entgegen. Natürlich war es ihres Vaters Konzession. Gezeichnet, mit Siegel versehen, alles entsprechend der strengen Verordnung. Bewilligt – umsonst und aus freien Stücken -, doch aus welchem Grund, wusste sie nicht zu sagen. Sie las die Urkunde durch, das Papier bebte in ihrer Hand. Dann hob sie den Kopf, um Jonathon anzusehen, der immer noch das Gesicht abgewandt hatte.
»Wir danken Eurer Majestät«, zischte sie, »für Eure Güte und Großzügigkeit. Was für ein Jammer, dass Ihr es nicht übers Herz brachtet, ihm diese Konzession anzuvertrauen, bevor Ihr ihn zugrunde richtetet.«
»Bedeutet das, Jonathon, du willst, dass ich gehe?« Lorcans Stimme war kaum mehr als ein trockenes Flüstern.
Vor Schreck krallte Wynter die Hand um die Schulter ihres Vaters. O nein, das kann nicht sein! Du kannst ihn doch nicht fortjagen! Nicht in seinem Zustand! Nicht, wenn ich ihn verlassen und deiner Obhut übergeben muss!
Doch Jonathon hob den Kopf, und sein Gesicht drückte solch tiefe Bestürzung aus, dass sich Wynter durch ein Blinzeln vergewissern musste, dass es nicht lediglich das flackernde Licht war, das ihren Augen einen Streich spielte. Er fand keine Worte, forschte in Lorcans bleichen Zügen und fand dort nur Vorwürfe.
»Mein Freund«, gelang es ihm endlich zu sagen, »bin ich ein solches Ungeheuer geworden, dass du mir das zutraust?«
Lorcan schwieg, doch Wynter spürte, wie seine Haltung etwas gelöster wurde. Sie fragte sich, was er wohl dachte. Was sie betraf – sie sah immer nur den Mann vor sich, der Razi so grausam behandelt hatte, der Christopher beinahe das Leben genommen und Alberon einer Treibjagd ausgesetzt hatte, als wäre er nicht sein Sohn, sondern ein Fuchs. Sie blickte in Jonathons sanft flehendes, vom Wein gerötetes Gesicht und sah nur Selbstsucht und ein kindisches Verlangen nach Absolution.
Jetzt neigte Jonathon den Kopf, ohne Lorcan aus den Augen zu lassen, seine Stimme klang verzagt. »Lorcan?« Es klang wie eine Frage. »Heute hat Razi fünf von meinen Männern bewusstlos geschlagen. Und nicht nur das … Ich habe auch den Verdacht, dass er drei weitere töten ließ … Sie befanden sich im Wald und wurden noch nicht gefunden.« Ungläubig hielt Jonathon inne, als versuchte er, das alles zu verstehen. »Das war Razi«, murmelte er. »Mein Razi.«
Lorcan war erbarmungslos. »Du hast immer gewusst, wozu dieser Junge fähig ist, wenn er die beschützt, die er liebt. Was zum Henker hattest du denn erwartet? Nachdem du ihn so in die Ecke gedrängt hast?«
»Aber welche Wahl hatte ich denn!«, rief er aufgewühlt. »Sag mir, was ich hätte anders machen können, Lorcan! Sag mir, wie ich noch etwas ändern kann – nun, da der Stein ins Rollen gebracht wurde.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Lorcan sanft. »Weil ich immer noch nicht genau weiß, was du getan hast.«
Jonathon stieß ein bitteres Lachen aus. »Abgesehen davon, dass ich mein Volk unterdrücke und meine wunderschönen Söhne zerstöre? Abgesehen davon?« Er schluckte sichtlich und sah Lorcan eindringlich an. »Abgesehen davon, dass ich meinen besten Freund beinahe ins Grab gebracht hätte, weil ich zweifelte, ob er auf meiner Seite steht?« Er biss sich auf die Lippen, seine Augen leuchteten hell. Mit einer hilflosen Geste fuhr er fort: »Es tut mir leid, Bruder. Ich habe keine Ahnung, wie wir das durchstehen sollen. Und das tut mir leid.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Lorcan neigte sich leicht nach vorn und sah seinen alten Freund an. Sein allzu flacher Atem gefiel Wynter gar nicht, und sie legte ihm die Hand von der Schulter auf den Rücken. »Vielleicht«, sagte Lorcan heiser, »vielleicht ist es noch nicht zu spät, Alberon zu vergeben. Wenn du das Mortuus …«
Jonathon setzte sich zurück, bedauernd schüttelte er den Kopf. »Glaubst du, ich hätte das alles getan, wenn ich an Alberons Absichten auch nur den geringsten Zweifel hegte? Der Junge steht gegen mich. Er plant einen Umsturz. Dessen bin ich mir absolut gewiss. Während wir hier sprechen, versammeln er und Oliver Vertreter um sich – sie stecken bereits tief in Verhandlungen mit allen gegnerischen Lagern, die an den Rändern dieses zerbrechlichen Reichs nagen.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte der König in die Flammen. »Sie werden ihre Verbündeten zusammenziehen, und dann werden sie versuchen, mir dieses Reich mit Hilfe deiner Maschine zu entreißen.« Erneut schüttelte er den Kopf und seufzte. »Ich sitze in der Falle. Ich weiß keine andere Möglichkeit, als Alberon zu töten und den armen Razi zugrunde zu richten, indem ich ihn den Platz seines Bruders einnehmen lasse.«
»Mit Hilfe meiner …« Lorcans Muskeln zuckten unter Wynters Hand. »Sie haben die Maschine?« Zitternd umklammerte er die Sessellehnen.
»Vater«, raunte sie ihm zu, »so beruhige dich doch …«
»Nein!«, brüllte der König ungeduldig. »Sie haben die Maschine nicht. Es ist nur noch eine übrig, und die befindet sich …« Er warf Wynter einen schnellen Seitenblick zu. »In meiner Obhut.« Etwas Neues lag in seinen Augen, als er sich Lorcan wieder zuwandte, eine Art beleidigte Rachsucht, die Wynter in Alarmbereitschaft versetzte.
»Ich habe deine Maschine benutzt, um den Aufstand niederzuwerfen, Lorcan … Oliver war dabei … Er gehörte zur Mannschaft.«
Lorcan stöhnte auf und verbarg das Gesicht in den Händen. In Jonathons Miene entdeckte Wynter ein winziges Aufflackern von Genugtuung.
»Ach, mach dir bloß keine Sorgen«, spöttelte er. »Es war nicht in der Schlacht, es gab keine geschwätzigen Überlebenden. Nein, es war genau wie früher … ein Hinterhalt. Innerhalb von Minuten war jeder Mann tot.«
Wieder stöhnte Lorcan und wiegte sich vor und zurück. Jonathon betrachtete ihn mit kalter Miene.
»Die Mannschaft«, zischte Lorcan. »Was wurde aus der Mannschaft?«
»Neben Oliver und mir selbst? Sie sind allesamt …«
Lorcan hob den Kopf und starrte Jonathon flehentlich an. »Jon … Jon, hast du …«
Jonathon verdrehte missbilligend die Augen, lehnte sich in den Sessel zurück und drehte den Kopf weg. »Sie leben alle noch. Alle neun, meine Leibwache. Sie würden lieber sterben als zu reden.« Er schob den Unterkiefer vor und blickte ins Feuer. »Aber Oliver«, knurrte er. »Oliver …«
Urplötzlich sprang Lorcan wie von der Tarantel gestochen auf, schob Wynter voller Angst von sich fort und zischte sie an: »Raus! Raus hier! Du darfst nicht hier sein!«
Jonathon schnaubte laut. »Aber natürlich«, versetzte er. Wynter und ihr Vater sahen ihn mit großen Augen an, beide erschüttert von der kalten Verachtung in seiner Stimme. »Wir können ja nicht zulassen, dass das kleine Moorehawke-Kind davon besudelt wird, nicht wahr? Die Königssöhne dürfen sich gern in die Flammen werfen, das ist dir gleichgültig. Aber dein kostbares Mädchen muss frei und ohne Tadel bleiben.«
»Jonathon«, bat Lorcan inständig, während er gleichzeitig den massigen Arm um Wynter schlang und sie langsam hinter seinen Stuhl schob. »Jonathon … bitte. Du darfst nicht …«
»Darf was nicht?« Der König beugte sich vor und funkelte ihn böse an. »Darf was nicht? Oliver will deine Maschine benutzen, um das Königreich auszudehnen. Er will sie im Dutzend bauen!« Er suchte in Lorcans Miene nach einer Gefühlsregung und schien erfreut über das Entsetzen, das er darin fand. »Er hat deine Pläne gestohlen«, fuhr er fort. »Er hat Hunderte und Aberhunderte deiner ausgeklügelten kleinen Kartuschen mitgenommen und verspricht jeder Partei, die sich ihm anschließt, ihre eigene Maschine!« Unversehens schlug er sich mit der Faust auf die Brust, seine Stimme bebte. »Ich opfere meine Söhne, Lorcan. Manchmal glaube ich, dass ich meine eigene verfluchte Seele opfere, um das zu verhindern.« Nun rannen ihm Tränen über die Wangen, doch seiner Miene fehlte jede Sanftheit; da waren nur Zorn und bitterer, bitterer Groll gegen den Mann, der vor ihm saß. Er stach mit dem Finger in der Luft nach Lorcan, sein Gesicht war dunkelrot, die Zähne gefletscht. »Du hast dieses verfluchte Ding gebaut! Du allein! Versuch nicht, dich reinzuwaschen! Wag es nicht, mir zu sagen, dass dich keine Schuld trifft!«
»Aber Jon …«, beschwor ihn Lorcan. »Du sagtest, sie wären zerstört worden! Du hast es versprochen! Wir haben die Kartuschen in den Fluss geworfen! Du hast mich die Pläne verbrennen lassen – die einzigen Pläne. Zumindest hast du das damals behauptet. Mein Gott, Jon! War das alles nur eine große Lüge? Alles, was wir taten … die Männer, die wir … nur, um das alles zu begraben! Und das war eine Lüge? Wir haben doch geschworen, Jon … geschworen. Das sollte alles vorbei sein.«
Der König blinzelte. Er sah verwirrt aus und sank in den Sessel zurück. »Nun ja …«, brummte er. »Das ist es nicht.«
Drückendes Schweigen legte sich über den Raum. Wynter hatte Angst, sich zu bewegen, um die Männer nicht daran zu erinnern, dass sie noch da war. Der Arm, den ihr Vater beschützend um sie geschlungen hatte, war herabgesunken, die andere Hand lag totenbleich in seinem Schoß. Alle Kraft schien ihn verlassen zu haben.
Jonathon saß still brütend am Kamin, als wäre er allein in seinem Gemach, er schenkte Wynter und ihrem Vater keinerlei Beachtung. Die Hände auf die Armlehnen des Sessels gelegt, starrte er entrückt in die Flammen. Als er endlich wieder das Wort ergriff, war er gefasst und nachdenklich. Bitterkeit und Verachtung waren aus seiner Stimme verschwunden. »Du hast deine Sache dort oben im Norden hervorragend gemacht, Lorcan. Ohne dich wäre ich verloren gewesen. All die Jahre hast du mir diese Bluthunde vom Hals gehalten.« Der König sah ihn von der Seite an, doch sein Freund hielt den Kopf gesenkt, daher drehte sich Jonathon ganz zu ihm um und stützte die Wange auf seine Faust. »Ohne deine Maschine hätte dieser verfluchte Aufstand viel mehr Menschenleben und Mittel gefordert, als wir uns leisten konnten. Du hast mein Königreich gerettet … wieder einmal. Du warst ein wahrer und treuer Untertan. Und ein Freund von unschätzbarem Wert.«
Immer noch hielt Lorcan den Kopf gesenkt. Wynter spürte ihn langsam und tief atmen, als schliefe er. Sie sah ihn an: Seine Augen spiegelten hell den Feuerschein wider, während er auf die Spitzen von Jonathons Stiefeln starrte.
»Es tut mir leid, dass ich dir misstraut habe«, fuhr der König fort. »Ich wünschte, ich hätte dich nach deiner Rückkehr nicht so bedrängt. Ich wünschte …«
»Nimm deine Wünsche und wirf sie ins Feuer«, knurrte Lorcan. »Ich möchte nicht hören, was du wünschst oder wofür du mir dankbar bist oder was du empfindest. Ich möchte nicht einmal dein Gesicht ansehen. Ich möchte nur, dass du mich in Ruhe lässt.«
Jonathon lächelte und schnaufte leise. »Tja, du konntest dir immer den Luxus einer edlen Gesinnung erlauben.« Er erhob sich aus dem Sessel und musste erst sein Gleichgewicht finden, bevor er sich aufrichten konnte. »Ich hingegen …« Er lachte bitter auf. »Ich muss meine Freunde töten und meine Grundsätze begraben und meine Söhne auf den Scheiterhaufen des Königreichs werfen.« Er schwankte kurz und wandte sich dann auf unsicheren Beinen der Tür zu. »Weil ich …« In einer raumgreifenden Geste breitete er beide Arme aus, während er Lorcans Kammer verließ. »Weil ich der gottverdammte König bin!«
Sie hörten ihn durch den Empfangsraum stolpern, dann wurde der Riegel zurückgeschoben, und er war fort, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Lorcan regte sich nicht, immer noch blickte er zu Boden. Wynter kniete sich neben ihn. Auch als er sagte »Geh und mach die Tür zu, Liebes«, sah er sie nicht an.
»Vater, ich …«
»Die Tür, bitte, Wynter.«
Sein Haar war nach vorn gefallen, und sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Da sie immer noch zögerte, ballten sich Lorcans Hände ganz langsam zu Fäusten.
Wynter seufzte und ging.
Es war dunkel geworden, und der Empfangsraum wurde lediglich von dem scharf umrissenen Rechteck aus Licht erhellt, das vom Gang hereinfiel. Auf dem Weg durch das Zimmer nahm Wynter aus dem Augenwinkel etwas Weißes wahr und blieb abrupt mit hämmerndem Herzen stehen. Die orangefarbene Katze saß dort im Schatten, die weiße Brust und die Spitzen ihrer Pfoten schimmerten im Dämmerlicht gespenstisch. Die Pfoten lagen fein säuberlich nebeneinander, die Schwanzspitze wedelte unablässig hin und her. Das Tier sagte nichts, neigte nur den Kopf zur Seite und weitete erwartungsvoll die Augen.
Was ist jetzt?, bedeutete dieser Blick. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.
Wynter atmete tief durch, um sich wieder zu fangen, und hielt sich einen Zeigefinger an die Lippen. Schsch, bedeutete das. Bleib, wo du bist. Rasch schloss und verriegelte sie die Tür, dann kehrte sie zu ihrem Vater zurück, wobei sie der Katze immer wieder Blicke zuwarf. In der Tür zum Gemeinschaftsraum blieb sie kurz stehen und sah sie ein letztes Mal warnend an: Warte dort!
Die Katze verdrehte die Augen und rümpfte nörgelig die Nase. Wynter verstand es als Einwilligung.
Ihr Vater hatte sich nicht bewegt; immer noch starrte er grimmig ins Nichts, die Kiefer fest aufeinandergebissen, die Hände im Schoß zu Fäusten geballt. Wynter sehnte sich danach, ihm die verfilzten Haare auszubürsten und einen ordentlichen Zopf zu flechten. Doch sie ging lediglich zu ihm und kniete sich hin. Ihr war nur zu bewusst, dass die Katze im Nebenraum saß – horchend, ungeduldig wartend.
»Vater«, sagte sie leise. »Geht es dir gut?«
Lorcan starrte einfach weiter auf den Boden. Sie nahm seine Hand. Sie war sehr kalt, und Wynter rieb mit dem Daumen darüber. Er schien es nicht zu bemerken.
Diese ganze Sache war Wynter ein Rätsel. Ihrer Ansicht nach war diese Maschine – was auch immer das sein mochte – ein Gottesgeschenk für das Königreich. Alles, was eine Auseinandersetzung rascher beenden konnte, musste doch ein Segen sein? Schlachten wurden auf Kosten der Leben Hunderter, manchmal Tausender Männer geschlagen. Sie wurden von Kanonenkugeln erschlagen, von Pfeilen durchbohrt, von Schwertern und Hellebarden zerfetzt. Sie wurden von Piken und Lanzen aufgespießt, geschlagen und verstümmelt und schreiend liegen gelassen, um von den Hufen der Pferde zertrampelt zu werden. Wenn ihr Vater etwas geschaffen hatte, eine Waffe, die all das zu einem schnellen Abschluss bringen konnte – umso besser! Lass Jonathon sie zu Hunderten bauen und die Grenzen des Königreichs damit säumen! Ginge es nach Wynter – genau das täte sie.
Doch ein Blick in das Gesicht ihres Vaters zeigte ihr, dass er von dieser Vorstellung gebrochen, ausgehöhlt war. Das verstörte sie. Zwar war er nie ein Freund des Kriegs gewesen, doch er hatte auch nie vor der brutalen Notwendigkeit körperlicher Auseinandersetzungen zurückgescheut. In seinen jungen Jahren war er selbst in den Krieg gezogen und für seine wilde Unerschrockenheit im Kampf berühmt gewesen. Damals, in den Anfangstagen des Aufstands – bevor er in den Norden entsandt wurde -, hatte Lorcan gemeinsam mit Jonathon über die Landkarten gebeugt gestanden und Schlachtpläne geschmiedet, die gewiss Hunderte Männer in den Tod schicken würden. Warum also bekümmerte ihn die Aussicht, seine Maschine könnte zur Verteidigung des von ihm so geliebten Königreichs eingesetzt werden?
Was Jonathon betraf – ihn verstand Wynter besser. Er befürchtete, die Maschine könnte gegen ihn gerichtet werden – vielleicht hatte er sie für sich allein haben wollen und deshalb alles Wissen über sie zurückzuhalten versucht. Doch warum hatte er dann überhaupt je eingewilligt, sie zu zerstören? Ein so mächtiges Instrument! Nichts von alldem wollte ihr einleuchten … Und nun war sie erst recht entschlossen, Alberon zu suchen, um Antworten auf diese Fragen zu erhalten.
Lorcan zischte, und Wynter riss sich erschrocken aus ihren Gedanken. Er verzog das Gesicht und entwand sich sanft ihrem Griff. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seine Finger in ihrem inneren Aufruhr geknetet hatte wie Kuchenteig.
»Oh, Vater, entschuldige!«
Er war immer noch verstört und aufgewühlt. »Morgen früh wird er das bereuen«, murmelte er. »Wenn der Wein seine Wirkung verloren hat.«
»Aber jetzt kann er es nicht mehr zurücknehmen! Sie gehört dir!«
Ratlos blickte Lorcan sie an, dann begriff er, dass sie von der Konzession sprach. »Nein, mein Schatz. Er wird bereuen, vor dir so gesprochen zu haben. Es wird an ihm nagen … er wird sich nicht sicher fühlen. Zu wissen, dass er sich vor dir so offenbart hat.« Er sah durch sie hindurch. »Du musst fort – mehr denn je. Sobald Razi aufgebrochen ist, musst du ihm folgen. Du darfst keine Zeit vergeuden, sonst verlierst du ihn noch …« Jetzt blickte er ihr fest in die Augen und schüttelte sie leicht, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. »Du … darfst … nicht … zögern
»Aber was wird aus dir, Vater?«
»Aus mir? Aus mir wird nichts mehr, ich bin am Ende. Aber ich werde nicht zulassen, dass du in den Flammen verbrennst, die ich selbst schürte. Geh! Folge Razi nach Padua! Unterstell dich seinem Schutz, denn er wird dich niemals hierher zurückschicken, das verspreche ich dir. Du sollst ein gutes Leben haben, mein kleines Mädchen …« Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte schief. »Und das wirst du gewiss – hat nicht der König persönlich dir soeben die beste Handwerkskonzession ausgehändigt, die je in der Geschichte dieses Königreichs einem Mann oder einer Frau gewährt wurde?« Erneut strich er ihr über das Haar und neigte liebevoll den Kopf. »Bei deiner Begabung, meine Kleine, kannst du gar nicht scheitern.«
»Oh, Vater, bitte.« Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen – konnte nicht die unerschütterliche Hoffnung darin lesen und gleichzeitig wissen, dass sie ihn hintergehen würde. Sie wandte den Kopf ab und erstarrte, als sie die Katze auf der Fensterbank fand. Das Tier fletschte ungeduldig die Zähne und funkelte sie an. Wynter riss sich von dem Anblick los. Herr im Himmel.
»Wynter?« Lorcan klopfte ihr auf die Hand. »Liebling?«
Nun sah sie ihn an und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er nahm ihr Kinn in seine große Hand und wischte sie mit dem Daumen ab. »Mein Schätzchen«, flüsterte er. »Könnten wir … könnten wir uns nicht etwas vormachen?«
Noch mehr Tränen flossen, Wynter senkte den Kopf. Sie gehörten nicht zu den Menschen, die sich oder anderen etwas vormachten, die Moorehawkes, ganz und gar nicht. Als sie ihm das Gesicht wieder zuwandte, nahm sie seine Hand. »Ja, Vater. Was wollen wir uns vormachen?«
Er drückte ihre Finger. »Lass uns so tun, als ob das morgen nicht unser Abschied wäre.« Sie schluchzte vernehmlich auf. Lorcan sah sie liebevoll an. »Tun wir so, als gingest du nur nach Helmsford, um eine Fuhre Holz zu begutachten. Als wärest du in einer Woche wieder zurück. Als sähen wir einander in einer Woche schon wieder. Wynter, könnten wir das tun?«
Gleich, wie heftig sie die Kiefer auch zusammenpresste, ihr Kinn wollte einfach nicht aufhören zu beben, die Tränen rannen ihr jetzt hemmungslos über die Wangen und tropften auf ihren Hals. Lorcan machte ein ersticktes Geräusch und legte ihr die Hände um das Gesicht. Er schob ihr das Haar aus der Stirn, trocknete ihr erneut die Wangen und verzog entschlossen den Mund. »Lass uns so tun, als ob, meine Kleine«, brummte er. »Bitte …«
»Ja, Vater!« Sie nahm seine Hände von ihrem Gesicht und hielt sie ganz fest in ihren, da er immer aufgewühlter über ihre Wangen strich. »Ja. Helmsford. Holz. Eine Woche. So ist es.«
Kurz wurden seine Augen riesig, und in dieser Sekunde glaubte sie, er wäre selbst nicht in der Lage, zu tun, was er von ihr verlangte. Doch dann presste er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, biss die Zähne aufeinander, dass die Kiefer hervortraten, und nickte gefasst.
»Ich muss jetzt zu Bett gehen, meine Kleine«, sagte er. »Ich werde Marcello ausrichten lassen, dass er morgen sehr früh kommt, damit ich mit dir frühstücken kann, bevor …«
Sie senkte zustimmend den Kopf. »Du musst dich ausruhen. Und ich muss mit Marni sprechen.« Er zuckte besorgt, doch Wynter tätschelte ihm die Hand. »Ich passe schon auf.« Sie warf der Katze einen vielsagenden Blick zu, woraufhin diese hochmütig davonstolzierte – zweifelsohne über das Sims zurück in den Empfangsraum. »Ich verspreche dir, dass ich nicht mehr heimlich herumschleichen werde. Mir passiert schon nichts.«
Lorcan nickte, und sein bedingungsloses Vertrauen brach ihr fast das Herz.
Sie schniefte laut, schüttelte sich und drängte ihre Empfindungen sorgsam in die Tiefen ihrer Magengrube zurück. Dann schob sie Lorcan ihre Schulter unter die Achsel und half ihm auf die Füße. Mit ihrer Unterstützung schaffte er – wenn auch langsam und schmerzgeplagt – den Weg zum Bett. Schwer wie ein Felsbrocken ließ er sich auf sein Kissen sinken, hielt noch kurz ihre Hand, ohne sie anzusehen, und schob sie dann sanft von sich fort.
Wynter ging hinaus und schloss die Tür. Als sie einen letzten Blick auf ihn warf, sah sie ihn ins Feuer starren, die Hände auf der Brust geballt, das Gesicht gequält. Er würde noch lange nicht schlafen.
Sie hielt sich nur noch einen Moment auf, um sich ihren Dolch umzuschnallen und Kerze und Zunderbüchse in den Gürtelbeutel zu stecken. Im letzten Augenblick schob sie Christophers Karte neben Razis tröstlich knisternden Brief an ihrem Herzen und zog Christophers Jacke über ihr Hemd, bevor sie endlich wieder zurück zu der Katze ging.
Die schäumte inzwischen vor Zorn. »Du hast dir ja hübsch Zeit gelassen, was?«, zischte sie. »Ich muss beträchtlich gealtert sein während deiner schier endlosen Unterredung mit diesem Mann.«
Wynter atmete tief durch und ballte die Hände. »Dann sollten wir uns beeilen«, stieß sie zähneknirschend hervor. »Ehe dein Gehirn vollends vergreist ist.«
Die Katze fauchte unterdrückt, und Wynter deutete auf die Tür. »Du wirst einen anderen Zugang zu dem Geheimgang für mich finden müssen. Ich kann nicht riskieren, dass mein Vater mich hört und ahnt, was ich vorhabe.«
Die Katze führte sie hinaus, und schon bald darauf schlüpfte sie geschmeidig hinter einen Wandteppich. Wynter folgte ihr. Ein rasches Abtasten der dahinterliegenden Holztafel brachte den allgegenwärtigen Cherub zum Vorschein, den sie halb herumdrehte. Sogleich glitt eine kleine Geheimtür auf, und Wynter und die Katze traten in die staubige Schwärze der verborgenen Stollen.
Beinahe unmittelbar spürte Wynter, wie die Katze über ihre Beine und den Oberkörper hinaufkletterte und sich auf ihrer Schulter zusammenkauerte. Zischend begann sie, Anweisungen zu erteilen, und Wynters Herz pochte schmerzlich in ihrer Kehle, als sie die gewundene Reise durch die Finsternis antraten.
Moorehawke 01 - Schattenpfade
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