Volkes Stimme
Ich glaube, ich kann das nicht,
Vater.«
»Warum denn nicht? Du bist doch daran gewöhnt, mit
anderen zusammenzuarbeiten. Du führst häufig für mich die
Verhandlungen.«
»Aber bisher warst du immer dabei! Ich
glaube nicht, dass ich ihnen allein gegenübertreten kann.«
Lorcan neigte den Kopf auf dem Kissen zur Seite und
betrachtete seine Tochter mit Mitgefühl und Ungeduld. »Wynter!
Eines Tages musst du es tun! Oder hast du vor, dem Handwerk den
Rücken zu kehren, wenn ich einmal nicht mehr bin?«
Ihre Miene verfinsterte sich. »Hör damit
auf!«
»Im Ernst!« Halb im Scherz breitete er die Hände
aus, doch sie merkte an seiner gepressten Stimme, dass er sich
allmählich aufregte. »Was willst du machen, wenn ich tot bin – dein
Zunftabzeichen an den Nagel hängen und dich zur Küchensklavin und
zum Zuchtweib irgendeines dahergelaufenen Kerls machen?«
Wynters Wangen färbten sich flammend rot. »Vater!«,
stieß sie entsetzt hervor.
»Dieser lebenslustige Bengel da nebenan – der würde
dir den Bauch jedes Jahr einmal vollmachen, nur keine Sorge. Wäre
das nicht schön?«
»Vater!« Vor Scham und Wut stampfte sie mit dem Fuß
auf. »Das reicht jetzt!«
»Dann hör endlich auf, dich wie ein verdammtes
Mädchen zu benehmen!«, brüllte Lorcan plötzlich ernstlich erzürnt.
»Willst du mich etwa umbringen vor Sorge? Wozu waren denn die
ganzen Jahre gut, wenn ich dir nicht beigebracht habe, ohne mich
zurechtzukommen? Herrgott nochmal, Wynter!« In seinem Blick lag
Angst. »Sag mir bitte, dass du das schaffst! Sag mir, dass du stark
genug bist! Sonst …« Er brach ab, die Hände ratlos in die Höhe
gereckt. »Was … was soll sonst aus dir werden?«
»Schon gut, schon gut.« Sie trat näher heran. »Der
Meister wird schon ein anständiger Mensch sein, hoffe ich. Aber wie
gehe ich mit seinen Lehrlingen um?«
»Der Meister wird dir keine Schwierigkeiten
bereiten.« Lorcans Ton war jetzt besänftigend. »Pascal Huette ist
ein guter Mann. Mein Vater und ich haben oft mit ihm
zusammengearbeitet. Er ist begabt und geschickt. Er hat gute
Manieren. Wenn du dich erst bewährt und deine Stellung deutlich
gemacht hast, dann wird er die Lehrlinge schon dazu bringen, sich
dir unterzuordnen, das verspreche ich dir.«
Wynter verschränkte die Hände und atmete tief
durch. »Verdammte Lehrlinge!«
Lorcans Mundwinkel zuckten, und seine Augen
funkelten spitzbübisch, als er erwiderte: »Ja, ja, Lehrlinge sind
ein ständiges Ärgernis.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ach, hör schon
auf.«
»Du schaffst das, mein Mädchen.« Er nickte ihr
ernst zu. »Du bist gut ausgebildet. Und es ist ja nur für einen
Tag. Morgen bin ich wieder dabei.«
Wynter betrachtete seine weißen Lippen und das müde
Gesicht und senkte zögernd den Kopf. »Das weiß ich doch.«
»Dann fort mit dir.«
Noch einmal holte sie tief Luft, straffte die
Schultern und marschierte los.
Vor Razis Tür war etwas im Gange, als Wynter aus
ihrem Quartier trat. Sie gab vor, etwas in ihrem Gürtelbeutel zu
suchen, und beobachtete alles aus dem Augenwinkel.
Es war der Schneider, der einen säuberlichen Stapel
purpurner Mäntel lieferte. Razi nahm sie entgegen, als wäre es ein
Korb voller Nattern. Mit einer knappen Kopfbewegung entließ er den
Mann und sah ihm nach, die Miene streng, den Stapel Mäntel auf den
Armen. Der Dampf aus Christophers Bad waberte an ihm vorbei und
verlieh Razi das Aussehen eines hochgewachsenen Gottes, der durch
die Wolken herabsteigt.
Ein Page wartete und hüstelte höflich, bis Razi ihm
den finsteren Blick zuwandte. »Seine Majestät, der gütige König
Jonathon, wünscht Eure Hoheit daran zu erinnern, dass Eure
Anwesenheit in der zweiten Hälfte des achten Viertels im Ratssaal
erforderlich sein wird.«
»Richte Seiner Majestät aus, dass ich anderweitig
beschäftigt sein werde.«
Mit dieser Antwort hatte der Page offensichtlich
gerechnet und überreichte einen mit Jonathons Wappen versiegelten
Brief. Razis Kiefer zuckte. Sofort klemmte er sich die Umhänge
unter den Arm, brach das Wachssiegel und öffnete den Bogen mit
einer Hand. Rasch überflog er das Schreiben; sein Atem
beschleunigte sich, das Gesicht lief rot an.
Derweil hielt der Page den Blick starr auf die Wand
gerichtet. Razi knirschte mit den Zähnen und musste sich sichtlich
bemühen, seine Wut im Zaum zu halten. Schließlich gelang es ihm,
ein knappes »Ich werde da sein« hervorzustoßen.
Erleichtert verbeugte sich der Page und eilte
davon.
Wynter hörte auf, an ihrer Tasche herumzunesteln,
und schlenderte ein paar Schritte den Gang hinunter. »Eure Hoheit«,
begann sie förmlich, aber mit weichem Gesichtsausdruck.
Razis Blick schnellte hoch, und Wynter sah ihm an,
dass er sich nur mühsam beherrschen konnte.
»Wie geht es Euch?«, fragte sie leichthin, doch ihr
Blick sprach Bände.
Wortlos reichte er ihr den Brief. Er war sehr kurz.
Verfasst in Jonathons eleganter Handschrift, hieß es darin
lediglich: Der Oberste Inquisitor bittet, den hadrischen Freien
Christopher Garron für weitere Gespräche zur Verfügung zu
halten. Gezeichnet war das Schreiben »Jonathon Königssohn
III«.
Sorgfältig faltete Wynter den Bogen wieder zusammen
und sah zu ihrem Freund auf. Aus Razis Gemächern hörte man sanftes
Planschen. Der Haufen verdreckter Kleider, der vor der Tür zu ihren
Füßen lag, roch trotz des reinlichen Dampfs in der Luft immer noch
Übelkeit erregend.
Wynter musste heftig schlucken. Obwohl er sie
anblickte, nahm Razi sie gar nicht richtig wahr; es war, als hätte
er eine unsichtbare innere Landschaft vor Augen, bevölkert von
Raubtieren und überschattet von Schrecken, die nur er allein sehen
konnte. Unbewusst presste er die Purpurmäntel an die Brust,
zerknitterte die gewissenhaft gebügelten Brokatbesätze und samtenen
Kragen.
Wynter legte den Brief oben auf den Stapel. »Du
zerdrückst sie.« Sanft zog sie an seiner Hand, um seinen
verkrampften Griff um die teuren Stoffe zu lockern. Da endlich sah
Razi sie an, und trotz der Wachen hielt sie seine Hand fest und
schenkte ihm ein aufrichtiges, liebevolles Lächeln – eine
Seltenheit unter den wachsamen Augen des Hofes.
Seufzend atmete Razi aus und erwiderte ihr Lächeln.
Er
drückte ihre Finger, einen schmerzlichen Ausdruck auf dem Gesicht.
Dann öffnete er den Mund, stockte aber und starrte ihre Hand an.
Blickte über die Schulter zu den aufmerksamen Soldaten, dann
musterte er ihr Gesicht. Plötzlich entriss er Wynter die Hand, da
ihm klarwurde, wo sie sich befanden.
Der Brief fiel zu Boden; sie bückte sich und hob
ihn auf. Als sie ihn wieder ansah, hatte sich Razis Miene
vollständig verändert.
Die Augen waren zu Schlitzen verengt, seine
Gesichtszüge wirkten kalt, und er hielt sich sehr gerade, plötzlich
unnahbar. »Das muss ein Ende haben«, erklärte er streng.
Wynter wusste nicht recht, was er meinte. »Wir
sehen uns dann heute Abend«, versicherte sie ihm.
»Nein.« Er trat zurück und legte eine Hand auf die
Türklinke. »Ich werde zu tun haben.« Und damit schloss er die Tür
vor ihrer Nase, ohne sie noch einmal anzusehen.
Eine ganze Weile stand sie einfach nur da,
betrachtete das dunkle Holz und spürte Razis letzte Worte wie
kleine Eissamen in ihrer Brust. Aus den Gemächern drang kein Laut,
kein Gespräch. Wynter wusste, dass Christophers Badewanne
unmittelbar rechts von der Tür stand, sie hätte murmelnde Stimmen
hören müssen, doch da war gar nichts. Razi musste entweder reglos
und schweigend auf der anderen Seite der Tür stehen, oder er war
wortlos an seinem Freund vorbei in das andere Zimmer
gegangen.
Gott verdamme dich, Razi Königssohn, dachte
sie, selbst überrascht von der Bitterkeit in ihrem Herzen. Gott
verdamme dich und deine verwünschten Geheimnisse und deine
Zurückweisung der Menschen, die dich lieben. Aus einem
kindischen Impuls heraus trat sie gegen die Tür, dann legte sie
eine Hand auf das Holz. Komm zurück! Komm zurück und umarme
mich!
Aber das tat er natürlich nicht. Schließlich
klopfte sie noch einmal sacht gegen die Tür, wie sie gern auf Razis
Schulter geklopft hätte, und schlug den Weg zur Bibliothek
ein.
Mit wild pochendem Herzen und lächerlich roten,
glühenden Wangen stand Wynter vor der Tür. Die Werkzeugrolle wog
unerträglich schwer auf ihrer Schulter. Sie konnte das nicht! Es
ging einfach nicht!
Sie dachte an den Haufen schlaksiger Lehrlinge, der
unweigerlich jenseits dieser Tür warten würde, und ihr Magen schlug
Purzelbäume. Ganz gewiss würde sie schon beim Eintreten stolpern,
hinfallen und sich dann zur Krönung übergeben …
Wynter ohrfeigte sich selbst so fest, dass es ihr
die Tränen in die Augen trieb. Sie holte tief Luft und hielt sie
an, dann atmete sie ganz langsam aus, öffnete die Tür und trat ein.
Sie sah sich erst um, als sie die Tür vorsichtig hinter sich
zugezogen hatte. Doch mit dem Klicken des Schlosses fühlte sie sich
urplötzlich als Herrin der Lage: Ihre Wangen waren kühl, die Zunge
gelockert und sprechbereit, ihr Bauch friedlich. Sie hob die Augen
und musterte den kleinen Trupp junger Tischler vor sich mit einem
raschen, sachlichen Blick.
Es waren fünf. Zwei im ersten Lehrjahr, zwei im
dritten und einer im vierten wie sie selbst. Keiner von ihnen besaß
die Zunftzulassung für Grün – ja, alle außer dem jungen Mann im
vierten Lehrjahr trugen gar schlichte schwarze Schnürsenkel, und
keiner von ihnen durfte schon gegen Lohn arbeiten. Im Großen und
Ganzen waren es die üblichen ungeschlachten, durchtriebenen Kerle;
alle drehten sich gleichzeitig zu ihr um und begafften sie – erst
erstaunt, dann mit höhnischem
Grinsen. Die älteren Jungen beäugten sie mit unverhohlener
Lüsternheit.
»Was haben wir denn da?«, krähte ein schmaler Kerl
mit borstigem Haarschopf. Er starrte ihr in den Schritt und leckte
sich die Lippen. »Das soll wohl ein Witz sein, was?«
»Wer hat dir gesagt, dass du die Kleider da anhaben
darfst?«, fragte einer der Knirpse im ersten Jahr mit anklagendem
Blick im spitzen Gesichtchen.
Wynter schluckte. Sie wusste, dass der Meister der
Jungen ebenfalls hier war – irgendwo zwischen den Regalen verborgen
– und vorgab, ihre Ankunft nicht bemerkt zu haben. Gewiss
belauschte er, wie sie sich den Lehrlingen gegenüber behauptete; es
war ein Maßstab für ihren Wert. Jetzt ging es um alles oder nichts
– in diesem Augenblick würde sich entscheiden, wie sie mit seinem
Handwerkertrupp auskäme. Sie durfte keinen Fehler machen, denn eine
zweite Chance bekam sie nicht.
»Vielleicht ist die ja hier, um uns die Zeit zu
vertreiben«, lachte der Junge mit dem borstigen Schopf und ließ den
Blick ungeniert über ihre Brüste wandern. Seine Kameraden johlten
und stupsten sich gegenseitig in plumper Begeisterung an, obwohl
der Kleinste von ihnen kaum mehr als sieben oder acht Jahre zählen
konnte.
Wynter würdigte dieser rüpelhaften Eröffnungssalve
keiner Entgegnung; stattdessen musterte sie jeden Jungen träge und
kühl. Zwar hatte sie längst alles über sie in Erfahrung gebracht,
was sie wissen musste, doch nun wandte sie den alten Trick ihres
Vaters an: Sie nahm sich einen nach dem anderen vor, ließ sie
spüren, wie unbedeutend sie waren. Die Lehrlinge im ersten Jahr
überging sie, als wären sie vollkommen unter ihrer Würde, und
wandte ihre Aufmerksamkeit denen im dritten Lehrjahr zu.
Absichtlich begann sie bei dem, der sie zuerst
angesprochen hatte, dem Unflätigen mit dem borstigen Haar. Vom
Gesicht abwärts ließ sie den Blick zunächst zu dem Zunftzeichen auf
seinem Hemd wandern und von dort weiter zu den schwarzen
Schnürsenkeln in seinen Schuhen. Dort angekommen, gestattete sie
sich, leicht eine Augenbraue hochzuziehen, wie um zu sagen: Ach,
ist das etwa alles?
Genauso verfuhr sie mit seinem Kumpan, einem
knochigen Kerl mit Sommersprossen, auffallend blauen Augen und
schiefen Vorderzähnen. Unter ihrem prüfenden Blick legte er die
Stirn in Falten und schielte hilfesuchend zu dem Lehrling im
vierten Jahr. Wynter hatte längst erkannt, dass es der ältere Junge
war, mit dem sie sich auseinandersetzen musste, doch zuerst nahm
sie den Knochigen gründlich und in aller Seelenruhe in Augenschein,
bis hinunter zu seinen Schnürsenkeln. Mit einem Ts-ts
wandte sie sich von ihm ab. Erst jetzt war der wichtige älteste
Lehrling an der Reihe.
Er war etwa siebzehn Jahre alt, von mittlerer Größe
und hielt sich leicht nach vorn gebeugt. Sein Gesicht war rund und
gutmütig, das Haar seidig braun und seinem Stand geziemend zu einem
Zopf gebunden. Bisher hatte er sich aufmerksam im Hintergrund
gehalten, während seine Kameraden gafften und spotteten. Nun
betrachtete er sie mit zurückhaltendem Interesse. Sie musterte sein
Gesicht, das Zunftzeichen, die Stiefel. Beim Anblick der gelben
Schnürsenkel deutete sie mit leicht hochgezogenen Augenbrauen und
knappem Kopfnicken ihre Anerkennung an. Nicht übel, nur eine Stufe
unter dem Grün, das sie selbst trug. Sie wich seinem Blick nicht
aus und bemerkte, dass er flüchtig das um ihren Hals hängende
Medaillon ihrer Zunftzulassung prüfte. Seine Lippen zuckten, und er
begegnete ihrem Blick mit wachsamer Miene.
»Ich hege keinen Zweifel daran, dass dein Meister
dir ausgezeichnete Anweisungen gegeben hat und dass ihr alle in
seinem Namen gewissenhaft arbeitet.« Wynter sprach ihn und nur ihn
an. »Verzeih, dass ich euch unterbrochen habe. Bitte, fahrt fort.
Mein Meister ist sehr darauf bedacht, mit dieser Arbeit
voranzukommen.«
Das lud den Lehrlingen eine schwere Last auf die
Schultern. Hatte ihr Meister ihnen keine Anweisungen gegeben, hieße
das, er war faul und unfähig, und seine frühe Abwesenheit vom
Arbeitsplatz wäre ein schweres Pflichtversäumnis. Wynter wusste,
dass Lehrlinge ungebärdig und aufsässig gegenüber Gleichaltrigen
waren, ihrem Meister aber grenzenlos treu ergeben. Wenn sie mit
diesen Possen nicht aufhörten, würde das ein schlechtes Licht auf
den Mann werfen, dem sie Kost und Logis verdankten und von dem ihre
Zukunft abhing. Zudem würde es ihn vor dem Lehrling eines anderen
Meisters beschämen.
Der älteste Junge kaute einen Moment lang auf der
Lippe herum, zwischen seinen Augen hatte sich eine schmale Falte
gebildet. »Warum ist dein Meister dann nicht selbst hier?«, wollte
er wissen.
Sofort fiel der mit den borstigen Haaren ein: »Man
sagt, dass der Protektor Moorehawke gar nicht für dieses Mortuus
in vita, oder wie das heißen tut, ist! Und nämlich, dass er auf
keinem Bankett und nirgendwo war, seit sie diesen heidnischen
arabischen Bastard auf den Thron gesetzt haben! Deshalb ist er
nicht hier, stimmt doch, oder?«
Wynter wollte schon antworten, doch der andere
Lehrling im dritten Jahr ging dazwischen. Er drückte sich
überraschend gepflegt aus und musterte sie von Kopf bis Fuß, als er
berichtete: »Meine Mutter sagt, Fürst Razi habe den König verhext.
Dass er sich den Weg zum Thron erzaubert habe …«
»Auf jeden Fall hat Razis Mutter sich den Weg in
Jonathons Bett gehext, wie der König selbst noch ein ganz junger
Kerl gewesen ist!«, quäkte einer der beiden Jüngsten.
»Ist sie ja schnell genug wieder losgeworden«,
spöttelte der mit dem borstigen Schopf, »das schwarzäugige
Weibsstück! Hat nicht lang gedauert, bis der König wieder zu Sinnen
gekommen ist und sich eine brave Christenfrau genommen hat, ehe
wie’s zu spät war.«
»Aber nicht eher, wie die braune Hexe einen Bastard
rausgepresst hat! Und jetzt muss sie ihn nochmal verhext haben,
weil sonst hätte der König doch nicht seinen Goldjungen für diesen
schwarzen Teufel fortgejagt.«
»Verdammter brauner Heide!«
In Wynters Kopf drehte sich alles. Die Stimmen der
Lehrlinge verschmolzen zu einem einzigen hasserfüllten Schwall, und
sie spürte, wie ihr die Situation entglitt. Das war ja wie bei den
Nordländern! Brave Christenfrau? Heidnischer arabischer
Bastard? Wann waren Religion und Abstammung in diesem
Königreich je von Belang gewesen? Wann hatte man angefangen, über
Magie und Hexerei zu sprechen, als könnten sie den Lauf der Dinge
ändern?
Der älteste Lehrling ergriff das Wort, und Wynter
zwang sich, seiner argwöhnischen, nachdenklichen Stimme zu
lauschen: »Das heißt wohl, wir müssen Seine königliche Hoheit,
Prinz Alberon, durch diesen arabischen Bastard ersetzen, oder? Den
wahren Erben ausmerzen und den neuen Anwärter einschnitzen?«
Wynter blinzelte, das Herz raste ihr in der Brust,
ihre Augen fühlten sich heiß und trocken an. Mühsam bewegte sie die
Zunge im Mund hin und her. Als sie endlich etwas über die Lippen
bekam, war sie erschrocken, wie gleichmäßig ihre Stimme klang, wie
vernünftig ihre Worte. »Wichtige
Staatsgeschäfte halten meinen Meister fern«, sagte sie. »Deshalb
kann er heute nicht hier bei uns weilen.« Sie zog ein Schreiben aus
der Jacke und sorgte dafür, dass die Jungen Lorcans Wappen auf dem
Wachssiegel sehen konnten. »Hier ist eine Nachricht von ihm für
euren Meister.« Der älteste Lehrling ließ seinen sachlichen Blick
von Wynter zu dem Papier wandern. »Und was die Schnitzereien
betrifft – ihr werdet sehen, dass es nicht nötig sein wird, den
Prinzen durch seinen Bruder zu ersetzen. Fürst Razi ist ohnehin
bereits auf allen Tafeln zu sehen. Sogar auf mehr Abbildungen als
Prinz Alberon selbst, da Fürst Razi vor ihm geboren und daher
bereits länger hier ist.«
Alle runzelten die Stirn und blickten sich um. Mit
einem Mal begriff Wynter, dass keiner von ihnen überhaupt wusste,
wie Alberon oder Razi aussahen. Für sie waren ihre beiden Freunde
lediglich Namen: Der eine stand für einen braunen Bastard, der
andere für einen goldenen Knaben. Das war alles – nur zwei Namen,
Symbole. Und endlich begriff sie auch die wahre Tiefe dessen, was
Jonathon hier erreichen würde.
Indem er Alberon aus der Geschichte tilgte, indem
er jeden Hinweis auf ihn, jedes Bild, jede Schnitzerei zerstörte,
konnte Jonathon mit Alberons Andenken verfahren, wie es ihm
beliebte. Alberon konnte in alles verwandelt werden – in einen
stammelnden Schwachkopf, einen Wahnsinnigen, einen blutrünstigen
Rüpel, einen gefährlichen Tyrann. Jonathon konnte alles aus
Alberon machen, denn die meisten seiner Untertanen hatten ihn noch
nie mit eigenen Augen gesehen, hatten sein Gesicht oder sein wahres
Wesen nie gekannt. Armer Albi! Schon bald wäre er ein Nichts, oder
schlimmer noch: Er würde zu einem Ungeheuer verformt.
Jusef Marcos’ letzte Worte fielen ihr plötzlich
wieder ein: Seine Hoheit, der königliche Prinz Alberon! Es war
Prinz Alberon!
Er schickte die Nachricht, dass ich Euch töten soll! Damit
konnte sie sich nicht abfinden. Konnte ihrem Bild des ungestümen,
überschäumend herzlichen, stets lebhaften und sonnigen Alberon
nicht die Fratze eines bösen, hinterhältigen, ränkesüchtigen Mannes
überstülpen, der sich im Schatten verbarg und gedungene Mörder
aussandte, um seinen geliebten Bruder zu töten. Wynters Augen
füllten sich mit Tränen – sie musste sich auf die Zunge beißen. Sie
betrachtete das Grüppchen Jungen, das sich neugierig im Raum umsah
und zu entschlüsseln versuchte, wer in den zahlreichen
Schnitzereien denn nun wer war.
Sie atmete tief durch und sagte dann schroff: »Nun
denn – welche Aufgaben hat euer Meister euch zugeteilt?«
»Was kümmert’s dich, Weib?«, erwiderte der Vorlaute
mit dem borstigen Schopf unverschämt.
Da versetzte ihm der Älteste einen Klaps auf den
Hinterkopf. »Es reicht, Jerome. Nimm dir dein Werkzeug und fang mit
dem Fries hinten in der Ecke an, wie man es dir aufgetragen
hat.«
Einen Augenblick lang glotzte Jerome seinen
Kameraden mit offenem Mund an. Doch der Ältere wich seinem Blick
nicht aus, und schließlich errötete der Junge und schlurfte davon.
Auch der andere Lehrling im dritten Jahr schlich weg, und die
beiden Kleinsten hopsten von einem Fuß auf den anderen, als müssten
sie sich dringend erleichtern.
»Und was sollen wir machen, Gary?«,
quengelte einer von ihnen.
Gary verdrehte die Augen. »Könnt ihr denn nie
zuhören, ihr kleinen Nichtsnutze? Da rüber zu den niedrigen Regalen
mit euch. Rollt schon mal euer Werkzeug aus, ich komme
gleich.«
Gehorsam trollten sich die beiden Jungen, und
Wynter hörte,
wie sie sich schubsten und kicherten. Dann blickte Gary sie mit
ernster Miene an. Er sprach leise, und Wynter glaubte, Mitgefühl
herauszuhören. »Es tut mir weh, diese Arbeit zu tun«, bekannte er
aufrichtig. »Dein Meister hat hier solche Schönheit geschaffen.
Eine Sünde ist das, so etwas zu zerstören.«
Sie sah ihm in die sanften Augen und schwieg. Da
grinste er sie mit einem Mund voller fauliger Zähne an. »Das hast
du gut hingekriegt mit den Jungs«, lobte er, und sie erlaubte sich
einen Anflug von Lächeln in den Augen. »Und jetzt bringe ich dich
mal zu meinem Meister, einverstanden?«
Wynter nickte, und Gary führte sie zu Pascal
Huette, der zwischen den Bücherregalen verborgen gewartet hatte. Er
war ein kleiner Mann, drahtig und grau, mit kantigem Gesicht und
hellen Augen, die aus einem dichten Nest von Falten hervorblitzten.
Im Laufe des Tages sollte Wynter feststellen, dass seine Lehrlinge
ihn verehrten und dass Gary in Wahrheit sein Sohn war.
Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, die
Friese und Schnitzereien zu begutachten, wobei Wynter erklärte, was
getan werden sollte. Pascal Huette hatte anfangs angenommen, dass
Alberon und Oliver durch andere Motive ersetzt werden sollten –
einen Baum, ein Pferd, irgendetwas, um die Lücken zu füllen. Als
Wynter erklärte, dass laut Lorcans Anweisung die Figuren einfach
nur abgeschliffen und ein klaffendes Loch in den Bildern belassen
werden sollte – ein deutlich sichtbares, grelles Fehlen -, sah
Pascal sie nachdenklich an.
»Er möchte keine Ergänzungen?«
»Nein, Meister Huette.«
»Nichts, um die Lücken zu verschleiern?«
»Nein.«
Sie zog den Brief hervor und wartete geduldig, bis
er ihn langsam und mühevoll gelesen hatte.
Als er fertig war, faltete Pascal das Papier
zusammen und sah sich um. »Gott steh uns bei«, seufzte er. »Das ist
ein verfluchtes Verbrechen, an dem ich mich da beteilige. Aber es
wird erledigt, Mädchen, und zwar ordentlich. Euer Meister kann sich
auf uns verlassen.«
»Er ist fest entschlossen, morgen zu uns zu stoßen,
Meister Huette, und wir werden Seite an Seite mit Euch
arbeiten.«
Pascal senkte den Blick und biss sich auf die
Lippe, wie es auch sein Sohn tat, dann sah er sie wieder an.
»Lorcan steht nicht ehrlich hinter dieser Farce, oder, Mädchen? Er
kann doch unmöglich für richtig halten, dass der Araber den Thron
besteigt?«
Wynter blickte ihm nachdenklich in die freundlichen
Augen. Wem kann man trauen?, dachte sie. Wem außer sich
selbst? Pascal Huette mochte ja gütig sein, aber vielleicht
dennoch ein Narr. Was, wenn er zwar geschickt durch die Untiefen
des höfischen Lebens zu steuern verstand, doch kein Geheimnis
bewahren konnte? Es war klar, dass Lorcan diesen Mann schätzte,
dennoch hatte er ihm offenbar nicht genug vertraut, um ihm von
seiner Krankheit zu erzählen. Also fiel ihre Antwort ruhig und
schlicht aus: »Mein Vater wird seine Pflicht gegenüber dem König
erfüllen, Meister Huette.«
Pascal nickte, musterte sie eingehend und warf dann
einen Blick auf den flachen Fries, über den sich Gary soeben
beugte. Es war ein langes, fließendes, überschwängliches Bild von
Alberon, der seine Hunde auf einen Fuchs hetzte, und die
Schnitzerei war so voller Leben und Freude, wie es der Junge selbst
einst gewesen war. Vorsichtig hobelte Gary Alberons Gestalt von dem
Holz, seine Bewegungen waren langsam
und sorgfältig, um Lorcans wunderschöne Ausgestaltung der Hunde
und des sie umrandenden Laubwerks zu erhalten. Mit trauriger Miene
beobachtete Pascal Huette seinen Sohn eine Weile.
»Ja«, murmelte er, »da kann ich deinen Vater gut
verstehen.«
»Fürst Razi möchte das auch nicht, Meister Huette.
Er ist dem Prinzen treu ergeben.«
Pascals Gesicht zerknitterte zu einer wissenden
Grimasse, und er blickte Wynter nachsichtig an, als müsste er sie
in ihrer kindlichen Unschuld belehren. »Aber gewiss doch«,
schnaubte er. »Man musste ihn bestimmt auf den Thron prügeln.
Sicherlich hat er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, auf
diesen mächtigen Stuhl gezerrt zu werden.«
Unwissentlich hatte er den Nagel auf den Kopf
getroffen, und Wynter stand das schreckliche Festmahl wieder
lebhaft vor Augen – wie sich Razi den Soldaten widersetzt hatte, da
ihm der Plan seines Vaters eben erst enthüllt worden war. Wie sein
Gesicht ausgesehen hatte, als sie ihn auf den Thron seines Bruders
zwangen.
Sie biss die Zähne zusammen und musste sich die
Nägel in die Handflächen graben, um Pascal nicht die Wahrheit
entgegenzubrüllen. Ihr fiel ein, wie sie hilflos hatte zusehen
müssen, als Christopher blutverschmiert und schreiend ins Verlies
geschleppt worden war. Seither quälte Razi unablässig die Angst,
Christopher könnte zu Tode gefoltert werden.
»Ich kann Euch versichern«, flüsterte sie, »dass
Fürst Razi keinen Anteil am Erbe seines Bruders begehrt. Er ist ihm
treu ergeben.«
Huette legte gütig den Kopf schräg und tätschelte
ihre Schulter; sie zog sie weg und verfluchte innerlich die dummen
Tränen, die ihr schon wieder in die Augen stiegen. »Hat er
etwa nicht gestern den ganzen Abend auf dem Platz seines Bruders
gesessen, Mädchen? Lustig und vergnügt? Und hat die Portionen
seines Bruders verspeist? Als Nächstes wird er noch den Purpur
tragen und dem Rat beisitzen, als hätte er jedes Recht zu
herrschen.« Offenbar missdeutete Pascal ihre glänzenden Augen als
Furcht, woraufhin seine Miene noch freundlicher wurde. Tröstend
rieb er ihr den Arm. »Man kann ihm keinen Vorwurf daraus machen.
Das liegt denen im Blut, musst du wissen. Ein Heide wie er – die
sind einfach von Natur aus nicht so treu wie unsereiner, nicht
wahr? Das verstehen die einfach nicht.« Traurig schüttelte er den
Kopf und sah sich nach seinen Lehrlingen um. »Ich mag mir gar nicht
vorstellen, wie es hier sein wird, wenn der Bastard erst an der
Macht ist. Vielleicht machen die das im Norden ganz richtig.
Vielleicht sollten wir das ganze Gesindel einfach fortjagen. Ich
meine, wenn sie sich weigern, anständig die Messe zu feiern …« Tief
in Gedanken versunken brach er ab, während Wynter sprachlos vor
Angst und Entsetzen neben ihm stand.
Jeromes hohe Stimme an der Tür unterbrach sie.
»Hier gibt’s keine verdammten Damen, du Tölpel. Scher dich
fort!«
»Halt!«, rief Wynter. »Wartet!« Hastig rannte sie
zur Tür, wischte sich unterwegs die Augen und biss sich fest auf
die Unterlippe. Bei ihrer stürmischen Ankunft erstarrte Jerome, und
der kleine Page, den er zu verscheuchen suchte, erschreckte sich
fast zu Tode.
»Wen suchst du, Kind?«, fragte sie
beunruhigt.
»Euch, Hohe Protektorin.«
Bei der Nennung ihres Titels fielen Jerome beinahe
die Augen aus dem Kopf, und alle Lehrlinge schnellten hoch wie die
Karnickel, um sie neu zu betrachten.
»Gütiger!«, murmelte Gary. »Eine Dame, wer hätte
das gedacht!«
Der kleine Page streckte Wynter einen Brief
entgegen, das Wappen des Königs prangte deutlich auf dem Siegel. Er
war von den fünf Lehrlingen so eingeschüchtert, dass das Papier in
seinen Fingern zitterte. »Seine Majestät, der gütige König
Jonathon, wartet auf eine Antwort, Hohe Protektorin.«
Ohne zu zögern, riss sie den Brief auf; immer noch
schniefte sie und musste blinzeln, um die Schrift zu erkennen. Beim
Lesen der knappen Botschaft sank ihr der Mut:
Ihr werdet aufgefordert, anstelle Eures
Vaters am heutigen Festbankett teilzunehmen. Haltet Euch zum
zehnten Viertel bereit.
Wynter stöhnte auf und richtete die Augen zur
Decke.
»Seine Majestät braucht eine Antwort«, quiekte der
Junge.
Sie knirschte mit den Zähnen – sie wusste wohl, was
sie Seiner Majestät gern geantwortet hätte. Doch sie schluckte ihre
Wut herunter und atmete tief durch. Offenbar war dem Pagen die
dunkle Zorneswolke auf ihrer Miene nicht entgangen, denn er drehte
die Augen zur Wand und wartete mit betont ausdruckslosem
Gesicht.
»Richte Seiner Majestät aus, dass ich anwesend sein
werde«, zischte sie, worauf sich der kleine Junge verneigte und
rasch davonhuschte.
Noch einen Moment lang blieb Wynter dort stehen,
den Brief in der Hand, und starrte ins Leere. Als sie ihre Umgebung
endlich wieder wahrnahm, standen die anderen Lehrlinge mit
hängenden Armen und ernsten, beinahe ängstlichen Mienen um sie
herum.
Sehe ich so bestürzt aus?, dachte sie.
Obwohl er nicht ahnen konnte, was los war, schien
Gary etwas Tröstliches sagen zu wollen; doch jedes Mal, wenn er den
Mund aufmachte, überlegte er es sich anders und schwieg.
Wynter drehte sich um und ging zu Pascal Huette,
der noch an der gleichen Stelle auf sie wartete. Langsam steckte
sie ihr Werkzeug zurück in die Rolle und schulterte sie. Dann ließ
sie den Blick über all die Schnitzereien schweifen – die
glücklichen Gesichter, die fröhlichen kleinen Gedichte.
Pascal beobachtete sie mit freundlichen, klugen
Augen, und Wynter zwang sich zur Höflichkeit.
»Ich kann das heute nicht tun, Meister Huette.
Glaubt Ihr, Ihr könnt bis zu meiner Rückkehr morgen allein
weiterarbeiten?«
»Aber gewiss doch, Mädchen, keine Sorge.«
Sie sah ihn an, und er lächelte.
»Danke«, sagte sie tonlos und ging.