Unter Beobachtung
Wie geht es Lorcan?« Mit einem Seitenblick
behielt Razi Wynter im Auge, während er auf ihre Antwort wartete.
Das war eine dieser undurchsichtigen Fragen, die alles oder nichts
bedeuten konnten, je nachdem, was man darauf entgegnete. Der
weitere Verlauf eines solchen Gesprächs hing von demjenigen ab, der
antwortete. Geht es ihm gut? konnte heißen: Lebt er? Hat
er sich seinen Stolz bewahrt? Seinen Verstand? Seine
Gesundheit? All dem, was in dieser scheinbar harmlosen Frage
unausgesprochen blieb, konnte sie durch ein schlichtes Es geht
ihm gut ausweichen, und bei jedem anderen hätte sie genau das
getan.
Doch das hier war Razi, also sagte sie: »Vater geht
es gar nicht gut, Bruder. Ich fürchte um sein Leben.«
Mit plötzlicher Besorgnis wandte Razi ihr sein
schönes Gesicht zu. Inzwischen waren sie zu dritt über die
Hintertreppe auf dem Weg nach oben, da Christopher und Razi
beschlossen hatten, Wynter unbedingt ihre geliebten Pferde zeigen
zu müssen. Sie hatte ihre Zustimmung durch ein müdes Achselzucken
kundgetan – vielleicht wären die Männer bald so vertieft, dass sich
Wynter auf einem Heuhaufen zusammenrollen und die Augen ein wenig
schließen könnte. Christopher war vorausgegangen, um ihnen etwas
Raum zu lassen. Also doch nicht ohne jedes Feingefühl,
dachte sie, während
er fast unmerklich den Abstand zwischen sich und ihnen
vergrößerte.
»Würde dein Vater mir gestatten, ihn zu
untersuchen? Oder wäre es unklug, ihn darauf anzusprechen?«
»O Gott«, stöhnte sie, »fang bloß nicht davon an,
Razi, ich bitte dich. Er hat Todesangst davor, verletzlich zu
erscheinen.«
»Das kann ich ihm nicht im mindesten verdenken«,
murmelte er, und seine braunen Augen verfinsterten sich. »Wo ist er
gerade? Vielleicht kann ich heimlich einen Blick auf ihn werfen,
seine Körpersäfte aus der Ferne einschätzen.« Wynter seufzte und
rieb sich die brennenden Augen; fürsorglich nahm Razi sie am
Ellbogen und neigte sich ihr zu. »Wyn, du musst dich hinlegen, du
bist ja völlig erschöpft. Sollen wir dich nicht lieber in deine
Gemächer begleiten, damit du dich baden und ausruhen kannst? Ich
bin selbstsüchtig …«
Sie lachte kopfschüttelnd und hob eine Hand, um ihn
zum Schweigen zu bringen. »Razi, selbst wenn ich ein Gemach hätte,
in das ich mich zurückziehen könnte, würde ich es nicht ertragen,
so bald schon wieder von dir getrennt zu sein. Ich bette einfach
mein müdes Haupt auf einen Heuballen und lasse dich und diesen Kerl
da mit den Pferden spielen, einverstanden?«
Lächelnd nickte er.
»Mein Vater ist bei Heron«, fuhr sie fort. »Ich
nehme an, dass sie zum König gegangen sind.«
Razi stieß ein bitteres Lachen aus. »Dann hat ihn
der listige alte Vogel also zuerst gefunden, was? Das überrascht
mich keineswegs.«
Wynter blieb stehen, der Groll in Razis Stimme ließ
sie innerlich frösteln. Sie hielt ihn am Arm fest. Ein paar Stufen
über ihnen hielt auch Christopher an, drehte sich um und wartete,
geduldig an die Wand gelehnt.
»Razi, ist Her…« Als sie bemerkte, dass Christopher
nicht einmal vorgab, nicht zu horchen, senkte sie ihre Stimme zu
einem Flüstern. »Ist Heron nicht mehr unser Freund?«
Razi biss sich auf die Lippe, ob aus Ungeduld oder
Unsicherheit konnte Wynter nicht erkennen. Dann sah er sie
durchdringend an und sagte betont fest und deutlich, damit ihn auch
der blasse junge Kerl weiter oben auf der Treppe hören konnte:
»Kleine Schwester, es gibt nur zwei Menschen in diesem Palast, an
deren Freundschaft ich keine Zweifel hege, und beide stehen in
diesem Augenblick neben mir. Verstehst du?«
Daraufhin drehte sich Christopher um und erklomm
schweigend die letzten Stufen. Wynter sah ihm nach, bis er um die
Biegung außer Sicht war. Sein Gesichtsausdruck hatte sich bei Razis
Worten nicht im Geringsten verändert, und sie wusste nicht, ob er
sich überhaupt der Verantwortung bewusst war, die Razi ihm gerade
auferlegt hatte. Uns auferlegt hat, ermahnte sie sich.
»Das Leben am Hofe wird deinen Freund umbringen«,
sagte sie, sah Razi in die Augen und begriff sofort, dass er das
längst wusste. »Er ist nicht dafür geschaffen, Razi. Er ist zu
unverblümt. Es wird ihn zerstören.«
Unbehaglich trat Razi von einem Fuß auf den anderen
und senkte den Blick. »Ich habe nicht die Absicht, so lange
hierzubleiben, dass das passieren kann, Schwester. Ich ziehe
weiter.«
Beinahe gaben ihre Knie nach. Sie musste sich mit
aller Kraft davon abhalten, sich an ihn zu klammern und seinen
Namen zu schreien. Mühsam schluckte sie ihr Herz wieder in die
Brust hinunter, wo es wie ein Bleiklumpen lag, sie von innen
vergiftete. Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich werde so bald als möglich abreisen.« Mit
ernster Miene sah er sie an. »Ich will nach Padua, um an der
Universität zu unterrichten. Man hat mir dort eine Stellung
angeboten. Ich werde meine Forschung fortsetzen können – ist das
nicht wunderbar? Und, Wyn, ich würde dort sehr gern einen
richtigen, eigenen Haushalt gründen. Christopher soll meine Pferde
züchten, und ich werde ein Haus bauen müssen … da wollte ich dich
fragen …«
»Razi!« Christopher kam mit einem warnenden Zischen
die Stufen wieder herunter. Als sich die beiden zu ihm umdrehten,
hielt er ruckartig inne. Razi knurrte missgelaunt, Wynter wischte
sich Tränen aus den Augenwinkeln und biss die Zähne zusammen.
Christopher hob die Hände und trat ein, zwei Schritte zurück, seine
Miene entschuldigend, aber dennoch eindringlich. »Der Kämmerer
kommt, und bei ihm ist ein Mann – ein großer, rothaariger
Kerl.«
»Vater!« Sofort schob sich Wynter an Christopher
vorbei und rannte die Stufen hinauf. Sie beeilte sich, legte ihre
ganze Kraft in diese kurze Strecke, um alles loszuwerden, was sich
plötzlich in ihr aufgestaut hatte.
Gemessen bogen Heron und Lorcan um die Ecke und
blieben beim Anblick der über die Stufen verteilten jungen Leute
abrupt stehen. In allen drei Gesichtern musste die Anspannung
deutlich zu lesen sein, denn die beiden älteren Männer verharrten
und sagten verlegen und verblüfft wie aus einem Mund: »Ähm.«
Wynter hätte sich am liebsten ihrem Vater in die
Arme geworfen, sie wollte rufen: Razi geht fort! Er geht
fort! Doch stattdessen hielt sie einige Stufen unter ihm an,
wie es sich gehörte, und verneigte sich steif und mit trockenen
Augen. »Seid gegrüßt, guter Vater, Kämmerer Heron. Wie geht es dem
König, gütige Herren?«
Heron blickte an ihr vorbei und deutete mit dem
Kinn auf Razi. »Seine Majestät erbittet Eure Anwesenheit, Fürst
Razi. Er wünscht, sich mit Euch sowie dem Hohen Protektor
Moorehawke in seinen Gemächern zu besprechen.«
Gehorsam stapfte Razi los, doch Wynter platzte in
einem Anflug von Protest heraus: »Vater! Willst du nichts essen?
Hast du dich noch gar nicht ausgeruht?«
Ungeduldig winkte Lorcan ab, aber Razi hielt inne,
musterte sein Gesicht eingehend und wandte sich dann mit eiserner
Miene an Heron. »Ihr habt mich noch nicht finden können, Kämmerer.
Solange Ihr auf der Suche seid, wird der Hohe Protektor in die
Küche gehen und sich eine Mahlzeit servieren lassen.«
Einen Moment lang starrte Heron Razi nur an, und
Wynter sah im Gesicht des betagten Mannes eine Erkenntnis dämmern.
Dann drehte er sich langsam um und betrachtete Lorcan –
begutachtete, inspizierte ihn. Wynter schluckte.
Lorcan verengte die Augen und erwiderte den Blick
seines alten Freundes mit kalter Miene, dann richtete er
gebieterisch das Wort an Razi. »Ich bin Eurer Durchlaucht für Eure
Güte zutiefst zu Dank verpflichtet, aber ich muss noch nicht ruhen.
Bitte, wenn Ihr bereit seid, dann wollen wir Unsere Majestät nicht
länger warten lassen.« Er warf Wynter einen flüchtigen Blick zu.
»Ich komme zurück, wenn der König mich entlässt, Kind. Geh dich
baden und umziehen und ausruhen, heute Abend bei Sonnenuntergang
findet ein Bankett statt.«
Damit war er fort, seine Reitstiefel klapperten auf
den Steinstufen, der Zopf schwang schwer auf seinem Rücken hin und
her. Der Geruch nach Pferd und Lagerfeuer und der beschwerlichen
Reise hing noch lange, nachdem er um die Biegung verschwunden war,
in der Luft.
Ungeduldig zog Heron eine Augenbraue hoch und sah
Razi an, der wiederum Wynter einen hilflosen Blick zuwarf. Schon im
Gehen, nickte er Christopher bedeutungsvoll zu: Pass auf sie
auf. Christopher senkte zustimmend den Kopf, und Wynter kämpfte
gegen den inneren Drang an, ihn die Treppe hinunterzustoßen. Pass
auf sie auf – mit Verlaub! Pass auf Christopher auf, wäre
wohl passender. Er war doch derjenige, der Gefahr lief, auf dem Weg
zum Abtritt die Kehle aufgeschlitzt zu bekommen.
Heron verweilte noch einen Augenblick, schon halb
abgewandt. »Garron«, schnarrte er. »Die Hohe Protektorin Wynter und
der Hohe Protektor Moorehawke sind in den Gemächern neben denen
Eures Herrn untergebracht. Sorgt dafür, dass die Hohe Protektorin
alles zu ihrer Bequemlichkeit vorfindet.«
Zur Antwort reckte Christopher das Kinn, und Herons
Augen blitzten auf. Du hast dich zu verbeugen, du Tölpel,
dachte Wynter. Doch der Kämmerer verkniff sich eine Bemerkung; er
verzog nur höhnisch den Mund und folgte Razi und ihrem Vater die
Stufen hinauf. Bald war er nicht mehr zu sehen, und sie und
Christopher waren allein.
Wynter holte ihr Werkzeug aus Marnis Obhut und
marschierte ohne ein weiteres Wort zu den Ställen. Neben ihr
trottete Christopher, erstaunlich schweigsam. Sie hatte mit
lästigem Geplauder gerechnet, mit Versuchen, sie aus der Reserve zu
locken, mit Avancen. Doch er hielt einfach nur mit ihr Schritt, den
Blick der grauen Augen nach innen gewandt.
Als sie bei den Stallungen ankamen, verschwand er
kurz und kehrte dann mit zwei Pagen zurück, denen er so umsichtig
und freundlich Anweisungen erteilte, dass Wynters und Lorcans
Habseligkeiten bald zusammengetragen und in ihre neuen Gemächer
gebracht wurden. Endlich hatte sie wieder eine dauerhafte
Unterkunft! So dauerhaft zumindest, wie es das Leben am Hofe
gestattete.
Nun stand sie im vordersten Zimmer ihres neuen
Quartiers und sah sich bedrückt um. Die Gemächer waren
vortrefflich: Der große Vorraum zum Empfangen von Gästen besaß zwei
mit Läden versehene Fenster, die einen Blick auf den Orangenhain
gewährten. Die Wände waren hell gestrichen und mit fröhlichen
Wandteppichen geschmückt – eine Leihgabe aus der Sammlung des
Königs. Dahinter lag ein kleiner Gemeinschaftsraum, von dem
wiederum zwei luftige und geräumige Schlafkammern abgingen, beide
zu dieser Tageszeit von herrlichem Abendlicht erfüllt. Mit einer
gewissen Genugtuung stellte Wynter fest, dass der König die Räume
mit den alten Möbeln aus ihrer früheren Unterkunft ausgestattet
hatte: ihrem Bett aus Kiefernholz mit dem Insektennetz, den
hübschen Vorhängen, dem Waschtisch, der Truhe für das Bettzeug, die
ihr Vater geschnitzt hatte. Auch Lorcans Schlafmöbel waren hier,
und sogar die vier runden Sessel mit den Polstern, die ihre Mutter
während ihrer Zeit im Kindbett bestickt hatte. Alles so vertraut
und schön.
Aber warum hier?, dachte sie. Warum nicht in
ihrer geliebten alten Kate auf der Wiese unten am Forellenbach, im
Schatten der Walnussbäume? Wo sie in seliger Abgeschiedenheit von
den Verwicklungen des Palastlebens ihre Tage verbracht hatten, dem
Blick des Königs entzogen. Wo Wynter morgens nach dem Aufstehen im
Fluss Fische für das Frühstück geangelt hatte, noch barfuß und in
langen Unterhosen. Wo den ganzen Tag der würzige Duft von
Sägespänen und Harz aus der Werkstatt ihres Vaters in der Luft
gelegen
hatte. Stattdessen gab es jetzt nur noch höfisches Zeremoniell,
Politik und Etikette, jede Sekunde, jeden Tag. Offenbar wollte der
König sie in der Nähe haben, wollte sie unter Beobachtung
halten. Er traute ihnen nicht.
»Gefällt dir das Quartier nicht?«
Christophers ruhige Stimme riss sie aus ihren
Grübeleien. Schneller, als gut für sie war, drehte sie sich um und
taumelte, weil ihr schwindlig wurde; er lehnte im Türrahmen und war
so höflich, dem keine Beachtung zu schenken.
»Es ist sehr schön.« Sie fing sich wieder und
hoffte, aufrichtig zu klingen. »Wunderschön.«
Christopher wirkte wenig beeindruckt. »Soso.« Dann
blickte er ihr direkt in die Augen und ergänzte: »Razi meinte, du
würdest es furchtbar finden. Er sagte, es würde dir gewiss nicht
gefallen, so eingesperrt zu sein. Übrigens hat er alles versucht,
um eure alte Kate für euch zurückzubekommen. Die hübsche unten am
Fluss.«
Das war zu viel – Razis liebevolle und zartfühlende
Geste raubte ihr endgültig die Fassung. Plötzlich füllten sich
Wynters Augen mit Tränen. Mit einem hohen, krächzenden Schluchzen
legte sie die Hände vors Gesicht und weinte.
Gottlob kam Christopher nicht näher; so stand sie
einfach dort und ließ alles aus sich herausfließen, bis nichts mehr
in ihr war außer Müdigkeit und einem schrillen, grünen Schmerz
hinter der Stirn. Endlich richtete sie sich wieder auf, wischte mit
einer schnellen Bewegung die Wangen trocken, schniefte vernehmlich.
Der Türrahmen war leer, doch drau ßen in den Gängen waren Stimmen
zu hören – eine glatt polierte Höflingsstimme stritt mit
Christophers Nordlandakzent.
»… aber es ist meine Aufgabe«, beharrte der
Höfling. »Ich soll es bringen.«
»Du gibst mir das jetzt, du verfluchter Lakai,
sonst ziehe ich dir die Haut ab, so wahr ich hier stehe.«
Christophers Stimme war ein leises, wütendes Zischen.
»Ich soll aber doch …«
Ein lautes Klatschen und ein Aufjaulen, gefolgt von
Stille. Dann wieder Christophers Stimme, nun sehr ruhig: »Wirst du
mir das jetzt aushändigen, oder soll ich dafür sorgen, dass du
alles verschüttest und noch einmal laufen musst?«
Man hörte metallisches Klappern und unzufriedenes
Murren, dann entfernten sich Schritte. Vorsichtig trug Christopher
drei große Krüge heißes Wasser herein, wobei er Wynters Blick
geflissentlich auswich.
»Nun denn …« Er machte einen Bogen um sie herum und
schleppte die Krüge schwappend und spritzend in ihre Schlafkammer.
Zwei davon stellte er auf dem Waschtisch ab, den Inhalt des dritten
goss er in das metallene Becken. Dann zog er ein Stück Seife aus
der Tasche und legte es in die Seifenschale. Schließlich verschwand
er durch die Tür und kehrte kurze Zeit später mit einem Stapel
großer Baumwolltücher zurück, mit denen sich Wynter abtrocknen
konnte.
»Gut«, sagte er, immer noch, ohne sie anzusehen.
»Ich rufe dich dann rechtzeitig, damit du genug Zeit hast, dich
fürs Bankett anzukleiden. Es sei denn, dein Vater ist bis dahin
zurück.« Damit ging er hinaus und schloss leise die Tür.
Wynter war jetzt so müde, dass ihr ganzer Körper
surrte wie Grillen an einem heißen Sommertag. Mit den letzten
Sonnenstrahlen strömte der Duft der Orangenblüten herein, und sie
schloss einen Moment lang die Augen, um die Wärme und Einsamkeit zu
genießen.
Dann schlurfte sie in die Schlafkammer, verriegelte
die Tür, zog sich aus und warf ihre stinkenden Kleider auf den
Fußboden. Oben auf dem Stapel Handtücher lag ein Meeresschwamm
neben einer Nagelbürste und einem Kamm, alles graviert mit Razis
Siegel. Also musste sie nicht in ihrem Gepäck nach ihren eigenen
wühlen.
Langsam, mit schweren Armen und wie betäubt vor
Müdigkeit, wickelte sie die ledernen Bänder aus dem Haar und ließ
die dicken, rotbraunen Wellen auf die Schultern hinabfallen. Sie
waren starr vor Schmutz und fettig, doch wenigstens war sie von
Läusen verschont geblieben. Beinahe das gesamte Wasser des ersten
Krugs verwendete sie darauf, ihr Haar zu rubbeln und auszuspülen,
bis es quietschte. Als sie endlich zufrieden war, tauchte sie den
Kopf abermals in das Becken und kämmte ihr Haar in dem sauberen
Wasser aus. So war es immer einfacher, die Nester zu entwirren. Am
Ende schlang sie sich ein Handtuch um den Kopf und warf das
eingewickelte Haar nach hinten, wo es wie eine lange, dicke Wurst
auf dem Rücken zu liegen kam.
Das schmutzige Wasser schüttete sie aus dem Fenster
und goss das Becken aus dem zweiten Krug wieder voll. Der Duft von
Rosen und Orangen zusammen mit dem Zitronengeruch der Seife
streichelte ihre Sinne, und eine träumerische Stimmung legte sich
über den Raum, während sie sich nach und nach drei Monate Dreck vom
Körper schrubbte.
Ein sauberes Hemd hatte sie noch übrig, unbenutzt
seit ihrer Abreise aus Shirkens Schloss. Es war klamm und roch
modrig, wie alles oben im Norden nach einer Weile. Doch den Geruch
von Zitronen aus ihrem noch feuchten Haar, das sie nun aus dem
Handtuch wickelte, zu einem langen Zopf flocht und unter die
Nachthaube steckte, konnte es nicht übertünchen.
Ich lege mich nur eine Minute hin, dachte
sie, als sie unter das Insektennetz kroch und sich auf das kühle,
nach Lavendel duftende Laken sinken ließ. Ich schlafe erst, wenn
Vater sicher
hier angekommen ist … Doch sie war schon eingeschlummert,
bevor der Gedanke überhaupt richtig in ihrem Bewusstsein
ankam.
Sie stand auf einem weiten Feld, das sich bis zum
leuchtend blauen Horizont erstreckte. Es war voller roter
Mohnblumen, und als sie hindurchlief, färbten sich ihre Füße und
der Saum ihres Hemdes rot. Da hörte sie einen klagenden Schrei, als
wäre ein Seevogel in einem Netz gefangen. Sie blickte sich um,
wollte sehen, woher das Geräusch kam, denn es tat ihr weh. Die
Farbe der Mohnblumen begann, auf ihren Füßen zu brennen, und als
sie den Blick senkte, entdeckte sie, dass die Blumen gar nicht rot
waren, sondern weiß – weiße Mohnblumen, mit Blut befleckt.
Das Klagen war nun ganz nah; sie rannte auf eine
niedrige Anhöhe und sah in ein kleines Tal hinab. Wölfe hatten sich
um ein totes Tier versammelt, sie kauten und knurrten und rissen an
dem Kadaver. Da waren so viele Wölfe, dass sie die Beute nicht
erkennen konnte, doch allmählich begriff sie, woher das hohe
Jammern kam – das arme Geschöpf lebte noch.
Sie hob einen Bogen auf, der zu ihren Füßen lag,
und zielte, in der Hoffnung, das Tier aus seinem Elend zu erlösen.
Niemals kann ich diesen Bogen spannen. Er ist zu groß für
mich. Und doch spannte sie ihn, zog die Sehne geschmeidig
zurück, bis sie ihre Wange streifte.
Geduldig wartete sie darauf, einen Blick auf die
gepeinigte Kreatur zu erhaschen, die immer noch dieses grausige,
hohe Heulen ausstieß, während das Blut hochspritzte und alle
Mohnblumen rot färbte. Als sich die Wölfe um ein kleines Fetzchen
Fleisch zankten, lichtete sich das Knäuel für einen
kurzen Augenblick. Sie sah ein himmelblaues Gewand aufblitzen und
einen Arm nach oben schnellen – ob in einem Fluchtversuch oder als
Abwehr gegen das Wüten der Wölfe, konnte sie nicht erkennen.
Sieh mal an, dachte sie eigenartig
unberührt, es ist Razi.
Sie straffte die Bogensehne noch fester, atmete aus
und schoss den Pfeil mit einem hohen Summton ab. Er hatte einen
weiten Weg, dieser Pfeil, und sie konnte jeden Zoll seiner Flugbahn
verfolgen. Sie bewunderte, wie er sich auf seiner Reise durch die
Luft drehte und sanft von einer Seite zur anderen pendelte.
Als er endlich sein Ziel erreichte, waren alle
Wölfe fort, und da war nur noch Razi, allein und blutverschmiert,
er lag zwischen den triefenden Mohnblumen. Mit einem lauten Knall
schlug der Pfeil ein, als wäre Razis Herz aus Holz, und sein Körper
krümmte sich unter der Wucht.
Das Geräusch hallte durch das kleine Tal, klang in
rascher, pochender Folge nach. Razi schlug die Augen auf, und sie
waren grau und schräg gestellt, und es war gar nicht Razi, sondern
Christopher Garron. Er hob den Kopf – das Haar ganz blutig – und
sah sie voll Schmerz und Verwirrung an.
»Wynter«, sagte er, und immer noch setzte sich das
Echo des Aufpralls im Tal fort.
Entsetzt ließ sie den Bogen fallen, als sie seinen
blutigen Mund, die anklagenden Augen erblickte.
»Wynter«, sagte er erneut. Seine Stimme verblasste,
entfernte sich immer weiter, während sich sein Blut über die Blumen
ergoss.
»Wynter.«
»Wynter!«
Mit einem Keuchen schreckte sie auf.
Die Schatten waren länger geworden, doch es war
immer noch hell draußen. Sie konnte nicht länger als zwei Stunden
geschlafen haben. Christopher rief ihren Namen und klopfte leise,
aber nachdrücklich an die Schlafkammertür. »Wynter, Razi und dein
Vater kommen. Ich glaube, deinem Vater geht es nicht gut.«