Des Protektors Männer
Gott steh mir bei … Ich hasse das.« In Lorcans Stimme schwang eine ungewohnte Bitterkeit mit, und Wynter vermutete, dass er seine Schwäche meinte. Sie sagte nichts, klopfte ihm nur sacht auf den Arm und behielt weiterhin den von Fackeln erleuchteten Durchgang im Auge, um ihn rechtzeitig warnen zu können, wenn jemand auftauchte.
Sie hatten in etwa den Weg gewählt, den Jonathon ihnen gezeigt hatte, als er Lorcan in seine Gemächer zurückgebracht hatte. Bislang waren sie beinahe unbemerkt geblieben. Doch das war der letzte Abschnitt, auf dem sie sich der öffentlichen Beobachtung entziehen konnten. Lorcan hatte gerastet, um Atem zu schöpfen und sich zu sammeln, bevor er wieder die Maske des Hohen Protektors aufsetzte. Er schwitzte und zitterte, und Wynter war mehr und mehr davon überzeugt, dass es ein Fehler gewesen war, ihm von den Lehrlingen zu berichten.
Christopher hatten sie auf dem Bett zurückgelassen, den Kopf an Lorcans Kissen gelehnt. Mit missbilligend zusammengekniffenen Augen hatte er zugesehen, wie sich der schwere Mann vorzeigbar machte. »Ihr seid ein verdammter Narr. Razi wird Euch umbringen«, hatte er immer wieder orakelt. Nun fragte sich Wynter, ob Razi überhaupt noch Gelegenheit dazu bekäme. Sie widerstand dem Drang, ihren Vater noch einmal zu bitten, zurück in ihr Quartier zu gehen. Beim letzten Mal hatte er etwas gereizt reagiert.
»Ich hasse diese andauernde Angst. Ich wünschte, ich könnte mich nur einen Augenblick ruhig hinsetzen und nachdenken«, fuhr er jetzt fort. Er hatte also doch nicht seine Krankheit gemeint.
Auf seine versonnene Art betrachtete er wieder die Decke über sich, seine Augen tasteten den Stein ab, als entzifferte er Sanskrit. »Ich hasse es, unentwegt den Handlungen anderer begegnen zu müssen«, sagte er nun. »Es kommt mir vor, als hätte ich die vergangenen fünf Jahre nichts anderes getan: Immer nur begegnete ich den Handlungen anderer. Keine Zeit, selbst etwas zu planen, keine Zeit, eine Gegenwehr zu errichten, bevor die Welt aus den Fugen gerät und wir wieder heimatlos sind. Ach, Wynter!« Unversehens stöhnte er auf, legte sich die Hand aufs Gesicht, und zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Wynter Mutlosigkeit in der Stimme ihres Vaters. »Ich bin zu müde für so etwas. Ich bin einfach …« Er holte tief Luft.
Sie musste sich auf die Lippe beißen. Doch als sie ihm tröstlich die Hand auf die Brust legte und den Mund öffnete, um zu sagen: Ist schon gut. Lass uns zurückgehen, stieß sich Lorcan entschlossen von der Wand ab und spähte zu der kurzen Treppe am Ende des Gangs. »Die Stufen hinauf, dann durch den Rosengarten, noch einmal Stufen, und wir sind in der Bibliothek«, zählte er auf, als träfe er eine Abmachung mit sich selbst. »Also dann.« Er stieß die Luft aus, warf sich nach vorn und schlang den Arm um Wynters Schulter.
»Oben auf dem Treppenabsatz bist du für jedermann zu sehen«, ächzte sie. »Dann musst du allein laufen.«
»Bring mich einfach nur da rauf, Mädchen!« Sein wütendes Knurren ließ sie verstummen. Vorsichtig, Schritt für Schritt, erklommen sie die Stufen. Oben angekommen, verschnaufte Lorcan erneut. Dann drückte er den Rücken durch, holte tief Luft und trat in die Sonne hinaus.
Der Rosengarten war leer, als sie die Tür hinter sich schlossen; trotzdem hielt Lorcan seine vorgeschützt kraftvolle Haltung aufrecht. Er lief langsam, kerzengerade und mit gestrafften Schultern. Das einzige Zugeständnis an seine elende körperliche Verfassung war der schmerzhaft feste Griff um die Schulter seiner Tochter.
Sie sah zu ihm auf. Wem wollen wir etwas vormachen?, dachte sie. Seht ihn euch doch an!
Die Granitstufen im anderen Flügel gaben ihm beinahe den Rest. Zwar waren es nur sechs, doch Lorcan blieb davor stehen und betrachtete sie zitternd. Dann grub er die Fingernägel in Wynters Schulter, beugte sich vor und nahm jede in Angriff wie einen Berggipfel.
Als er es endlich geschafft hatte, sackte er in sich zusammen. Sofort legte sie ihm den Arm um die Hüfte, doch er zischte »Lass das!« und richtete sich wieder auf.
In diesem Moment hörten sie den Tumult.
»Verdammt«, stellte Lorcan tonlos fest und ging weiter.
In dem kühlen, gefliesten Gang waren die Geräusche sehr deutlich zu vernehmen. Die Bibliothekstür am Ende stand offen, und der Lärm kam von dort: kleine Kinder heulten. Ein alter Mann rief etwas, andere brüllten. Darüber lag das Kreischen dreier junger Männer, erfüllt von Furcht und Zorn.
»Oh, du guter Gott«, stöhnte Lorcan und beeilte sich, so gut er konnte.
Wir sind zu spät, dachte sie bedauernd.
Doch drei Dinge gaben ihr Hoffnung, als sie um die Ecke bogen und die Bibliothek betraten: Da war kein Blut. Es waren nur drei Soldaten. Und diese drei waren zwei ganz normale Wachposten aus dem Palast und einer vom Burgtor. Keine Spur von Jonathons Leibwache. Wäre einer dieser hünenhaften, unerbittlichen Männer anwesend gewesen, hätte es für die Lehrlinge gewiss das Ende bedeutet. So allerdings war noch nicht alles verloren – wenn sie nur rasch handelten.
Die Soldaten waren in ein Handgemenge mit Pascals Trupp verwickelt und versuchten, Jerome und Gary aus dem Schutz der Gruppe zu zerren. Jerome wurde von den beiden Männern zu beiden Seiten festgehalten; er wehrte sich heftig, trat und spuckte. Der dritte Soldat mühte sich ab, Gary aus dem Klammergriff der anderen Jungen zu lösen. Alle schrien und brüllten, und die kleineren Jungen weinten kläglich. Pascal kam mit großen Schritten aus dem hinteren Teil der Bibliothek heran, einen schweren Holzhammer in den Händen, bereit, ihn dem Mann auf den Kopf zu dreschen, der seinen Sohn bedrohte.
In wenigen Augenblicken gäbe es kein Zurück mehr.
Unbemerkt von allen stellte sich Lorcan in den Türrahmen. Er richtete sich zu voller Größe auf, ließ Wynters Schulter los und donnerte: »Was macht ihr da mit meinen Männern?«
Lorcan konnte ohrenbetäubend brüllen, wenn er wollte. Schlagartig wurde es totenstill im Raum. Die Soldaten drehten sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm um. Sie erholten sich allerdings schnell wieder, und einen kurzen Moment lang glaubte Wynter, Zorn in ihren Augen aufflackern zu sehen: Für wen zum Henker hält sich dieser Tischler? Einer trat sogar schon vor, eine schneidende Entgegnung auf den Lippen. Doch der Wachposten vom Tor erkannte ihren Vater und nahm Haltung an.
»Hoher Protektor Moorehawke! Wir haben zwei dieser Herumtreiber dabei erwischt, wie sie sich ohne Papiere aus der Burg schleichen wollten. Als wir sie aufforderten, sich zu erklären, Herr, flohen sie, und wir nahmen die Verfolgung auf.«
Dem Himmel sei Dank! Also keine fortgesetzte Säuberung, keine vom König angeordnete Festnahme. Nur ein überstürzter, missglückter Fluchtversuch.
Wynter bemerkte, dass die Lehrlinge ihren Vater mit gro ßen Augen anstarrten. Das war er also! Der Held jedes jungen Handwerkers! Der Tischler, der niedere Arbeiter, dem König Jonathon persönlich Titel und Macht übertragen hatte. Der glorreiche Hohe Protektor Lorcan Moorehawke – er, der das Leben des Königs gerettet hatte, als sie beide noch Knaben waren. Verehrung blitzte aus den tränenüberströmten Gesichtern der Jungen, und Wynter betete, dass ihr Vater der Herausforderung, ihr Leben zu retten, gewachsen war.
Nur Pascal schien zu bemerken, wie schrecklich bleich Lorcan war, die leicht gebeugten Schultern, das Zittern seiner Hände. Sie entdeckte Bedauern in seiner Miene. Während er hinter der Gruppe verharrte, ließ er die Waffe sinken und betrachtete Lorcan über die Köpfe der anderen hinweg. Wynter konnte nicht einschätzen, ob seine Traurigkeit Lorcans Leiden geschuldet war oder der Erkenntnis, dass das Schicksal seiner Jungen auf den Schultern eines sterbenskranken Mannes lastete.
Mit kaltem Blick musterte Lorcan die Lehrlinge; er setzte darauf, dass sie noch nicht dazu gekommen waren, sich irgendwelche Ausreden auszudenken. »Ich habe euch doch gesagt, dass ihr auf eure Papiere warten sollt, ihr Tunichtgute! Was habt ihr euch dabei gedacht?«
Die Jungs schluckten und sahen verunsichert die Soldaten an.
»Ver-verzeiht, Herr …«, antwortete Gary geistesgegenwärtig. »Wir haben es vergessen.«
Jerome stand einfach nur mit großen runden Augen da, seine Lippen bebten.
Reiß dich zusammen, dachte Wynter. Reiß dich zusammen. So ist es brav.
»Vergessen? Vergessen?« Bei Lorcans neuerlichem Gebrüll schraken alle zusammen. Einer der Kleinsten heulte wieder los, doch Wynter hätte schwören können, dass sie Meister Huettes Mundwinkel hatte zucken sehen. »Wir werden ja sehen, ob ihr auch noch vergesst, wenn ich euch einen Tag von eurem Lohn kürze, du einfältiger Tropf!« Lorcan kam mit zwei großen Schritten in den Raum und deutete auf die Soldaten, die sich mit hämischem Grinsen über die feuerroten Gesichter der Jungen freuten. »Glaubst du etwa, diese guten Männer haben nichts Besseres zu tun, als Flöhe zu jagen? Entschuldigt euch gefälligst!«
Sofort drehte sich Gary steif und benommen zu den Wachen um. Verängstigt stotterte er: »Verzeihung, Ihr guten Herren. Wir wollten Eure Zeit nicht vergeuden.«
Jetzt wandten die Soldaten ihre barschen Mienen Jerome zu, den sie immer noch an den Armen festhielten. Man sah, dass er sich bemühte, einen Laut durch seine vor Furcht zugeschnürte Kehle zu würgen, doch es kam lediglich ein angstvolles Pfeifen heraus. Die Wachen lachten, einer von ihnen schüttelte den Jungen.
»Sag, dass es dir leidtut, du Heulsuse!«
»Ihr dürft wegtreten.« Lorcans Befehl war kalt und durchschnitt die Erheiterung der Soldaten wie eine Metzgerklinge. Sie begriffen sofort, dass sie zu weit gegangen waren: Das hier waren die Männer des Hohen Protektors – er und nur er hatte das Recht, sie zu maßregeln. Also ließen sie Jerome los und nahmen mit unbewegter Miene Haltung an. »Beim nächsten Mal«, erklärte Lorcan, »werden meine Jungen ihre Papiere dabeihaben, und es wird nicht nötig sein, dass Ihr Eure Posten verlasst, um ehrliche Zunftgenossen zu verfolgen.« Er machte eine herrische Geste, woraufhin die Soldaten salutierten und die Bibliothek verließen.
Stille senkte sich über den Raum. Einen Moment lang betrachtete Lorcan mit leerem Blick noch die Tür. Wynter trat zu ihm. Seine Augen waren sehr schwer, er wirkte abwesend.
Da drang sachte Pascal Huettes Stimme zu ihr durch: »Hol dem Protektor einen Stuhl, Gary. Gary – einen Stuhl für den Hohen Protektor.«
Man hörte ein Schaben und gedämpfte Schritte, als Gary zusammen mit einem der älteren Lehrlinge einen der Lesesessel heranschleppte und leise hinter Lorcan abstellte. Dann zogen sie sich an die Seite ihres Meisters zurück und sahen zu, wie Wynter ihrem Vater die Hand auf die Brust legte.
»Protektor«, sagte sie. »Die Lehrlinge bitten dich, ihnen die Ehre zu erweisen, Platz zu nehmen.«
Lorcan sah erst Wynter an, dann den Kreis schüchterner Gesichter. »Ihr Tölpel«, sagte er ohne eine Spur Erheiterung oder Wohlwollen. »Warum habt ihr nicht gewartet, wie mein Lehrling es euch auftrug?«
Neugierige Augen richteten sich auf Wynter. Sie entdeckte Verwirrung darin, gemischt mit einer Prise Scham und einer noch größeren Prise Misstrauen. Gary und der ältere Lehrling senkten die Köpfe, die kleinen Jungen gafften weiterhin mit offenen Mündern. Jerome starrte fortwährend auf den Fußboden. Er sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. Pascal wandte die Augen nicht von Lorcan ab.
»Wollt Ihr uns nicht die Ehre erweisen, Euch zu setzen, Herr?« Die Stimme des alten Mannes war sanft, jedoch ohne gefährliches Mitleid.
Lorcan drehte sich halb zu dem Stuhl um, den er mit eigenen Händen geschnitzt hatte. Er zögerte, ganz so, als überlegte er, das Angebot abzulehnen. Doch Wynter wusste, er schätzte nur ab, ob er sich niederlassen konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Er wandte sich wieder den Lehrlingen und ihrem Meister zu und zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Ach, warum eigentlich nicht, wenn er schon dasteht. Steif nahm er Platz, bemühte sich um eine stattliche und dennoch nicht zu kraftraubende Haltung. Wynter positionierte sich hinter ihm. Unter dem Gewicht eines doppelläufigen, grünäugigen Moorehawke-Blicks schrumpften die Tischler leicht in sich zusammen.
»Nun?«, knurrte Lorcan. »Mein Lehrling hat euch in meinem Namen unmissverständlich angewiesen, euch nicht vom Fleck zu rühren und auf mich zu warten. Was zum Henker habt ihr euch dabei gedacht, wie die Hasen vor den Soldaten des Königs herumzuhoppeln?«
Pascal schwieg, offenbar hatte er nichts dagegen, dass Lorcan seine Lehrlinge ausschalt – oder vielleicht fühlte er sich auch selbst angesprochen. Gary trat verlegen von einem Bein aufs andere, hob den Kopf und ließ ihn wieder sinken. »Sie ist zu dem Araber gegangen«, murmelte er. »Sie ist gar nicht zu Euch gegangen.«
»Gib gut acht, junger Mann«, zischte Lorcan und reckte den Kopf wie eine Schlange, die eine Maus entdeckt hat. »Wenn du das nächste Mal einer Frau vom Rang der Protektorin nachspionierst, dann bete, dass sie so diskret ist wie meine Tochter. Hätte die Hohe Protektorin deine Anwesenheit verraten, so hätten dich die Soldaten gepackt, in kleine Würfel geschnitten und an die Hunde verfüttert.«
Gary schielte verstohlen zu Wynter, und sie bedachte ihn mit einem kühlen Blick.
Schonungslos fuhr Lorcan fort: »Getan hätten sie es, weil der König es so verfügt hätte. Selbst dieser gute Mensch – seine Hoheit, der königliche Prinz Razi – hätte dich dann nicht retten können. Und weißt du auch, warum?«
Gary blinzelte und schüttelte den Kopf.
»Der Grund, warum Seine Hoheit, der königliche Prinz Razi, dir nicht hätte zu Hilfe eilen können, ist, dass der Prinz vor dem König ebenso machtlos ist wie du oder ich. Begreifst du, was ich dir erkläre?« Lorcan ließ den Blick von Gesicht zu Gesicht wandern, bis er bei Pascal verharrte. »Begreift Ihr es?«, fragte er Meister Huette. »Der königliche Prinz Razi ist dem Gesetz nach ein Untertan des Königs. Ein Untertan. Er gehorcht seinem Willen.«
Plötzlich schien Jerome aus einem schlimmen Traum zu erwachen; mit rot geränderten Augen blickte er Lorcan an, als sähe und höre er ihn zum ersten Mal. Dann stieß er einen langen, zitternden Atemzug aus. »Wollt Ihr uns etwa erzählen, dass dieser heidnische arabische Bastard nicht überglücklich ist, dass er seinen Hintern auf den Thron pflanzen darf? Wollt Ihr uns das erzählen, Herr?«
Sein Meister und die anderen Lehrlinge schluckten heftig in Anbetracht dieser Dreistigkeit, doch keiner machte Anstalten, ihn zurechtzuweisen oder ihm zu widersprechen.
Lieber Himmel, dachte Wynter, diese Gefühle sitzen tief. Der Junge da hat Todesangst – sie alle haben Todesangst. Und trotzdem hören sie nicht auf. Sie betrachtete die blassen Gesichter und konnte nicht anders, als ihre beharrliche Treue zu Alberon zu bewundern. Gleichzeitig schienen sie Lorcan zu vertrauen, da sie so gefährliche Reden schwangen – obwohl sie wussten, wie nahe er dem Thron stand.
Lorcan entblößte die Zähne und durchbohrte Jerome mit seinem Blick. »Das ist das letzte Mal, dass du einen Menschen seiner Herkunft, seines Glaubens oder der Umstände seiner Geburt wegen herabwürdigst, hast du mich verstanden, Junge?« Er sah Jerome so lange in die Augen, bis dieser den Kopf senkte. Daraufhin blickte er noch einmal alle der Reihe nach an und dämpfte seinen Tonfall von eisig auf kühl. »Seine Hoheit, der königliche Prinz Razi – und hört mir gut zu, denn genau so werdet ihr ihn in Zukunft unter Androhung von Kerkerhaft nennen, auf Befehl des Königs – der königliche Prinz Razi betrachtet seine derzeitige Position auf dem Thron seines Bruders als Stellvertretung. Er ist dem Thronfolger ebenso treu ergeben wie ihr oder ich. Habt ihr das gehört?«
Die Lehrlinge runzelten unsicher die Stirn.
»Ob ihr mich gehört habt?«
»Aber was ist mit den Verhaftungen, Lorcan?«, fragte Pascal schließlich im Namen aller. Furcht und die nur mehr schwache Hoffnung, er könnte sie alle vor einem schrecklichen Ende bewahren, sprach aus ihren Mienen.
Lorcan antwortete nicht sofort, und Wynter wusste, dass dieses Zögern wohlüberlegt war. Jedes seiner folgenden Worte, jede noch so winzige Geste war bewusst und auf Wirkung bedacht gewählt. Durch dieses Zögern ließ er die Männer wissen, dass eine Säuberung nicht in seinem Einflussbereich lag. Doch als er endlich antwortete, lag ein Hauch Hoffnung in seiner Stimme. »Noch ist nicht gewiss, ob es wirklich eine Säuberung ist, Meister Huette. Den wenigen Einzelheiten nach zu urteilen, die ich in Erfahrung bringen konnte, erweckt es den Anschein, als wäre nur die Familie des Attentäters Jusef Marcos beim König in Ungnade gefallen. Habe ich Recht?« Jeromes Augen füllten sich mit Tränen, Pascal nickte. »Dann endet es womöglich damit auch.«
Etwas verloren blickte sich Jerome um. »Aber was ist mit meinem Vetter, Herr?«, fragte er. »Mit seinen Kindern?«
Lorcans Stimme war sanft, als er entgegnete: »Betrauere sie. Mit meinem aufrichtigen Beileid.«
Jerome brach in Tränen aus, und Gary legte ihm den Arm und die Schultern und zog ihn an sich.
»Unterdessen«, sprach Lorcan weiter, nun wieder streng, »nehmt euch ein Beispiel an dem königlichen Prinzen Razi, diesem vortrefflichen Mann, und stellt euer beständiges Klagen gegen den König ein. Zunftgenossen, wenn ihr keine Säuberung wünscht, um Gottes willen, hört auf, eine heraufzubeschwören.«
»Wir sollen unseren Mund halten?« Das kam von Gary, der unerwartet bitter und trotzig vor seinem verunsicherten und bekümmerten Vater stand.
»Ihr sollt abwarten«, versetzte Lorcan überraschend sanft. »Wie gute Männer, wie treue und geduldige Untertanen. Abwarten und dem Willen seiner Majestät gehorchen. Hört mir zu: Ihr müsst dem königlichen Prinzen Razi vertrauen, denn er bemüht sich eifrig und geduldig um die Rückkehr seines Bruders.«
Das zeigte Wirkung. Selbst Jerome schwieg jetzt verblüfft.
»Pascal«, murmelte Lorcan. »Schickt Eure Jungen an die Arbeit.«
Und Pascal gehorchte, wies ihnen unterschiedliche Aufgaben zu, bis sich die Bibliothek allmählich wieder mit den Geräuschen der Hobel füllte, dem stetigen Pochen von kleinen Hämmern auf feine Meißel.
Schließlich kam Pascal zurück und kauerte sich neben Lorcans Knie. Es gelang ihm, nicht auf Lorcans Hände zu starren oder sein Gesicht allzu eingehend zu mustern.
»Sind wir in Sicherheit, Herr?«, fragte er leise.
Lorcan machte Anstalten, ihm die Hand auf die Schulter zu legen, überlegte es sich aber sofort wieder anders und umklammerte stattdessen erneut die Stuhllehne. »Morgen werde ich mit dem König speisen, Pascal.« Die Bedeutung dieser Worte spiegelte sich auf Pascals Miene, und er warf Wynter einen entschuldigenden Blick zu. Lorcan würde seine Unterstützung des Königs öffentlich zeigen – auf dieselbe Weise, die Pascals Lehrlinge so wütend gemacht hatte, als Wynter auf diesem Platz gesessen hatte. »Ich werde mir die allergrößte Mühe geben, darauf hinzuweisen, was für treue, standhafte und ehrliche Männer ihr alle seid.«
Mit tränenfeuchten Augen nickte der alte Mann. »Ich danke Euch, Herr. Meine Jungen …«
Lorcan fiel ihm scharf ins Wort. »Aber versteht auch – ich kann keine Narren beschützen. Ihr müsst sie zügeln, Pascal. Ihr müsst Eure Lehrlinge und deren Freunde und Verwandte zur Ordnung rufen. Sonst wird unschuldiges Blut fließen, wie man es seit der Zeit unserer Großväter nicht mehr erlebt hat. Und falls das geschieht, werde ich mich von Euch lossagen und Euch ohne einen einzigen Blick zurück Eurem Schicksal überlassen.« Er sah ihm geradewegs in die Augen. »Habt Ihr das verstanden?«
»Ja, Herr«, murmelte Pascal. »Ich verstehe.«
»Dann geht jetzt an Eure Arbeit.«
Der alte Mann erhob sich, ging davon und machte sich wieder an jenem letzten Schnitzbild zu schaffen, das Lorcan nicht zu Ende gebracht hatte.
Eine lange Weile blieb Lorcan ganz still sitzen, den Kopf gesenkt, die Hände auf den Stuhllehnen. Wynter wartete geduldig. Endlich raunte er, ohne den Blick zu heben oder sich zu bewegen, nur für Wynters Ohren hörbar: »Sind alle beschäftigt?«
»Ja«, flüsterte sie, nachdem sie einen Blick auf die eifrig abgewendeten Jungen geworfen hatte. Lorcan rutschte ein Stück nach vorn, so dass sie ihm die Hände unter die Ellbogen schieben konnte, während er schmerzgepeinigt auf die Füße kam.
Noch einmal sah sich Wynter prüfend um, doch keiner der Lehrlinge hob den Blick oder wandte den Kopf von seiner Arbeit ab. Selbst als Lorcan ins Schwanken geriet und sie ihn auffangen und stützen musste, bis er den ersten Schritt wagen konnte, blieben alle Augen taktvoll gesenkt. Solches Feingefühl war ungewöhnlich für eine Gruppe junger Burschen. Wynter fragte sich, ob Achtung oder Selbstschutz dahintersteckte. Vielleicht fühlten sie sich sicherer, je weniger sie wussten, und bewahrten sich dadurch vor der Erkenntnis, dass ihre ganze Hoffnung auf Lorcans gebeugten Schultern lag.
Moorehawke 01 - Schattenpfade
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