Des Protektors Männer
Gott steh mir bei … Ich hasse das.« In
Lorcans Stimme schwang eine ungewohnte Bitterkeit mit, und Wynter
vermutete, dass er seine Schwäche meinte. Sie sagte nichts, klopfte
ihm nur sacht auf den Arm und behielt weiterhin den von Fackeln
erleuchteten Durchgang im Auge, um ihn rechtzeitig warnen zu
können, wenn jemand auftauchte.
Sie hatten in etwa den Weg gewählt, den Jonathon
ihnen gezeigt hatte, als er Lorcan in seine Gemächer zurückgebracht
hatte. Bislang waren sie beinahe unbemerkt geblieben. Doch das war
der letzte Abschnitt, auf dem sie sich der öffentlichen Beobachtung
entziehen konnten. Lorcan hatte gerastet, um Atem zu schöpfen und
sich zu sammeln, bevor er wieder die Maske des Hohen Protektors
aufsetzte. Er schwitzte und zitterte, und Wynter war mehr und mehr
davon überzeugt, dass es ein Fehler gewesen war, ihm von den
Lehrlingen zu berichten.
Christopher hatten sie auf dem Bett zurückgelassen,
den Kopf an Lorcans Kissen gelehnt. Mit missbilligend
zusammengekniffenen Augen hatte er zugesehen, wie sich der schwere
Mann vorzeigbar machte. »Ihr seid ein verdammter Narr. Razi wird
Euch umbringen«, hatte er immer wieder orakelt. Nun fragte sich
Wynter, ob Razi überhaupt noch Gelegenheit dazu bekäme. Sie
widerstand dem Drang, ihren Vater
noch einmal zu bitten, zurück in ihr Quartier zu gehen. Beim
letzten Mal hatte er etwas gereizt reagiert.
»Ich hasse diese andauernde Angst. Ich wünschte,
ich könnte mich nur einen Augenblick ruhig hinsetzen und
nachdenken«, fuhr er jetzt fort. Er hatte also doch nicht seine
Krankheit gemeint.
Auf seine versonnene Art betrachtete er wieder die
Decke über sich, seine Augen tasteten den Stein ab, als entzifferte
er Sanskrit. »Ich hasse es, unentwegt den Handlungen anderer
begegnen zu müssen«, sagte er nun. »Es kommt mir vor, als hätte ich
die vergangenen fünf Jahre nichts anderes getan: Immer nur
begegnete ich den Handlungen anderer. Keine Zeit, selbst etwas zu
planen, keine Zeit, eine Gegenwehr zu errichten, bevor die Welt aus
den Fugen gerät und wir wieder heimatlos sind. Ach, Wynter!«
Unversehens stöhnte er auf, legte sich die Hand aufs Gesicht, und
zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Wynter Mutlosigkeit in der
Stimme ihres Vaters. »Ich bin zu müde für so etwas. Ich bin einfach
…« Er holte tief Luft.
Sie musste sich auf die Lippe beißen. Doch als sie
ihm tröstlich die Hand auf die Brust legte und den Mund öffnete, um
zu sagen: Ist schon gut. Lass uns zurückgehen, stieß sich
Lorcan entschlossen von der Wand ab und spähte zu der kurzen Treppe
am Ende des Gangs. »Die Stufen hinauf, dann durch den Rosengarten,
noch einmal Stufen, und wir sind in der Bibliothek«, zählte er auf,
als träfe er eine Abmachung mit sich selbst. »Also dann.« Er stieß
die Luft aus, warf sich nach vorn und schlang den Arm um Wynters
Schulter.
»Oben auf dem Treppenabsatz bist du für jedermann
zu sehen«, ächzte sie. »Dann musst du allein laufen.«
»Bring mich einfach nur da rauf, Mädchen!« Sein
wütendes Knurren ließ sie verstummen. Vorsichtig, Schritt für
Schritt, erklommen sie die Stufen. Oben angekommen, verschnaufte
Lorcan erneut. Dann drückte er den Rücken durch, holte tief Luft
und trat in die Sonne hinaus.
Der Rosengarten war leer, als sie die Tür hinter
sich schlossen; trotzdem hielt Lorcan seine vorgeschützt kraftvolle
Haltung aufrecht. Er lief langsam, kerzengerade und mit gestrafften
Schultern. Das einzige Zugeständnis an seine elende körperliche
Verfassung war der schmerzhaft feste Griff um die Schulter seiner
Tochter.
Sie sah zu ihm auf. Wem wollen wir etwas
vormachen?, dachte sie. Seht ihn euch doch an!
Die Granitstufen im anderen Flügel gaben ihm
beinahe den Rest. Zwar waren es nur sechs, doch Lorcan blieb davor
stehen und betrachtete sie zitternd. Dann grub er die Fingernägel
in Wynters Schulter, beugte sich vor und nahm jede in Angriff wie
einen Berggipfel.
Als er es endlich geschafft hatte, sackte er in
sich zusammen. Sofort legte sie ihm den Arm um die Hüfte, doch er
zischte »Lass das!« und richtete sich wieder auf.
In diesem Moment hörten sie den Tumult.
»Verdammt«, stellte Lorcan tonlos fest und ging
weiter.
In dem kühlen, gefliesten Gang waren die Geräusche
sehr deutlich zu vernehmen. Die Bibliothekstür am Ende stand offen,
und der Lärm kam von dort: kleine Kinder heulten. Ein alter Mann
rief etwas, andere brüllten. Darüber lag das Kreischen dreier
junger Männer, erfüllt von Furcht und Zorn.
»Oh, du guter Gott«, stöhnte Lorcan und beeilte
sich, so gut er konnte.
Wir sind zu spät, dachte sie
bedauernd.
Doch drei Dinge gaben ihr Hoffnung, als sie um die
Ecke bogen und die Bibliothek betraten: Da war kein Blut. Es waren
nur drei Soldaten. Und diese drei waren zwei ganz normale
Wachposten aus dem Palast und einer vom Burgtor. Keine Spur von
Jonathons Leibwache. Wäre einer dieser hünenhaften, unerbittlichen
Männer anwesend gewesen, hätte es für die Lehrlinge gewiss das Ende
bedeutet. So allerdings war noch nicht alles verloren – wenn sie
nur rasch handelten.
Die Soldaten waren in ein Handgemenge mit Pascals
Trupp verwickelt und versuchten, Jerome und Gary aus dem Schutz der
Gruppe zu zerren. Jerome wurde von den beiden Männern zu beiden
Seiten festgehalten; er wehrte sich heftig, trat und spuckte. Der
dritte Soldat mühte sich ab, Gary aus dem Klammergriff der anderen
Jungen zu lösen. Alle schrien und brüllten, und die kleineren
Jungen weinten kläglich. Pascal kam mit großen Schritten aus dem
hinteren Teil der Bibliothek heran, einen schweren Holzhammer in
den Händen, bereit, ihn dem Mann auf den Kopf zu dreschen, der
seinen Sohn bedrohte.
In wenigen Augenblicken gäbe es kein Zurück
mehr.
Unbemerkt von allen stellte sich Lorcan in den
Türrahmen. Er richtete sich zu voller Größe auf, ließ Wynters
Schulter los und donnerte: »Was macht ihr da mit meinen
Männern?«
Lorcan konnte ohrenbetäubend brüllen, wenn er
wollte. Schlagartig wurde es totenstill im Raum. Die Soldaten
drehten sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihm um. Sie erholten
sich allerdings schnell wieder, und einen kurzen Moment lang
glaubte Wynter, Zorn in ihren Augen aufflackern zu sehen: Für
wen zum Henker hält sich dieser Tischler? Einer trat sogar
schon vor, eine schneidende Entgegnung auf den Lippen. Doch der
Wachposten vom Tor erkannte ihren Vater und nahm Haltung an.
»Hoher Protektor Moorehawke! Wir haben zwei dieser
Herumtreiber dabei erwischt, wie sie sich ohne Papiere aus der Burg
schleichen wollten. Als wir sie aufforderten, sich
zu erklären, Herr, flohen sie, und wir nahmen die Verfolgung
auf.«
Dem Himmel sei Dank! Also keine fortgesetzte
Säuberung, keine vom König angeordnete Festnahme. Nur ein
überstürzter, missglückter Fluchtversuch.
Wynter bemerkte, dass die Lehrlinge ihren Vater mit
gro ßen Augen anstarrten. Das war er also! Der Held jedes jungen
Handwerkers! Der Tischler, der niedere Arbeiter, dem König Jonathon
persönlich Titel und Macht übertragen hatte. Der glorreiche Hohe
Protektor Lorcan Moorehawke – er, der das Leben des Königs gerettet
hatte, als sie beide noch Knaben waren. Verehrung blitzte aus den
tränenüberströmten Gesichtern der Jungen, und Wynter betete, dass
ihr Vater der Herausforderung, ihr Leben zu retten, gewachsen
war.
Nur Pascal schien zu bemerken, wie schrecklich
bleich Lorcan war, die leicht gebeugten Schultern, das Zittern
seiner Hände. Sie entdeckte Bedauern in seiner Miene. Während er
hinter der Gruppe verharrte, ließ er die Waffe sinken und
betrachtete Lorcan über die Köpfe der anderen hinweg. Wynter konnte
nicht einschätzen, ob seine Traurigkeit Lorcans Leiden geschuldet
war oder der Erkenntnis, dass das Schicksal seiner Jungen auf den
Schultern eines sterbenskranken Mannes lastete.
Mit kaltem Blick musterte Lorcan die Lehrlinge; er
setzte darauf, dass sie noch nicht dazu gekommen waren, sich
irgendwelche Ausreden auszudenken. »Ich habe euch doch gesagt, dass
ihr auf eure Papiere warten sollt, ihr Tunichtgute! Was habt ihr
euch dabei gedacht?«
Die Jungs schluckten und sahen verunsichert die
Soldaten an.
»Ver-verzeiht, Herr …«, antwortete Gary
geistesgegenwärtig. »Wir haben es vergessen.«
Jerome stand einfach nur mit großen runden Augen
da, seine Lippen bebten.
Reiß dich zusammen, dachte Wynter. Reiß
dich zusammen. So ist es brav.
»Vergessen? Vergessen?« Bei Lorcans
neuerlichem Gebrüll schraken alle zusammen. Einer der Kleinsten
heulte wieder los, doch Wynter hätte schwören können, dass sie
Meister Huettes Mundwinkel hatte zucken sehen. »Wir werden ja
sehen, ob ihr auch noch vergesst, wenn ich euch einen Tag von eurem
Lohn kürze, du einfältiger Tropf!« Lorcan kam mit zwei großen
Schritten in den Raum und deutete auf die Soldaten, die sich mit
hämischem Grinsen über die feuerroten Gesichter der Jungen freuten.
»Glaubst du etwa, diese guten Männer haben nichts Besseres zu tun,
als Flöhe zu jagen? Entschuldigt euch gefälligst!«
Sofort drehte sich Gary steif und benommen zu den
Wachen um. Verängstigt stotterte er: »Verzeihung, Ihr guten Herren.
Wir wollten Eure Zeit nicht vergeuden.«
Jetzt wandten die Soldaten ihre barschen Mienen
Jerome zu, den sie immer noch an den Armen festhielten. Man sah,
dass er sich bemühte, einen Laut durch seine vor Furcht
zugeschnürte Kehle zu würgen, doch es kam lediglich ein angstvolles
Pfeifen heraus. Die Wachen lachten, einer von ihnen schüttelte den
Jungen.
»Sag, dass es dir leidtut, du Heulsuse!«
»Ihr dürft wegtreten.« Lorcans Befehl war kalt und
durchschnitt die Erheiterung der Soldaten wie eine Metzgerklinge.
Sie begriffen sofort, dass sie zu weit gegangen waren: Das hier
waren die Männer des Hohen Protektors – er und nur er hatte das
Recht, sie zu maßregeln. Also ließen sie Jerome los und nahmen mit
unbewegter Miene Haltung an. »Beim nächsten Mal«, erklärte Lorcan,
»werden meine Jungen ihre Papiere
dabeihaben, und es wird nicht nötig sein, dass Ihr Eure Posten
verlasst, um ehrliche Zunftgenossen zu verfolgen.« Er machte eine
herrische Geste, woraufhin die Soldaten salutierten und die
Bibliothek verließen.
Stille senkte sich über den Raum. Einen Moment lang
betrachtete Lorcan mit leerem Blick noch die Tür. Wynter trat zu
ihm. Seine Augen waren sehr schwer, er wirkte abwesend.
Da drang sachte Pascal Huettes Stimme zu ihr durch:
»Hol dem Protektor einen Stuhl, Gary. Gary – einen Stuhl für
den Hohen Protektor.«
Man hörte ein Schaben und gedämpfte Schritte, als
Gary zusammen mit einem der älteren Lehrlinge einen der Lesesessel
heranschleppte und leise hinter Lorcan abstellte. Dann zogen sie
sich an die Seite ihres Meisters zurück und sahen zu, wie Wynter
ihrem Vater die Hand auf die Brust legte.
»Protektor«, sagte sie. »Die Lehrlinge bitten dich,
ihnen die Ehre zu erweisen, Platz zu nehmen.«
Lorcan sah erst Wynter an, dann den Kreis
schüchterner Gesichter. »Ihr Tölpel«, sagte er ohne eine Spur
Erheiterung oder Wohlwollen. »Warum habt ihr nicht gewartet, wie
mein Lehrling es euch auftrug?«
Neugierige Augen richteten sich auf Wynter. Sie
entdeckte Verwirrung darin, gemischt mit einer Prise Scham und
einer noch größeren Prise Misstrauen. Gary und der ältere Lehrling
senkten die Köpfe, die kleinen Jungen gafften weiterhin mit offenen
Mündern. Jerome starrte fortwährend auf den Fußboden. Er sah aus,
als würde er gleich in Ohnmacht fallen. Pascal wandte die Augen
nicht von Lorcan ab.
»Wollt Ihr uns nicht die Ehre erweisen, Euch zu
setzen, Herr?« Die Stimme des alten Mannes war sanft, jedoch ohne
gefährliches Mitleid.
Lorcan drehte sich halb zu dem Stuhl um, den er mit
eigenen
Händen geschnitzt hatte. Er zögerte, ganz so, als überlegte er,
das Angebot abzulehnen. Doch Wynter wusste, er schätzte nur ab, ob
er sich niederlassen konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.
Er wandte sich wieder den Lehrlingen und ihrem Meister zu und
zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Ach, warum eigentlich
nicht, wenn er schon dasteht. Steif nahm er Platz, bemühte sich
um eine stattliche und dennoch nicht zu kraftraubende Haltung.
Wynter positionierte sich hinter ihm. Unter dem Gewicht eines
doppelläufigen, grünäugigen Moorehawke-Blicks schrumpften die
Tischler leicht in sich zusammen.
»Nun?«, knurrte Lorcan. »Mein Lehrling hat euch in
meinem Namen unmissverständlich angewiesen, euch nicht vom Fleck zu
rühren und auf mich zu warten. Was zum Henker habt ihr euch dabei
gedacht, wie die Hasen vor den Soldaten des Königs
herumzuhoppeln?«
Pascal schwieg, offenbar hatte er nichts dagegen,
dass Lorcan seine Lehrlinge ausschalt – oder vielleicht fühlte er
sich auch selbst angesprochen. Gary trat verlegen von einem Bein
aufs andere, hob den Kopf und ließ ihn wieder sinken. »Sie ist zu
dem Araber gegangen«, murmelte er. »Sie ist gar nicht zu Euch
gegangen.«
»Gib gut acht, junger Mann«, zischte Lorcan und
reckte den Kopf wie eine Schlange, die eine Maus entdeckt hat.
»Wenn du das nächste Mal einer Frau vom Rang der Protektorin
nachspionierst, dann bete, dass sie so diskret ist wie meine
Tochter. Hätte die Hohe Protektorin deine Anwesenheit verraten, so
hätten dich die Soldaten gepackt, in kleine Würfel geschnitten und
an die Hunde verfüttert.«
Gary schielte verstohlen zu Wynter, und sie
bedachte ihn mit einem kühlen Blick.
Schonungslos fuhr Lorcan fort: »Getan hätten sie
es, weil
der König es so verfügt hätte. Selbst dieser gute Mensch – seine
Hoheit, der königliche Prinz Razi – hätte dich dann nicht retten
können. Und weißt du auch, warum?«
Gary blinzelte und schüttelte den Kopf.
»Der Grund, warum Seine Hoheit, der königliche
Prinz Razi, dir nicht hätte zu Hilfe eilen können, ist, dass der
Prinz vor dem König ebenso machtlos ist wie du oder ich. Begreifst
du, was ich dir erkläre?« Lorcan ließ den Blick von Gesicht zu
Gesicht wandern, bis er bei Pascal verharrte. »Begreift Ihr es?«,
fragte er Meister Huette. »Der königliche Prinz Razi ist dem Gesetz
nach ein Untertan des Königs. Ein Untertan. Er gehorcht
seinem Willen.«
Plötzlich schien Jerome aus einem schlimmen Traum
zu erwachen; mit rot geränderten Augen blickte er Lorcan an, als
sähe und höre er ihn zum ersten Mal. Dann stieß er einen langen,
zitternden Atemzug aus. »Wollt Ihr uns etwa erzählen, dass dieser
heidnische arabische Bastard nicht überglücklich ist, dass er
seinen Hintern auf den Thron pflanzen darf? Wollt Ihr uns das
erzählen, Herr?«
Sein Meister und die anderen Lehrlinge schluckten
heftig in Anbetracht dieser Dreistigkeit, doch keiner machte
Anstalten, ihn zurechtzuweisen oder ihm zu widersprechen.
Lieber Himmel, dachte Wynter, diese
Gefühle sitzen tief. Der Junge da hat Todesangst – sie alle haben
Todesangst. Und trotzdem hören sie nicht auf. Sie betrachtete
die blassen Gesichter und konnte nicht anders, als ihre beharrliche
Treue zu Alberon zu bewundern. Gleichzeitig schienen sie Lorcan zu
vertrauen, da sie so gefährliche Reden schwangen – obwohl sie
wussten, wie nahe er dem Thron stand.
Lorcan entblößte die Zähne und durchbohrte Jerome
mit seinem Blick. »Das ist das letzte Mal, dass du einen Menschen
seiner Herkunft, seines Glaubens oder der Umstände
seiner Geburt wegen herabwürdigst, hast du mich verstanden,
Junge?« Er sah Jerome so lange in die Augen, bis dieser den Kopf
senkte. Daraufhin blickte er noch einmal alle der Reihe nach an und
dämpfte seinen Tonfall von eisig auf kühl. »Seine Hoheit, der
königliche Prinz Razi – und hört mir gut zu, denn genau so werdet
ihr ihn in Zukunft unter Androhung von Kerkerhaft nennen, auf
Befehl des Königs – der königliche Prinz Razi betrachtet
seine derzeitige Position auf dem Thron seines Bruders als
Stellvertretung. Er ist dem Thronfolger ebenso treu ergeben
wie ihr oder ich. Habt ihr das gehört?«
Die Lehrlinge runzelten unsicher die Stirn.
»Ob ihr mich gehört habt?«
»Aber was ist mit den Verhaftungen, Lorcan?«,
fragte Pascal schließlich im Namen aller. Furcht und die nur mehr
schwache Hoffnung, er könnte sie alle vor einem schrecklichen Ende
bewahren, sprach aus ihren Mienen.
Lorcan antwortete nicht sofort, und Wynter wusste,
dass dieses Zögern wohlüberlegt war. Jedes seiner folgenden Worte,
jede noch so winzige Geste war bewusst und auf Wirkung bedacht
gewählt. Durch dieses Zögern ließ er die Männer wissen, dass eine
Säuberung nicht in seinem Einflussbereich lag. Doch als er endlich
antwortete, lag ein Hauch Hoffnung in seiner Stimme. »Noch ist
nicht gewiss, ob es wirklich eine Säuberung ist, Meister Huette.
Den wenigen Einzelheiten nach zu urteilen, die ich in Erfahrung
bringen konnte, erweckt es den Anschein, als wäre nur die Familie
des Attentäters Jusef Marcos beim König in Ungnade gefallen. Habe
ich Recht?« Jeromes Augen füllten sich mit Tränen, Pascal nickte.
»Dann endet es womöglich damit auch.«
Etwas verloren blickte sich Jerome um. »Aber was
ist mit meinem Vetter, Herr?«, fragte er. »Mit seinen
Kindern?«
Lorcans Stimme war sanft, als er entgegnete:
»Betrauere sie. Mit meinem aufrichtigen Beileid.«
Jerome brach in Tränen aus, und Gary legte ihm den
Arm und die Schultern und zog ihn an sich.
»Unterdessen«, sprach Lorcan weiter, nun wieder
streng, »nehmt euch ein Beispiel an dem königlichen Prinzen Razi,
diesem vortrefflichen Mann, und stellt euer beständiges Klagen
gegen den König ein. Zunftgenossen, wenn ihr keine Säuberung
wünscht, um Gottes willen, hört auf, eine
heraufzubeschwören.«
»Wir sollen unseren Mund halten?« Das kam von Gary,
der unerwartet bitter und trotzig vor seinem verunsicherten und
bekümmerten Vater stand.
»Ihr sollt abwarten«, versetzte Lorcan überraschend
sanft. »Wie gute Männer, wie treue und geduldige Untertanen.
Abwarten und dem Willen seiner Majestät gehorchen. Hört mir zu: Ihr
müsst dem königlichen Prinzen Razi vertrauen, denn er bemüht sich
eifrig und geduldig um die Rückkehr seines Bruders.«
Das zeigte Wirkung. Selbst Jerome schwieg jetzt
verblüfft.
»Pascal«, murmelte Lorcan. »Schickt Eure Jungen an
die Arbeit.«
Und Pascal gehorchte, wies ihnen unterschiedliche
Aufgaben zu, bis sich die Bibliothek allmählich wieder mit den
Geräuschen der Hobel füllte, dem stetigen Pochen von kleinen
Hämmern auf feine Meißel.
Schließlich kam Pascal zurück und kauerte sich
neben Lorcans Knie. Es gelang ihm, nicht auf Lorcans Hände zu
starren oder sein Gesicht allzu eingehend zu mustern.
»Sind wir in Sicherheit, Herr?«, fragte er
leise.
Lorcan machte Anstalten, ihm die Hand auf die
Schulter zu legen, überlegte es sich aber sofort wieder anders und
umklammerte
stattdessen erneut die Stuhllehne. »Morgen werde ich mit dem König
speisen, Pascal.« Die Bedeutung dieser Worte spiegelte sich auf
Pascals Miene, und er warf Wynter einen entschuldigenden Blick zu.
Lorcan würde seine Unterstützung des Königs öffentlich zeigen – auf
dieselbe Weise, die Pascals Lehrlinge so wütend gemacht hatte, als
Wynter auf diesem Platz gesessen hatte. »Ich werde mir die
allergrößte Mühe geben, darauf hinzuweisen, was für treue,
standhafte und ehrliche Männer ihr alle seid.«
Mit tränenfeuchten Augen nickte der alte Mann. »Ich
danke Euch, Herr. Meine Jungen …«
Lorcan fiel ihm scharf ins Wort. »Aber versteht
auch – ich kann keine Narren beschützen. Ihr müsst sie zügeln,
Pascal. Ihr müsst Eure Lehrlinge und deren Freunde und Verwandte
zur Ordnung rufen. Sonst wird unschuldiges Blut fließen, wie man es
seit der Zeit unserer Großväter nicht mehr erlebt hat. Und falls
das geschieht, werde ich mich von Euch lossagen und Euch ohne einen
einzigen Blick zurück Eurem Schicksal überlassen.« Er sah ihm
geradewegs in die Augen. »Habt Ihr das verstanden?«
»Ja, Herr«, murmelte Pascal. »Ich verstehe.«
»Dann geht jetzt an Eure Arbeit.«
Der alte Mann erhob sich, ging davon und machte
sich wieder an jenem letzten Schnitzbild zu schaffen, das Lorcan
nicht zu Ende gebracht hatte.
Eine lange Weile blieb Lorcan ganz still sitzen,
den Kopf gesenkt, die Hände auf den Stuhllehnen. Wynter wartete
geduldig. Endlich raunte er, ohne den Blick zu heben oder sich zu
bewegen, nur für Wynters Ohren hörbar: »Sind alle
beschäftigt?«
»Ja«, flüsterte sie, nachdem sie einen Blick auf
die eifrig abgewendeten Jungen geworfen hatte. Lorcan rutschte ein
Stück nach vorn, so dass sie ihm die Hände unter die Ellbogen
schieben konnte, während er schmerzgepeinigt auf die Füße
kam.
Noch einmal sah sich Wynter prüfend um, doch keiner
der Lehrlinge hob den Blick oder wandte den Kopf von seiner Arbeit
ab. Selbst als Lorcan ins Schwanken geriet und sie ihn auffangen
und stützen musste, bis er den ersten Schritt wagen konnte, blieben
alle Augen taktvoll gesenkt. Solches Feingefühl war ungewöhnlich
für eine Gruppe junger Burschen. Wynter fragte sich, ob Achtung
oder Selbstschutz dahintersteckte. Vielleicht fühlten sie sich
sicherer, je weniger sie wussten, und bewahrten sich dadurch vor
der Erkenntnis, dass ihre ganze Hoffnung auf Lorcans gebeugten
Schultern lag.