Mortuus in vita
Ein Hämmern an der Tür riss Wynter aus tiefstem Schlaf. Auf der Fensterbank hockte ein Rabe, er krächzte laut und beäugte sie mit boshafter Gleichgültigkeit. Aus seinem Schnabel hing ein Streifen blutiges Fleisch, und auf dem hellen Holz des Simses erkannte sie Blutspuren.
Käfige, dachte sie, noch nicht ganz aus dem Schlummer aufgetaucht. Galgen, Blut und Schmerz.
Der Vogel breitete seine riesigen Flügel aus, und das Zimmer verdunkelte sich. Wieder krächzte er, stürzte sich vom Fensterbrett und schwang sich auf das Dach empor. Sein Schrei klang wie eine rostige Säge in knotigem Holz.
Wynter stützte sich auf die Ellbogen. Die Schatten waren kurz, die Sonne stand hoch und heiß im Fenster. Es musste schon Mittag oder noch später sein, was bedeutete, sie hatte mehr als acht Stunden wie eine Tote geschlafen! Das Hämmern an der Tür wurde lauter. Mühsam befreite sie sich aus Laken und Insektennetz und verfluchte Razi für den bitteren Trank, den er ihr vor dem Zubettgehen eingeflößt hatte – sie konnte seine Klauen immer noch in Armen und Beinen spüren. Der Schlaf saugte wie ein schwarzer Fluss an ihrem Verstand.
»Ich …« Sie räusperte sich, lechzte nach Wasser. »Ich komme!«, stieß sie endlich heiser hervor und lief aus ihrer Schlafkammer.
Auf dem Weg durch den Gemeinschaftsraum hörte sie Lorcans Riegel zurückschlagen und war verblüfft, ihn durch die Tür taumeln zu sehen – zerzaust und wirr, mit bloßen Fü ßen und in langen Unterhosen, das Nachthemd bis zum Bauch offen stehend. Er hatte ebenfalls verschlafen! Der Herr und Meister aller Frühaufsteher!
»Was …« Er blickte sich um wie ein verdutzter Bär.
Da öffnete Wynter bereits die Tür zum Gang. Vor ihr stand ein erboster Höfling, der angesichts ihres Hemds und der Nachthaube die Arme ausbreitete. »Wir haben das sechste Viertel der Schatten!«, schimpfte er aufgebracht. Hinter ihm versteckte sich ein kleiner Page mit einem Tablett. Er schielte um die Beine des Mannes herum zu Wynter.
Lorcan fluchte heftig hinter ihr und sprach besorgt den Höfling an. »Hat er die ganze Zeit hier gewartet?«
Der Höfling musterte ihn von Kopf bis Fuß und verzog die Lippe mit kaum verhohlener Verachtung, nur einen Hauch von gefährlicher Dreistigkeit entfernt. »Seine Majestät hat Wichtigeres zu tun, als auf Euch zu warten, Hoher Protektor Moorehawke. Ihr möget Euch sputen – er wird Euch empfangen, sobald er Zeit hat.« Ein weiterer eisiger Blick, dann drehte sich der Mann schwungvoll auf dem Absatz um und ging.
Lorcan riss die Hände hoch, raufte sich die ungekämmten Haare und sah sich aufgelöst im Zimmer um. »Gottverflucht. Gottverflucht … Wo sind nur meine verwünschten Stiefel?«
Da erhob der kleine Page zaghaft die Stimme und reckte Wynter das Tablett entgegen. »Mit den besten Grüßen von Fürst Razi, ein Frühstück. Jetzt ist aber alles kalt.«
Wynter nahm ihm die Speisen ab. »Ich danke dir.« Neben der Tür lag ein säuberlich gefalteter Stapel Kleider, der aus der Wäscherei gebracht worden war. »Würdest du mir das hereintragen, kleiner Mann?«
Der Page tat, wie ihm geheißen. Er wirkte noch sehr jung und unschuldig, doch als Wynter ihn nach dem Befinden des Fürsten Razi fragte, sah er sie nur ernst und höfisch-wachsam an, ohne zu antworten. Traurig lächelte sie ihn an und entließ ihn mit einem Kopfnicken. Er nahm das unangetastete Essen des vorangegangenen Abends mit, und Wynter stellte das neue Tablett auf den Tisch. Plötzlich merkte sie, dass sie halb verhungert war.
Lorcan stürmte aus seinem Zimmer herein, einen Stiefel in der Hand. »Was machst du da?«, donnerte er. »Zieh dich an!«
»Setz dich hin und iss etwas, Vater. Razi hat gesagt …«
»Wynter! Zieh dir deine Arbeitskleidung an, Jonathon wartet. Er wartet seit Stunden!«
Er war rot im Gesicht. Am liebsten hätte Wynter ihn gepackt und ihm befohlen, sich zu beruhigen, bevor er wieder zusammenbrach. Stattdessen setzte sie sich seelenruhig hin und strich Butter auf einen Wecken, als hätten sie alle Zeit der Welt. Der Wecken war schwer und frisch, mit reichlich Rosinen darin. Plötzlich konnte Lorcan den Blick nicht davon abwenden.
»Vater, der König wartet nicht. Das weißt du. Er ist längst fortgegangen, wer weiß, wohin. Was ihr beide zu besprechen habt, spielt keine Rolle – er wird dich jetzt stundenlang mit Nichtachtung strafen, nur um dir zu zeigen, wer der Herr im Hause ist. Iss etwas. Razi hat gesagt, du musst ordentlich essen.«
Wieder wurde Lorcans Blick von dem Tablett angezogen. Beim Anblick des Kaffees, den er fünf lange Jahre nicht einmal gerochen hatte, musste er schlucken. Wynter hatte Sahne und Zucker eingerührt und goss nun zwei große Schalen damit voll. Betont langsam schob sie eine davon auf seine Seite des Tisches und nahm dann einen großen Schluck aus der anderen. Lorcan betrachtete den Kaffee, dann das locker gebackene Brot, die würzigen Lammwürstchen, die gekochten Eier mit Salz, das aufgeschnittene, frische Obst. Wieder schluckte er, und Wynter konnte beinahe hören, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
»Nur einen Happen«, gab er nach, ließ den Stiefel fallen und setzte sich.
So machten sie sich über das Essen her, kauten schweigend, gleichmäßig und voller Glück. Am Ende waren nur mehr Krümel und eine halbe Schale sahniger Kaffee übrig.
Mit einem zufriedenen Seufzen schob Lorcan seinen Stuhl zurück. »Gott«, brummte er, »das war ausgezeichnet.«
Wynter lachte. So rosig und satt hatte sie ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Er lachte ebenfalls fröhlich, endlich wieder ganz der Alte. Die Sonne verwandelte seine lebhaften Augen in Smaragde. »Ach, mein Mädchen«, sagte er liebevoll. »Du bist wie Medizin.« Und dann grinsten sie einander über den verwüsteten Frühstückstisch hinweg an.
Doch schon nach wenigen Augenblicken straffte Lorcan die Schultern und wurde wieder ernst. »Wynter, Jonathon hat mir meine Konzession angeboten.«
Ihr Herz machte einen Satz. »Das ist ja herrlich!« Sie legte den Kopf schief, wartete auf sein Lächeln. Warum freute er sich nicht? »Mit welchen Einschränkungen?«, setzte sie hinzu. Seiner verhaltenen Reaktion nach mussten es sehr viele Einschränkungen sein.
»Überhaupt keine, mein Liebes. Alle Anstellungen, alle Arbeiten, alle Provinzen, alle Städte.«
»Mein Gott, Vater! Ich … das ist ja … Ha!« Sie lachte und breitete die Arme aus. »Das ist ja unfassbar!« Jonathon hatte ihm soeben den Freibrief ausgestellt, eine Werkstatt zu gründen, wo immer er wollte, jedes beliebige Personal zu beschäftigen, jeden Auftrag anzunehmen, der ihm behagte. Noch nie hatte sie von einer so uneingeschränkten Handwerkskonzession gehört; Lorcan hätte entzückt sein müssen. Doch in seinem Blick lag sanfte Traurigkeit.
»Sie ist erblich, Wynter. Sie ist auf ewig vererbbar. Du darfst sie weiterführen. Niemand kann uns das jemals wieder wegnehmen.«
Sie ließ die Arme sinken. »Oh, Vater.«
Seine Augen waren riesig und glitzerten im Sonnenlicht.
Wynter legte die Hände auf den Tisch, ihr war plötzlich eiskalt. Sie hatte begriffen. »Er möchte, dass du Albis Enterbung unterstützt. Er will, dass du dich öffentlich für das Mortuus in vita aussprichst?«
Lorcan nickte.
»Das darfst du nicht, Vater. Das darfst du nicht. Bitte sag mir, dass du …«
»Er hat die Konzessionspapiere, Wyn. Er hielt sie mir so nah …« Lorcan hob die Faust und betrachtete sie, als wäre sie etwas Abscheuliches, Ekelerregendes. »So nah hielt er sie mir vor die Nase.«
»Vater.« Sie streckte die Hand aus, und er blickte sie an, als wäre sie drauf und dran, ihm das Herz zu brechen. »Es geht um Albi. Um Alberon
»Ich weiß«, flüsterte er. »Aber es geht auch um dich, mein Liebling. Um dich und darum, was geschieht, wenn ich einmal nicht mehr bin.« Den Rest verschwieg er. Ich werde schon bald nicht mehr sein. Dann bist du ganz allein. Das ist alles, was ich dir geben kann.
Das Sonnenlicht, das sich in seinen Augen spiegelte, flackerte, als ein Schatten Lorcans Aufmerksamkeit auf das Fenster lenkte. Dann verdunkelte ein weiterer Schatten kurz sein Gesicht. Er stand auf, um aus dem Fenster zu sehen.
»Gott steh uns bei!« Überraschung und Verwunderung lagen in seiner Stimme, und als ihm die volle Bedeutung dessen, was er sah, bewusst wurde, sagte er noch einmal: »Gott steh uns bei«, doch dieses Mal leise und hoffnungslos.
Wynter wusste, was er meinte, sie hörte das Trippeln und Rasseln auf den roten Dachziegeln und hatte umsonst gehofft, es würde ihm entgehen. Raben. Raben versammelten sich.
Lorcan trat ans Fensterbrett und lehnte sich weit hinaus, eine Hand am oberen Rahmen abgestützt. Einen Augenblick konnte Wynter nur seine langen Beine sehen, dann hörte sie ihn fluchen, und er huschte zurück, kalkweiß im Gesicht.
»Das Verlies?« Es war keine Frage.
»Das Verlies«, bestätigte er, ohne sie anzusehen. Im Vorbeigehen legte er ihr eine Hand auf den Kopf. »Mach dich zur Arbeit bereit«, sagte er, ging in sein Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Es dauerte ein wenig, bis Wynter hörte, wie er sich anzog.
Raben über dem Verlies. Das konnte nur eines bedeuten.
Jonathon hatte den Leichnam des Gefangenen öffentlich aufspießen lassen. Eine zerstörte, blutige, rachgierige Flagge über dem Palast – die erste ihrer Art, seit Jonathon den Thron bestiegen hatte.
Rasch barg Wynter das Gesicht in den Händen, drückte die Finger gegen die Augen, schob unwillkommene Bilder zurück in dunkle Kammern und verriegelte Türen. Dann stand sie auf und ging, um sich ankleiden. Das Frühstücksgeschirr überließ sie in der sengenden Hitze den Schmeißfliegen.
Sie zog ihre grobe Arbeitskluft an und band die Haare zu einem festen Zopf. Als sie wieder aus ihrem Zimmer trat, die Werkzeugrolle auf der Schulter, wartete Lorcan bereits im Vorraum. Er trug sein Arbeitsgerät auf dem Rücken, die Sonne funkelte in seinem geflochtenen Haar. Beide schwiegen eisern. Wynter wusste immer noch nicht, wohin sie gingen oder was sie zu tun hatten, und sie unterließ es, ihren Vater nach Einzelheiten zu fragen. Manchmal machten Worte alles nur noch schlimmer.
Nun wandte er sich ihr zu und musterte sie prüfend von Kopf bis Fuß, nickte anerkennend und fragte: »Bist du bereit?«
»Ja.«
Traurig lächelte er sie an. »Also gut, mein Liebling.«
Damit richtete er sich kerzengerade auf, drückte den Rücken durch und hob den Kopf. Wynters Vater verschwand hinter einer eisigen Miene und undurchdringlichen Augen, und zum Vorschein kam der Hohe Protektor Lorcan Moorehawke. Ohne sie noch einmal eines Blickes zu würdigen, rauschte er in den Gang hinaus – Meister und Lehrling unterwegs im Auftrag Seiner Majestät.
Eigentlich hätte es ein ruhiger Mittag im Hochsommer sein sollen, doch in den Fluren herrschte rege Geschäftigkeit. Männer mit verbissenen Gesichtern und gesenkten Blicken hasteten durch die Gänge wie fleißige Ameisen. Sie schleppten große und kleine Gemälde, deren Vorderseiten mit Tüchern verhüllt waren, trugen Statuen und Papierstapel. Alle hatten das gleiche Ziel: den Garten.
Gehorsam trottete Wynter hinter ihrem Vater her und tat, als bemerkte sie nichts. Doch sie sah die verkniffenen Mienen der Männer. Sie sah die Pagen und Dienstmädchen verstohlene Worte wechseln, wenn sie einander begegneten. Sie sah die hinter dem Rücken ihres Vaters wachsende Spannung.
Dann stolperten zwei Männer am Absatz einer kurzen Treppe, und das riesige Bild, das sie trugen, rutschte ihnen aus den Händen. Als sie es mühsam wieder auf die Schultern hievten, glitt die Abdeckung herab, und das Bild wurde enthüllt.
Wynter blieb wie angewurzelt stehen.
Es war ihr Lieblingsbild, das aus Jonathons Gemächern. Das, welches den Ehrenplatz über dem Kamin eingenommen hatte: Alberon, Razi und sie selbst im Garten, lächelnd und voller Glück.
Erinnerungen überfluteten Wynter.
Sie dachte daran, wie sie früher unter dem runden Tisch gelegen und den Gesprächen Olivers, Jonathons und ihres Vaters gelauscht hatte. Oft hatte sie mit den Beinen gezappelt und durch die Quasten des Tischtuchs hindurch das Bild angesehen. Und immer wieder war sie erstaunt gewesen, wie gut sie drei darauf getroffen waren. Wie ungewöhnlich genau ihr wahres Ich abgebildet war.
Razi stand mit einem Buch in der Hand an eine Baumwurzel gelehnt und betrachtete Albi und Wynter, die zu seinen Füßen im Gras saßen. Albi hielt Shubbit, seinen heiß geliebten Spaniel, im Arm, und Wynters Augen waren auf den Betrachter gerichtet, den Blick voll wacher Neugier. Sie sahen so glücklich aus, wie eine richtige Familie. Echte Geschwister. Sie und Albi mussten zu der Zeit etwa sechs Jahre alt gewesen sein, Razi zehn.
Die beiden Diener richteten das Bild wieder auf und trugen es die Stufen hinunter.
Lorcans Hand auf ihrer Schulter holte Wynter in die Gegenwart zurück. Seine Miene war wachsam, während er den Männern mit dem Bild nachsah und drei glückliche Kindergesichter in der Düsternis der Treppe verschwanden.
Jäh schlug er den Weg über die Seitentreppe in den kleinen Rosengarten ein, und Wynter folgte. Mit schnellen Schritten steuerten sie auf die andere Seite des Schlosses zu. In der Luft lag der Geruch von Feuer, dichter Rauch wehte von irgendwo hinter den Mauern durch den Garten. Als sie um den Teich herumliefen, erhaschte Wynter einen Blick auf die Prozession aus Dienern, die ihre Pakete und Bündel hinter das Gebäude trugen, auf die Quelle des Rauchs, auf das Feuer zu. Eine Reihe anderer Männer war mit leeren Händen in umgekehrter Richtung unterwegs, Rauch im Haar, Anspannung im Blick.
Lorcan erklomm die Granitstufen auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens und folgte einem schwarz-weiß gefliesten Gang. Unversehens erkannte Wynter sein Ziel und erschrak. Oh, nein, dachte sie, nicht die Bibliothek. Die Werkzeugrolle auf ihrer Schulter war plötzlich unheilverkündend schwer.
Lorcan öffnete die Tür, und da lag sie vor ihnen, genauso, wie Wynter sie in Erinnerung hatte – mit ihrem unvergänglichen Duft nach Holz und Fußbodenwachs und sonnengedörrtem Staub.
Jonathon hatte sie zu seinem Lebenswerk gemacht. Zu einer Zeit, als Bücher überall verbrannt, beschlagnahmt, geächtet oder verboten wurden, hatte er mit Leidenschaft Folianten und Schriften aller Art gesammelt, und er sammelte sie in allen Sprachen, allen Glaubensrichtungen, allen philosophischen Lehrmeinungen, die die Menschheit kannte. Zahllose Werke der Wissenschaft und medizinischen Forschung hatte er vor den Kreuzzügen, Ausschreitungen und Säuberungen gerettet, die sich ihren zerstörerischen Weg durch die Königreiche um ihn herum gebahnt hatten. Und er hatte seine Bibliothek jedem zugänglich gemacht, der willens war, einen anständigen Schreiber mit Abschriften zu beauftragen.
In diesem gigantischen Raum konnte man sich dem ungeheuren Ausmaß des Vorhabens, der Größe von Jonathons Vision nicht entziehen. Es war das Wunder der Europas – vielleicht sogar der Welt: ein hell strahlendes Licht in der zunehmend schwarzen Ödnis der Unwissenheit, die der Bevölkerung anderer Königreiche aufgezwungen wurde.
Wynter verharrte im Türrahmen und beobachtete ihren Vater, der in der Mitte des Raums stehen blieb. Behutsam legte er seine Werkzeugrolle auf dem Boden ab und sah sich eingehend um. Wynter hörte ein Knacken in seiner Kehle, dann hoben und senkten sich seine Schultern in einem tiefen Seufzen.
Nicht die Bücher betrachtete er – obwohl sie an sich schon atemberaubend waren -, sondern die Regale, die Wandtäfelung, die kunstvoll geschnitzten Deckenbalken. Dreizehn Jahre seines Lebens hatte Lorcan diesem Raum gewidmet. Dreizehn lange Jahre hatte er das harte rote Holz, das nun in der Mittagssonne leuchtete, geschnitzt, geschmirgelt und poliert.
Am anderen Ende des Raums befand sich die Holztafel, an der er gearbeitet hatte, als Jonathon ihn gen Norden sandte. Der Rahmen war bereits in allen Einzelheiten vorgezeichnet, doch weniger als ein Drittel war fertig geschnitzt. Die Tafel zeigte Jonathon, Oliver und Lorcan auf dem Waldpfad. Ihre Hunde strichen ihnen um die Beine, die Bögen hatten sie über die Schultern geschlungen. Razi stand bei ihnen, und Wynter und Alberon winkten ihnen von der Treppe aus. Zu Füßen der beiden Kinder räkelten sich einige der vielen Katzen, die sich damals in Wynters Obhut befunden hatten – jede an ihrer typischen Haltung, ihrer ganz persönlichen Eigenheit unzweifelhaft zu erkennen. Wie alle Schnitzarbeiten hier war das Motiv unverwechselbar Lorcans Werk, warm und anheimelnd, ohne die steife Förmlichkeit der üblichen Palastkunst. Es schmerzte Wynter, sie zu sehen; sie kündete von vergangenen Zeiten, die für immer verloren waren.
Die Jahre ihrer Kindheit waren hier dokumentiert, verewigt durch Lorcans außergewöhnliche Begabung im Umgang mit Holz. Oft hatte er die Schnitzereien auf Jonathons ausdrücklichen Wunsch hin angefertigt, häufig auch aus eigenem Antrieb und mit Jonathons Segen, und so fanden sich die Geburten und das Heranwachsen der Palastkinder hier, dargestellt und vollendet von Meisterhand. Es gab auch unzählige von Jonathon gedichtete Verse, die Lorcan in die Wände geschnitzt hatte, damit die Kinder nie vergaßen, wann Razi zum ersten Mal geritten, wann Alberon seinen ersten Fisch gefangen, wann Wynter sich beim Sturz von einem Baum den Arm gebrochen hatte. Ihre gesamten frühen Jahre waren hier versammelt – ein dauerhaftes, unübersehbares Zeugnis der Vergangenheit.
Auch das tiefe Gefühl von Brüderlichkeit und glücklicher Kameradschaft, das ihn selbst mit Oliver und Jonathon verband, hatte Lorcan in Vollkommenheit eingefangen. Überall gab es Bilder von Alberon und Oliver, ihre Namen in zahllose Gedenktafeln graviert, ihre Insignien in Fantasiewappen gekerbt. Und nun verstand Wynter plötzlich, verstand voll und ganz, warum ihr Vater hier war, begriff das Ausmaß des Opfers, das Jonathon als Gegenleistung für ihre Zukunft verlangt hatte.
Schroff fragte Lorcan, immer noch mit dem Rücken zu ihr: »Du weißt, was wir zu tun haben?«
»Ja«, flüsterte sie kaum vernehmlich.
Ihr Vater räusperte sich und hob seine Werkzeugrolle auf. »Du beginnst mit den Bücherregalen. Ich nehme mir die Wandtäfelung vor.« Damit marschierte er los.
Wynter rührte sich nicht vom Fleck. Wie gelähmt sah sie zu, wie ihr Vater eine grobe Feile aus seiner Rolle zog. Er stellte sich vor die große Holztafel, hielt kurz inne und betrachtete sie. Dann begann er sorgfältig und mit größter Genauigkeit, Alberon aus dem Bild zu entfernen.
Beim schabenden Geräusch von Lorcans Feile auf dem Holz löste sich Wynter endlich aus ihrer Starre und trat vor eines der kleineren Regale in der hinteren Ecke. Sorgsam wählte sie ihren Anfangspunkt, bückte sich, entrollte das Werkzeug. Sie suchte eine Feile aus, warf einen letzten Blick auf das Kunstwerk und wandte sich dann ihrer Arbeit zu. Ihr Kopf und ihre Miene waren so leer wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.
Moorehawke 01 - Schattenpfade
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