Druckmittel
Schwerfällig ließ sich Lorcan auf die
Bettkante sinken und bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Jonathon
trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, murmelte dann etwas
von Razi und ging.
Wynter schloss die Tür hinter ihm, um die
neugierigen Blicke der Wachen auszusperren. Kurz lehnte sie sich
mit geschlossenen Augen an das Holz, in ihrem Kopf drehte sich
alles. Dann ging sie zu ihrem Vater.
Lorcan versuchte gerade, die Knöpfe an seinem Hemd
zu öffnen, und scheiterte dabei kläglich. Wynter schob seine Hände
beiseite, und einen Moment lang saß er sogar still, während sie
vier oder fünf der winzigen Knochenplättchen aufknöpfte. Plötzlich
schlug er ihre Hände weg und drückte sie mit flammend roten Wangen
von sich fort.
»Vater!«, protestierte sie. »Sei nicht
töricht!«
»Ich bin doch kein Krüppel!«, schimpfte er. »Und
ich will dich nicht als Kindermädchen.«
»Sei vernünftig. Wer außer mir soll dir denn zur
Hand gehen? Lass mich dir helfen.«
»Nein!« Er schubste sie fort und zerrte sich das
Hemd einfach über den Kopf, zahllose Knöpfe platzten ab, schwirrten
durch die Luft, sprangen über den Fußboden. Aufgebracht warf Wynter
die Arme hoch. »Na prächtig! Ganz wunderbar!
Du bist ein störrischer alter Esel! Du könntest mal einen
anständigen Tritt gebrauchen.«
Lorcan erwiderte nichts. Er ließ das Hemd zu Boden
fallen und sank aufs Bett.
Ihm fehlte die Kraft, die Beine auf die Matratze zu
heben, stellte Wynter mit jähem Mitleid fest. Also half sie ihm,
und er drehte sich auf den Rücken.
Danach wollte sie ihm die Stiefel abstreifen, doch
er zog die Beine weg.
»Jonathon kann das machen«, seufzte er, verlagerte
sein Gewicht und biss die Zähne zusammen, als ihn erneut ein
Schmerzensstich durchzuckte.
Einen Moment lang stand Wynter nutzlos herum und
beobachtete ihn, dann schlich sie leise Richtung Tür.
Lorcans Atmung wurde plötzlich ganz tief und
unnatürlich. Sie biss sich auf die Lippe und flüchtete in den
Empfangsraum, um Razi entgegenzulaufen und ihn an den Haaren
herbeizuzerren.
Doch er war bereits da, die Arzttasche in der Hand,
seinen Vater auf den Fersen. Unter den wachsamen Blicken der
Soldaten nickte Razi Wynter nur höflich zu, doch seine Augen
blickten weich und beruhigend. Er legte ihr die Hand auf die
Schulter und führte sie zurück in ihre Gemächer. Als Letzter trat
der König ein.
»Komm mit, Schwester«, sagte Razi, marschierte in
Lorcans Kammer und schlug dem besorgten König die Tür vor der Nase
zu.
Ohne zu zögern, zog Razi Lorcan die Stiefel aus und
reichte sie Wynter, die sich in der Zimmerecke zu schaffen machte,
während Razi ihren Vater von den restlichen Kleidern befreite und
ihn untersuchte. Endlich hörte sie ihn die Bettdecke hochziehen und
murmeln, sie könne sich wieder umdrehen.
Erstaunt stellte sie fest, dass Lorcan wach war; er
lag auf der Seite und sah Razi mit schweren Augenlidern dabei zu,
wie er in einem Becher eine Tinktur mit Wasser mischte. Auch Razi
wirkte überrascht, als er sich hinunterbeugte, um einige Phiolen in
seiner Tasche zu verstauen, und Lorcans grüne Augen offen und klar
auf sich ruhen sah. Er kniete sich neben das Bett, das Gesicht auf
einer Höhe mit dem ihres Vaters.
»So«, sagte er sanft. »Ihr habt Euch überhaupt
nicht ausgeruht, oder?«
Lorcan lächelte nur, worauf Razi den Kopf
schüttelte und dem großen Mann die Schulter tätschelte. »Ich habe
Euch einen Schlaftrunk gemischt. Er ist viel stärker als der letzte
und wird Euren Körper zwingen, sich die Ruhe zu nehmen, die er
benötigt, und Ihr …«
»Nein.«
Bei Lorcans heftiger Antwort verzog Razi die Lippen
und setzte sich auf die Fersen. »Lorcan …«, begann er streng.
»Nein, Herr! Ich kann Euren Trunk nicht einnehmen.
Und Razi … es tut mir so leid …« In dieser schlichten
Entschuldigung lag ein so tiefer Ernst, dass Razi erstarrte; seine
Augen wurden riesig, als machte er sich auf das Schlimmste
gefasst.
»Was denn, mein lieber Freund?«
»Heute Abend. Das Bankett. Ich muss teilnehmen
…«
Razi sah aus, als hätte man ihm einen Schlag
versetzt, und auch Wynter trat bestürzt aus der Zimmerecke. Sie
wollte schon sagen: Das kannst du nicht! Dazu fehlt dir die
Kraft!, da begriff sie erst die volle Bedeutung seiner Worte.
Ihr Vater meinte, dass er seine Unterstützung – seine öffentliche
Unterstützung – demonstrieren musste. Vor aller Augen wollte er
sich zum König bekennen, und auch zu seiner furchtbaren
Entscheidung, Razi auf den Thron zu setzen.
»Bitte!« Lorcans Stimme klang krächzend,
eindringlich, und er bewegte die Hand, wie um sie nach Razi
auszustrecken. »Ich bitte Euch, ich flehe Euch an. Vergebt Ihr
mir?«
Razi schloss die Augen. Wynter befürchtete, er
würde sich von ihrem Vater abwenden, und sie sah Lorcan an, dass er
das Gleiche dachte.
»Ich weiß«, sagte Razi mit gesenktem Kopf, »dass
Ihr ein guter Freund seid, Lorcan. Ihr wart immer ein sehr …« Die
Stimme versagte ihm. Plötzlich nahm er die Hand des älteren Mannes
und drückte sie fest. Als Razi die Augen wieder aufschlug, glänzten
sie. »Er hat uns beide in der Hand, mein Lieber. Nicht wahr?«
Rasch warf Lorcan Wynter einen Seitenblick zu, und
auch Razi wandte ihr sein Gesicht zu. Sie schüttelte den Kopf. O
nein, dachte sie. Nein. Das kannst du nicht auf mich
abwälzen! Ich kann meinen eigenen Weg gehen. Für mich musst du
Alberon nicht verraten! Gib nicht mir die Schuld!
»Auch ich wurde heute gezwungen, einen solchen
Handel einzugehen.« Obwohl er Wynter anstarrte, schien Razi sie gar
nicht richtig zu sehen.
»Euer Freund«, flüsterte Lorcan. »Wie geht es
ihm?«
Razis Augen waren jetzt riesengroß und nass. Er
legte den Kopf schräg, atmete vernehmlich durch die Nase und biss
die Zähne zusammen, bis er sich wieder in der Gewalt hatte.
»Christopher ist im Verlies.« Einmal tätschelte er noch Lorcans
Hand, dann zog er seine fort. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen,
seit mein Vater versucht hat, ihn umzubringen, indem er seinen Kopf
gegen einen Baum schlug.« Damit stand er auf und sammelte seine
Gerätschaften zusammen.
»Jonathon wird ihn nicht töten«, sagte Lorcan.
»Nicht, wenn du tust, was …«
Mit unvermittelter Heftigkeit schleuderte Razi eine
Phiole
in seine Tasche und hämmerte mit beiden Händen auf den Tisch.
»Wenn er ihn noch einmal anfasst! Wenn er auch nur …«
»Sch-sch«, zischte Lorcan.
Razi funkelte ihn wütend an.
»Schschsch«, machte Lorcan wieder, dieses Mal noch
gedämpfter, und Razi fügte sich.
»Vater kann kein weiteres Festmahl durchstehen,
Razi«, mahnte Wynter leise.
Keiner der beiden Männer sah sie an; vielmehr
blickten sie einander in die Augen – von Grün zu Braun -, wohl
wissend, was auf dem Spiel stand. Wohl wissend, dass Wynter Recht
hatte.
»Wartet einen Augenblick«, sagte Razi. Schnell lief
er an Wynter vorbei und drückte die Klinke nieder, als erwartete
er, seinen Vater vors Schlüsselloch gekauert vorzufinden. Doch
Jonathon saß in der hinteren Ecke des Gemeinschaftsraums.
Erwartungsvoll erhob er sich. Razi schloss die Tür hinter sich und
ließ Wynter fiebernd vor Neugier zurück.
Sie schielte zu ihrem Vater – sie schämte sich, in
seiner Gegenwart zu lauschen, doch zu ihrem Erstaunen ermunterte er
sie mit einer schwachen Handbewegung. Eilig lief sie und presste
das Ohr an die Tür.
Gerade rief Jonathon aufgebracht: »Wir sind alle
müde, Junge!«
»Nein, Vater! Nicht müde! Verdammt noch mal
nicht müde. Warum hörst du mir nicht zu? Der arme Mann ist
erschöpft. Er ist vollkommen ausgelaugt. Begreifst du denn nicht?
Seine Kraft reicht kaum noch aus, um sein Herz weiterschlagen zu
lassen. Er …«
»Aber ich kann das Bankett nicht absagen. Alles ist
arrangiert.«
»Was reden sie?«, murmelte Lorcan vom Bett her, und
Wynter berichtete flüsternd.
»Ich brauche Lorcan an meiner Seite!« Der König
tigerte offenbar auf und ab, seine Stimme klang mal leiser, mal
lauter. »Ich brauche ihn in der Öffentlichkeit. Man muss ihn sehen.
Die Menschen lieben ihn. Wenn sie davon überzeugt sind, dass er
mich unterstützt …«
»Wenn du darauf bestehst, den kranken Mann heute
Abend so, wie er jetzt aussieht, in den Bankettsaal zu schicken,
dann werden sie überzeugt sein, dass du ihn mit Schlägen zum
Gehorsam gezwungen oder ihn gar vergiftet hast. Er ist nicht
gesund. Er wird sich selbst Schande bereiten und die
Menschen gegen dich aufbringen.«
Wynter gab alles getreulich an ihren Vater weiter,
obgleich sie bei den Worten »sich selbst Schande bereiten« ins
Stocken geriet und Lorcan unsicher anblickte. Doch der lauschte nur
wortlos, den Arm wieder über die Augen gelegt. Was sie von seinem
Gesicht erkennen konnte, blieb ausdruckslos.
Jenseits der Tür entstand eine Stille, und Wynter
hoffte, dass Razi endlich ein Argument gefunden hatte, das dem
König einleuchtete.
»Vater«, fragte Razi nun vorsichtig. »Warum tust du
das?« Er sprach so leise, dass er kaum zu hören war. Wynter malte
sich aus, dass er argwöhnisch um den König herumschlich. Jonathon
selbst stellte sie sich mit gesenktem Kopf und knurrend wie ein
Ungeheuer vor, dem Rauch aus den Nasenlöchern dringt. Sie hielt den
Atem an.
»Was sagen sie?«, brummte ihr Vater wieder, und sie
klappte schon den Mund auf, um zu berichten, doch da sprach Razi
weiter, und sie drückte das Ohr erneut an das Holz der Tür.
»Was ist all das wert? Die Galgen. Die
Unterdrückung. Inquisitoren. Herrgott nochmal! Du warst nie
grausam, Vater,
und jetzt scheint es, als wolltest du alles und jeden opfern … und
niemand weiß, warum …«
So leise sie konnte, berichtete Wynter alles, dann
hielt sie inne, während Razi auf eine Antwort wartete.
Lorcan hob matt den Arm, seine Augen waren nur mehr
glänzende Schlitze. »Hat er schon etwas gesagt?«, fragte er
flüsternd.
Sie schüttelte den Kopf. Im Nebenraum war es völlig
still. Dann war es wieder Razi, der das Wort ergriff. »Wo ist mein
Bruder? Wo ist Alberon?« Als immer noch keine Entgegnung vom König
kam, wurde Razis Stimme fordernder, härter. »Was ist die
Blutmaschine?«
»Er hat gefragt, was die Blutmaschine ist.«
Lorcan stieß einen Schrei aus, der Wynter so
erschreckte, dass sie herumschnellte und ihren Vater anstarrte.
Gleichzeitig brüllte Jonathon im Zimmer nebenan ähnlich laut und
entsetzt.
»NEIN!« Lorcan umklammerte die Bettdecke mit seinen
riesigen Tischlerfäusten und stierte Wynter mit weit aufgerissenen
Augen an. »NEIN!« Mühsam stützte er sich auf die Ellbogen, das
Gesicht dunkelrot, völlig außer sich. »Hol ihn rein!«, rief er.
»Schaff ihn sofort hier herein!«
»Wen?«, fragte sie verwirrt.
»Den König! Den verdammten König!«
Als Wynter die Tür aufriss, standen Razi und
Jonathon am anderen Ende des Raums und sahen einander erschrocken
an. Der König wirkte aufs Äußerste bestürzt. »Eure Majestät …«,
begann Wynter zaghaft, doch da hörte man Lorcan schon zornentbrannt
brüllen.
»Jonathon! Komm her, gottverflucht! Komm sofort
her!« Als Razi sah, wie Lorcan sich in wilder Anstrengung von der
Matratze hochstemmte, keuchte er entsetzt auf und eilte zu
ihm. Doch Lorcan scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort und
richtete seinen Blick an Razi vorbei auf den König. Der trat
misstrauisch vor, das Gesicht bleich, die Augen hohl.
»Du! Du …« Lorcan fehlten offenbar die Worte,
wütend presste er die Kiefer aufeinander. Jonathon sah ihn immer
noch unverwandt und mit undeutbarer Miene an.
»Vater«, flüsterte Wynter, aber sie war mit Razi
abgedrängt, an den Rand gefegt worden von diesem Wirbelsturm, der
viel tiefer, viel dunkler in die Vergangenheit reichte. Razi
streckte Wynter die Hand entgegen, und sie ergriff sie.
»Du hast es mir versprochen!«, knurrte Lorcan
wutschnaubend.
Jonathon neigte den Kopf zur Seite, als könnte er
so den stiebenden Funken von Lorcans Zorn ausweichen.
Unvermittelt verließen Lorcan plötzlich die Kräfte,
er ließ sich auf die Seite fallen, seine Lippen waren fast weiß.
»Du hast es versprochen!«
Jonathon trat ans Bett und betrachtete seinen
Freund, der aussah wie eine zornige Leiche. Lorcans Augen
glitzerten vor Wut, und er wich dem Blick des Königs nicht aus.
Erst jetzt schlich sich zögerlich eine Erkenntnis in seine
Miene.
»Mein Gott! Das war immer schon dein Plan, ist es
nicht so? Deshalb hast du mich fortgeschickt! Es ging nicht
um die Verhandlungen mit den Nordländern. Es ging nicht darum, das
Pfand für diesen Hurensohn Shirken zu spielen. Sondern darum, dass
ich dir nicht im Wege sein sollte … Es war … Aaaah!« Lorcan hielt
sich die Fäuste vor das Gesicht und stieß einen gedehnten Klagelaut
aus. »Und Alberon hast du mit hineingezogen. Deinen wunderbaren,
strahlenden Jungen! Und Oliver! Oliver! Oh, du Bastard! Oh,
Jonathon, du elender Bastard!«
»Du hast sie gebaut!«, fauchte Jonathon
vorwurfsvoll. Seine
Hände waren jetzt ebenfalls zu Fäusten geballt, die Schultern
gebeugt, er ragte über dem liegenden Mann auf wie eine Felswand,
die jeden Augenblick einstürzen konnte. »Du hast sie gebaut, du
Heuchler! Komm mir jetzt nicht …«
»Ich war siebzehn!«, donnerte Lorcan.
»Und du hast es versprochen! Nach dem ersten Mal hast du
einen Eid geleistet!«
»Die Lage hier wurde verzweifelt, Lorcan, du hast
ja keine Ahnung.«
»So verzweifelt kann keine Lage sein!«, fauchte
Lorcan. Seine Wangen waren feucht vor Tränen – so hatte Wynter
ihren Vater noch niemals gesehen. Sie quetschte Razis Hand so fest,
dass sie die Knochen unter der Haut spüren konnte. Es war, als
wären sie Zeugen eines Zweikampfs – einer ungestümen, mörderischen
Schlacht, bei der sich Lorcan und Jonathon Löcher in die Rüstungen
rissen und dabei eine tiefe Finsternis enthüllten.
Jetzt erst schien Lorcan zu bemerken, dass sie und
Razi am Fußende des Bettes dicht aneinandergedrängt standen und
alles mit verängstigten Kindergesichtern verfolgten.
»Schaff sie raus«, zischte er. »Schaff sie
schleunigst hier raus.«
Entgeistert wandte sich Jonathon zu ihnen um, als
hätte auch er vergessen, dass sie noch da waren. »Raus!«, schrie
er. »Raus hier!«
Wynter spürte, dass sich Razi widersetzen wollte.
Immer noch hielt er ihre Hand fest umklammert, schob sich aber
leicht nach vorn, so dass sie hinter ihm stand. Er sagte kein Wort,
doch der König musste den Trotz von seiner Miene abgelesen haben,
denn er zog die Lippe hoch, und seine Kieferknochen traten
hervor.
Wenn er Razi jetzt schlägt, dachte Wynter,
dann schlägt Razi zurück. Dann hält er nicht mehr an sich. Und
dann wird sich
der König eine Woche lang nicht mehr an seinen eigenen Namen
erinnern.
Sie glaubte nicht, dass Jonathon eine Vorstellung
davon hatte, wie viel rohe Kraft sich in Razis sehnigem Körper
verbarg.
»Raus mit euch!« Lorcan wedelte wild mit den Armen.
»Raus!«
»Bitte, Razi.« Beunruhigt zupfte Wynter an seiner
Hand, den Blick auf Lorcans furchtbare Gesichtsfarbe geheftet, auf
seine zitternden Fäuste.
Razi folgte ihrem Blick. »Lorcan …«, flüsterte er
hoffnungslos.
»RAUS JETZT!«, brüllten beide Männer wie aus einem
Mund, und ihre Kinder flüchteten eilig aus dem Zimmer. Jonathon
schubste sie hinaus in den Gang und warf donnernd die Tür zu. Einen
winzigen Moment später hörten sie erneut Gebrüll aus Lorcans
Kammer, als die beiden wieder aufeinander losgingen.
Mit betont unbeteiligten Gesichtern beobachteten
die Wachen Razi und Wynter, ihre Speere blitzten im schräg
einfallenden Licht. Razi starrte die Tür an, seine Haltung war
angriffslustig, sein Atem ging rasch. Er konnte sich kaum noch
beherrschen.
Wynter betrachtete ihrerseits die Soldaten. Schon
nach dem Vorfall auf dem Hügel waren sie aufgebracht gewesen, und
das Gebrüll aus Lorcans Kammer reizte sie nun bis aufs Blut.
Wenn sich Razi dem König offen entgegenstellt...
Sie fühlte, wie er zitterte, wie die Wut in ihm
toste, als wäre sie ein reißender Fluss. Wenn er sich dem König
widersetzte, dann würden alle Dämme brechen, dann gäbe es nur noch
Gewalt. In seiner jetzigen Verfassung würde Razi zu Ende bringen,
was er angefangen hatte, und das wäre Hochverrat.
Er würde gehenkt, gestreckt, gevierteilt werden, ohne Gnade, ohne
Aufschub.
»Razi«, sagte sie leise und zog an seiner
Hand.
Zur Antwort grunzte er, löste die Hand aus ihrer
und streckte sie nach der Klinke aus.
Urplötzlich verstummte das Geschrei. Beide
erstarrten und überlegten fieberhaft, was wohl in dem nun
totenstillen Raum geschah. Wynter musste ein ängstliches Wimmern
unterdrücken. Vergeblich horchten sie auf irgendeinen Laut. Schon
hob Razi wieder die Hand an die Tür, da flog sie nach innen auf,
und Jonathon stand vor ihnen, das Gesicht verzerrt.
»Hilf ihm«, sagte er.
Sofort rannte Razi am König vorbei, und Wynter
folgte.
»Ich habe ihn umgebracht, nicht wahr? Er ist tot!«
Die Furcht und Reue in Jonathons Stimme hätten Wynter sprachlos
gemacht, hätte Lorcan nicht ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch
genommen.
»O Gott, Razi! Razi! Er ist tot!«
»Pst!« Razi hob eine Hand, und sie zwangen sich,
ganz still zu sein. Mit grimmiger Miene beugte er sich über Lorcan.
Dann wühlte er hastig in seiner Tasche und zog seinen kleinen
Holztrichter und einen Spiegel hervor.
»Sohn …«, begann Jonathon, doch Razi fuhr ihn an:
»Halt den Mund!«
Gefügig trat der König zurück, presste die Lippen
aufeinander und beobachtete mit Tränen in den Augen, wie Razi den
kleinen Spiegel über Lorcans leicht geöffneten Mund hielt.
Eingehend und mit gerunzelter Stirn überprüfte Razi
den Spiegel. Dann setzte er den Trichter auf Lorcans Brustkorb und
lauschte. Wynter klammerte sich an das Brett am Fußende
des Bettes und hielt den Atem an. Sie riss sich zusammen, so als
könnte sie, wenn sie nur leise und regungslos genug blieb,
ebenfalls hören, was Razi aufzuspüren suchte.
Lorcan war unbeweglich wie ein Felsbrocken. Seine
Wimpern, seine Augenbrauen und die zarten Bartstoppeln auf den
unrasierten Wangen schimmerten im Sonnenschein, der durch das
Fenster fiel. Sie verliehen seinem starren Gesicht eine helle,
feurige Illusion von Leben. Doch sein mächtiger Brustkorb hob sich
nicht, seine großen Hände – schwer wie Marmorskulpturen – lagen
still auf dem weißen Laken.
Vater, oh, Vater, wach auf!
Nun warf Razi den Trichter beiseite, beugte sich
erneut über Lorcan und legte ihm das Ohr auf das Herz. An seinem
gleichmäßig zuckenden Kiefer konnte man erkennen, dass er mit den
Zähnen knirschte. Seine Miene wurde immer verzweifelter.
Dann, ohne jede Vorwarnung, richtete er sich auf,
hob die Faust hoch über den Kopf und ließ sie in einem brutalen
Schlag mitten auf Lorcans Brust herabsausen. Jonathon machte einen
Satz und schrie auf, doch Razi beachtete ihn gar nicht, sondern
beugte sich wieder hinunter und horchte. Wynter schluchzte auf, als
sie Razis Gesicht beobachtete. Er holte erneut aus, hämmerte seine
Faust auf Lorcans Rippen und stieß dabei ein lautes Brüllen aus,
als beschimpfe er ihn.
Das Gesicht zur Grimasse verzerrt, drückte er
wieder sein Ohr auf den massigen Brustkorb. Wynter und Jonathon
trauten sich nicht, auch nur zu atmen. Da rutschte Razi
unvermittelt etwas höher und hielt ein Auge über Lorcans Lippen.
Einen Moment lang verharrte er dort, dann sah Wynter seine Lider
flattern und ein winziges Lächeln an seinen Mundwinkeln
zupfen.
»So ist es gut …«, flüsterte er und legte seine
Stirn auf die
ihres Vaters. Seine Hand hob sich sanft, als Lorcan einen flachen
Atemzug tat. Wynter sah nichts mehr, Tränen nahmen ihr die Sicht.
Sie hörte nur, wie Razi noch einmal So ist es gut murmelte.
Dann wandte er sich sehr ruhig und bedächtig seinen Phiolen und
Pulvern zu, und Wynter spürt, dass sie zu Boden sank.
»Bring sie in ihre Kammer«, hörte sie Razi wie aus
weiter Ferne sagen. »Die Füße müssen auf ein Kissen gebettet
werden.«
Undeutlich, als schliefe sie bereits, spürte
Wynter, wie der König sie auf seine Arme hob und sanft in ihr Bett
legte.
Sie hatte keine Träume.
»Wynter.«
Sie fühlte, dass sich jemand neben sie auf das Bett
setzte, und wusste sofort, dass es Razi war. Er streichelte ihr
über das Haar, und sie schlug die Augen auf. Das Licht war nicht
besonders hell; er hatte eine Kerze angezündet. Als sie an sich
hinuntersah, stellte sie fest, dass jemand ihr Stiefel und Gürtel
ausgezogen und sie zugedeckt hatte.
»Was ist geschehen?«
»Du bist vor Erschöpfung zusammengebrochen.«
»Ich meinte mit Vater, Razi. Was ist mit
Vater?«
»Lorcan geht es gut, Schwester. Sein Herz schlägt
gleichmäßig. Vor einer Weile kam er zu Bewusstsein, und Vater und
er hatten eine lange, ruhige Aussprache. Daraufhin hat Lorcan
eingewilligt, das Schlummermittel zu trinken. Er sollte bis morgen
Vormittag schlafen, dann sehen wir weiter.«
»Wird er sterben?«
»Es wäre möglich.« Sie schloss die Augen, und Razi
strich ihr wieder übers Haar. »Aber momentan ist er vor allem
erschöpft.
Wenn er meine Anweisungen befolgt, kann er noch gut und gern viele
Jahre leben. Es hängt nur davon ab, ob er Aufregung vermeidet und
sich ausruht.«
»Dann kann ich ebenso gut gleich Schwarz tragen,
denn das wird niemals passieren.«
Es war eigentlich kein Scherz, doch es klang so
trostlos und jämmerlich, dass sie beide glucksen mussten.
»Wie spät mag es wohl sein?« Wynter stützte sich
auf die Ellbogen und sah sich um.
Razi klopfte ihr nur zärtlich auf die Schulter.
»Ich muss jetzt gehen, Schwester. Setzt du dich zu ihm? Ich habe in
der Küche nach Essen und heißem Wasser für dich geschickt. Es
sollte bald eintreffen.«
Sie beäugte ihn. Er war in seinen langen, leuchtend
roten Umhang und eine schwarze Hose gekleidet, die Lederhandschuhe
hielt er in der Hand. Er geht zum Bankett, dachte sie mit
Bedauern. Es wurde trotz allem nicht abgesagt. Armer
Razi.
»Du trägst nicht den Purpur«, bemerkte sie
bedeutungsvoll. Vielleicht hatte der König ja doch
eingelenkt.
»Alberons Sachen müssen für mich umgearbeitet
werden«, gab er bitter zurück. Dann stand er abrupt auf und zog
unsanft seine Handschuhe über. »Mir wurde gesagt, dass die purpurne
Robe in den königlichen Gemächern für mich bereitliege. Aber jetzt
muss ich wirklich gehen. Pass auf dich auf.«
»Razi!« Sie glitt von der Bettkante, bestürzt, dass
er sie mit so knappen Abschiedsworten allein lassen wollte.
Überrascht blickte er über die Schulter, dann
veränderte sich seine Miene, und er stürmte zurück und schloss sie
fest in die Arme. »Verzeih«, wisperte er in ihr Haar. »Es tut mir
so leid, kleine Schwester. Ich bin im Moment so wütend, ich kann
überhaupt nicht mehr klar denken. Aber ich bin nicht wütend auf
dich – das weißt du doch?«
Sie rieb über seinen Rücken, versuchte, die
eisenharte Anspannung in seinen Schultern zu lindern. »Hast du
irgendwelche Nachrichten von Christopher?«, murmelte sie.
Er löste sich von ihr und wich ihrem Blick aus.
Wieder zupfte er an seinen Handschuhen. »Keine Nachrichten.«
Sie zögerte, dann legte sie beruhigend ihre Hände
auf seine. »Vielleicht könnte ich heute Nacht den Geheimgang
nehmen«, erbot sie sich. »Ich könnte nachsehen, ob …«
»Nein! Nein, Wynter. Versprich mir, dass du
das nicht tust.« Er umklammerte ihre Hand, Stimme und Gesicht
verzerrt vor Furcht und Besorgnis. »Versprich es mir!«
Sie grinste ihn an – ein mattes, verzagtes Grinsen.
»Du alte Glucke«, neckte sie ihn. Dann schlug sie ihm auf den Arm,
worauf er sich ein gequältes Lächeln abrang.
»Versprich es.« Er schüttelte sie sanft.
»Ich verspreche es.«
»Braves Mädchen. Bitte, verlass eure Gemächer
nicht. Und mach dir keine Sorgen um Lorcan. Er wird schon wieder.«
Zärtlich küsste er sie auf die Stirn. »Ich bin bald zurück.«
Und damit war er fort, die Tür zum Gang schlug
hinter ihm zu. Ein großer Wachtrupp heftete sich ihm geräuschvoll
an die Fersen, dicht gefolgt von Stille wie von einem Fluch.