Der erste Schritt
Der Wald brannte lichterloh, ein gleißendes, in
den Nachthimmel züngelndes Inferno. Funken und Sterne vermengten
sich in der Dunkelheit. Die großen Baumstämme zischten und
prasselten, das Holz barst in der Glut, und bei jedem lauten Knall
schrak Wynter zusammen. Es war ohrenbetäubend, die Hitze maßlos.
Das tiefe Pochen unsichtbarer Trommeln hallte in ihrer Brust wider.
Kräftige Männer und große Frauen bewegten sich ruhig vor dem
Hintergrund der flackernden Flammen.
Neben ihr stand Christopher. Er war nackt und
schmutzig, verblasste gelbliche Prellungen übersäten seinen Körper
wie die Flecken eines Leoparden. Seine Schlangen-Armreife waren
verschwunden. Er starrte in die Funken, die in den Himmel flogen,
um dort oben zwischen den Sternen zu sterben, und schwankte im Takt
der Trommeln, den Blick ins Leere gerichtet.
»Christopher!«, schrie sie, doch das Tosen des
Feuers verschluckte ihre Stimme.
Dennoch wandte er ihr sogleich das Antlitz zu, ein
lebloses Grinsen auf den Lippen.
»Wo ist Razi?«
Christopher deutete auf die dunklen Bäume hinter
sich, und Wynter sah Razi wie einen Betrunkenen auf sie zutaumeln.
Sein Blick war in die Flammen gerichtet, der Mund stand offen, das
Gesicht war überströmt von Tränen.
»Haltet sie auf!«, rief er, von Stamm zu Stamm
stolpernd, die Stimme verzweifelt gegen das Prasseln erhoben.
»Haltet sie auf!«
Immer schneller schlugen die Trommeln, der
feierliche Rhythmus wurde zu einer wild hämmernden Raserei.
Instinktiv drehte sich Wynter zu dem Flammenmeer um, von Entsetzen
erfüllt. Da raste ein dröhnender, gewaltiger Luftschwall heran, und
etwas Riesiges, Dunkles stürzte zu Boden. Die Erschütterung war so
heftig, dass Wynter in die Luft geworfen und in die Finsternis
jenseits des Feuerscheins geschleudert wurde.
Mit einem Ruck erwachte sie, und ihr erster Gedanke
war: Heute wird Razi es dem König sagen. Draußen dämmerte es
noch kaum, die Luft war kühl und feucht vom Dunst. Sie schüttelte
den bangen Traum ab – Lärm und Rauch, die entsetzliche Hitze, alles
verflüchtigte sich rasch in der frischen Morgenbrise. Nur Razis
Gesicht blieb haften, tränenüberströmt und erschrocken, flehend.
Träume werden nicht immer wahr, redete sie sich gut
zu.
Dann stand sie auf, wickelte sich in den Mantel
ihrer Mutter und lief auf Zehenspitzen in den Nebenraum, um nach
ihrem Vater zu sehen.
Lorcan schlief, Wynter konnte seinen gleichmäßigen
Atem in der Dunkelheit hören. Die Fensterläden waren geschlossen,
lediglich aus dem Kamin verbreitete das fast heruntergebrannte
Feuer einen schwachen Schimmer. So leise sie konnte zündete sie
eine Kerze in der schwachen Glut an und begann, Asche in einen
Eimer zu schaufeln.
Heute werde ich es Marni sagen, dachte
sie.
In der Mitte der Feuerstelle häufte sie die wenigen
noch
glühenden Kohlestückchen auf, schichtete Zunder darauf und blies
sachte, bis er aufflammte. Nach und nach legte sie Scheite auf, bis
ein fröhliches kleines Feuer im Kamin tanzte, das Lorcans Kammer
mit Licht erfüllte und mit der Wärme, von der er anscheinend nicht
genug bekommen konnte.
Das ist der erste Tag unseres
Abschieds.
Immer noch vor dem Kamin kniend, drehte sie sich zu
ihm um. Er wirkte friedlich und dem Schmerz entrückt, und sie
wünschte, es könnte auf ewig so bleiben.
In diesem Moment beginnt unsere Trennung,
dachte sie. Christopher, Razi und ich gehen fort. Bald wird er
allein sein. Wie kann ich das tun? Wie kann ich ihn allein
lassen?
Es wäre so wundervoll, wenn Lorcan einfach gesund
wieder aufwachen würde. Wenn er die kraftvollen Arme über dem Kopf
recken, grinsen und aus dem Bett springen könnte, wie er es früher
getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
Damals hatte er sie sich hoch auf seine Schultern
gesetzt und war vor dem Frühstück mit ihr über die Wiesen spaziert.
Dann hatte sie ihre rundlichen kleinen Fäuste um seinen Hals
verschränkt und sich an der aufgehenden Sonne erfreut, die auf dem
taubenetzten Gras glitzerte. Lorcans Haar war in dem hellen Licht
aufgeflammt, und Wynter hatte ihr Kinn auf seinem Kopf abgestützt
und das Leuchten genossen. Gemeinsam hatten sie die freie Luft
geatmet und nach Füchsen und scheuen Rehen Ausschau gehalten.
Ich liebe dich so sehr, Vater. Ihr Herz
krampfte sich zusammen.
Lorcan seufzte im Schlaf, seine Hände krümmten
sich, dann lagen sie wieder glatt auf der Decke.
Er verdiente so viel mehr als das. Er verdiente
Frieden und Kameradschaft. Er verdiente liebevolle Freunde um sich.
Er
verdiente eine behagliche, behütete Genesung in seinem eigenen
Heim. Das hier verdiente er nicht: überwacht, abgeschottet,
belagert, allein zu sein. Beständig bedrängt und geplagt zu werden,
so dass sein Körper nicht heilen konnte. Wo waren seine Freunde? Wo
war der König – der Mann, der ihn Bruder nannte, der ihn ihr
gesamtes Leben lang so sehr geliebt hatte?
Er bedeutet ihnen nicht so viel. Er steht immer
an zweiter Stelle hinter größeren Dingen. Sie neigte den Kopf,
der Schein des Feuers umspielte ihre Hände. »Ich kenne meinen
Platz«, hatte Lorcan stets gesagt, und dieser Platz lag genau dort:
an zweiter Stelle, immer nur hinter den Belangen des Königreichs.
Und nun … nun werde auch ich ihn verlassen, dachte sie.
Selbst ich – weil es Dinge gibt, die bedeutsamer sind, bedeutsamer
als dieser wundervolle Mann, der mir alles gab, was er hatte, der
mich nie enttäuschte.
Wynter konnte diese Gedanken nicht ertragen. Sie
konnte es einfach nicht – sie würden sie noch umbringen. Also stand
sie auf und schlich in ihre Kammer. Sie würde sich waschen und
anziehen, sie würde nach einem Frühstück schicken, sie würde mit
Marni sprechen und auf Neuigkeiten von Razi warten. Genau das würde
sie tun. Eine Aufgabe. Dann eine andere Aufgabe. Und noch eine. So
würde sie den Tag überstehen, die Hände geballt, die Zähne
zusammengebissen, den Kopf gesenkt. Heute und jeden folgenden Tag –
sie würde sie überstehen, einen nach dem anderen.
Eben leerte sie ihr Waschwasser aus dem Fenster,
als Lorcan nach ihr rief. Seine Stimme klang angestrengt und
ängstlich. Hastig stellte sie die Blechschale zurück auf den
Waschtisch und eilte mit wild pochendem Herzen zu seiner Tür.
»Was ist denn, Vater? Was …«
Er hatte sich halb auf den Ellbogen aufgestützt,
eine Faust an den Bauch gepresst. »Hol Christopher«, stieß er
mühsam hervor.
»Es ist noch sehr früh, Vater. Er schläft gewiss
noch. Ich wollte warten und ihn dann zum Frühstück zu uns …«
»Hol ihn!« Jetzt klang Lorcan verzweifelt. »Hol ihn
einfach! Bitte!«
Sie rannte in den Geheimgang und die kurze Strecke
bis zu Christophers Kammer. Am liebsten hätte sie ungestüm gegen
die Holztafel gehämmert, doch sie beherrschte sich und kratzte nur
leise daran.
Er schläft gewiss noch. Sie musste an Razis
beharrliches und nachdrückliches Klopfen gestern denken. Ich
werde ihn niemals wach bekommen. Doch zu ihrer Überraschung
hörte sie ein leises Geräusch hinter dem Holz und wagte ein leises
Rufen. »Christopher? Hier ist Wynter. Mein Vater braucht
dich!«
Die Tür glitt zur Seite, schwacher Kerzenschein
erfüllte die Dunkelheit. Christopher war voll bekleidet, roch nach
Seife und Zahnpulver. Das weiche Licht beschien ihn von hinten –
ein markanter, schlanker Schatten. »Was ist denn?«, fragte er
voller Besorgnis. »Geht es ihm nicht gut?«
»Ich weiß es nicht«, gab sie zurück. »Er will es
mir nicht sagen, nur dir!«
Die Hand auf ihrem Rücken, schob er sie vor sich
her durch den dunklen Gang. Als sie in die Kammer kamen, bedeutete
Lorcan Wynter, in der Tür zu bleiben. Christopher eilte zu ihm und
beugte sich hinab.
Lorcan flüsterte ihm etwas ins Ohr, seine Augen
flackerten immer wieder zu Wynter. Christophers Gesicht konnte man
hinter den langen Haaren nicht erkennen, doch er nickte und
antwortete leise und besänftigend. Dann richtete er sich wieder
auf, und Lorcan hielt sein Handgelenk fest. Er murmelte
noch etwas, seine Miene drückte eine schmerzliche Entschuldigung
aus.
Erneut bückte sich Christopher, legte seine freie
Hand auf Lorcans und drückte sie. »Mein Freund«, sagte er gedämpft,
»ich wäre Euch böse gewesen, wenn Ihr mich nicht gerufen hättet.
Bitte sprecht nicht mehr davon.«
Damit trat er zu Wynter und steuerte sie am
Ellbogen aus dem Raum.
»Braucht er Razi?«, fragte sie, den Tränen
nah.
»Nein«, gab er sanft zurück. »Dein Vater braucht
nur etwas Unterstützung, einen starken Arm, auf den er sich stützen
kann.« Er sah ihr in die Augen, als er langsam die Tür vor ihrer
Nase schloss. »Geh schon mal Frühstück holen«, sagte er.
Und schon stand sie draußen in der Dunkelheit,
während Christopher ihrem Vater die Hilfe gewährte, die Lorcan ihr
niemals zu leisten gestatten würde.
Zu Wynters Erschütterung ohrfeigte Marni sie. Ein
heftiger, wütender Schlag, der sie straucheln ließ und rückwärts
gegen einen Tisch voller Holzbecher schleuderte, so dass sie
mitsamt der ganzen Ladung krachend zu Boden stürzte. Dort lag sie
dann, die Arme über dem Kopf, die Ohren klingelnd. Gefäße hüpften
und klapperten und kullerten in alle Richtungen davon. Marni selbst
stand regungslos in einer Ecke ihrer Vorratskammer, die kleinen
blauen Augen rund, den großen Mund entsetzt aufgerissen.
Wynter war fassungslos. Zwar hatte Jonathon die
Jungen oft seinen Jähzorn spüren lassen, und auch Marni teilte
leicht mal einen Klaps auf den Hintern aus, doch Wynter war als
Kind nie geschlagen worden. Die Attacke der massigen Frau
hatte sie zutiefst getroffen, verstört und wie gelähmt wartete sie
auf den nächsten Schlag.
Als Marni schließlich aus ihrer Ecke kam und über
ihr aufragte, krümmte sich Wynter zu einer festen Kugel zusammen.
Mit einer riesigen Pranke packte die Köchin sie am Arm und zog sie
auf die Füße, so dass Wynter vor Angst quiekte. Doch Marni presste
sie nur an sich, zerdrückte sie fast an ihren gewaltigen Brüsten.
Der Duft von Butter, frischem Teig und Äpfeln benebelte Wynter; sie
schnappte nach Luft, während Marni sie in ihren mächtigen Armen
wiegte wie einen Säugling.
»Oh, mein Mädchen! Mein Mädchen!«, stöhnte sie.
»Bist du denn verrückt geworden? Hast du völlig den Verstand
verloren? Eieiei …« Ihre Stimme verlor sich in einem Wehklagen und
Jammern. »Meine Kleinen«, schluchzte sie, »meine armen Kleinen …
Was für Zeiten, was für schreckliche Zeiten!«
Wynter wand sich und zappelte, bis sie sich
zwischen all dem Fleisch etwas Luft zum Atmen erkämpft hatte.
»Wirst du es tun, Marni?«, keuchte sie. »Hilfst du mir?«
Immer noch wiegte und quetschte Marni sie, und
statt zu antworten legte sie ihre Wange auf Wynters Kopf und
weinte, bis ihr Haar ganz nass war.
Eine Stunde später kam Wynter aus der Küche, einen
Binsenkorb voller frisch gekochter Eier über dem Arm. In den Händen
trug sie ein Tablett mit duftendem Weißbrot, einem riesigen Krug
sahnigen Haferschleim und einer Kanne Kaffee. Auf ihrer Wange
prangte ein roter Handabdruck, und in ihrem linken Ohr sauste es
immer noch. Doch viel wichtiger war, dass Marni ihr hoch und heilig
versprochen hatte, sie bei ihrer Flucht zu unterstützen und nach
ihrer Abreise bei der Pflege ihres Vaters zu helfen.
Nun war der zweite Schritt getan, und wenn sie auch
nicht
gerade leichten Herzens war, so doch zumindest ruhiger als noch am
Morgen.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie zurück in
ihr Quartier kam, und der Empfangsraum war in helles Licht
getaucht. Sie verriegelte die Tür sorgsam hinter sich und stellte
alles vom Tablett auf den Tisch. Christopher musste sie gehört
haben, denn er schlüpfte aus Lorcans Kammer und sah ihr mit
genießerischem Seufzen über die Schulter.
»Sieh dir das an.« Er blähte die Nasenlöcher. »Ich
bin halb verhungert.« Er beugte sich über sie, stibitzte sich ein
Stück Brot und floh mit schuldbewusstem Grinsen, bevor sie ihm auf
die Finger klopfen konnte.
»Wie geht es ihm?«, flüsterte sie.
»Ausgezeichnet. Er leidet nur unter Stolz.«
Christopher sah sie freundlich an. »Er ist ein großer, starker
Mann, und du bist immer noch sein kleines Mädchen. Es gibt Dinge …«
Er zuckte die Achseln, wusste nicht recht, wie er es ausdrücken
sollte.
Missbilligend verdrehte sie die Augen. Es war
einfacher, sich an seine Verärgerung zu klammern, als darüber
nachzudenken, was Lorcan machen würde, wenn Christopher erst fort
war.
»Bin ich zum Frühstück eingeladen?«, wechselte er
geschickt das Thema. »Sonst, weißt du …« Er legte den Kopf schief
und setzte einen Hundeblick auf. »Sonst muss ich verhungern – ganz
allein und verlassen in der großen, leeren Kammer.«
Allmählich gewann Christophers schmales Gesicht
wieder Konturen, die Schwellung zog sich langsam von den sanft
geneigten Wangenknochen und dem Kiefer zurück. Die klaren grauen
Augen waren unter den zerschundenen Lidern etwas besser zu
erkennen. Wynter spürte jähe, beinahe unbezähmbare
Zuneigung zu ihm, und beide hielten einen Moment inne und standen
lächelnd im Sonnenschein.
»Sollen wir alles zu deinem Vater tragen?«, schlug
er vor. »Möglicherweise bekommt er dann Appetit.«
Gemeinsam trugen sie den Tisch hinüber. Christopher
hatte die Fensterläden geöffnet, so dass der Raum hell und luftig
war, trotz der unerhörten Hitze. Unter schweren Lidern sah Lorcan
ihnen vom Bett aus zu und schüttelte den Kopf, als sie ihm von den
Speisen anboten. Christopher lachte nur, und während Wynter ein
gekochtes Ei aß, flößte er ihm irgendwie eine halbe Schale
Haferschleim und etwas Kaffee ein, ohne dass Lorcan so recht
bemerkte, dass er gefüttert wurde. Bald schon schlief der große
Mann ein wie ein Säugling – plötzlich und tief.
»Christopher«, flüsterte Wynter.
Er hatte am Bett gestanden und ihren Vater
betrachtet, in Gedanken meilenweit weg. Nun kam er zu ihr an den
Tisch. Sie hielt ihm eine Schale Haferschleim und einen Löffel hin.
»Du hast gar nichts gegessen. Ich dachte, du wärest halb
verhungert?«
Er stieß ein Knurren aus und stürzte sich auf das
Essen, schaufelte die Schüssel in Windeseile leer und spähte in den
Krug, ob es noch Nachschub gab. Sie füllte ihm die Schale erneut,
und er schlang es ebenso schnell herunter, seufzend vor
Behagen.
»Christopher.« Sie runzelte die Stirn. »Hast du
etwa gestern überhaupt nichts gegessen?«
Er hatte den Mund schon geöffnet, um zu antworten,
als ein lautes Klopfen an der Tür zum Gang sie aufschreckte.
»IM NAMEN DES KÖNIGS, ÖFFNET DIE TÜR!«, donnerte
eine Stimme.
Starr vor Schreck sahen sie einander an.
»Du musst gehen«, zischte Wynter, während sie schon
ein paar Eier und einen Klumpen Brot in den kleinen Binsenkorb
warf. Sie drückte ihm das Essen in die Hand und schob ihn zu der
Geheimtür, als das nächste Hämmern die Luft erschütterte.
»IM NAMEN DES GÜTIGEN KÖNIGS JONATHON, MACHT DIE
TÜR AUF!«
Lorcan schreckte aus dem Schlaf auf und sah sich
verwirrt um. »Was?«
»Ich komme! Einen Augenblick!«, rief Wynter laut,
während sie zurück in Lorcans Kammer rannte und rasch etwas Kaffee
in eine Schale goss, die sie Christopher in die noch freie Hand
gab. Dann knallte sie die Tür zu, drehte den Cherub und eilte, um
dem König die Tür zu öffnen.