Lasst uns lachen und fröhlich sein
Und haben sie ihre Arbeit gut gemacht?«
Wynter seufzte. »Ja, Vater. Haben sie.« Sie hob den Blick nicht von dem Blatt in ihren Händen. Sie wusste, dass Lorcan seine Frage nur krächzte, um etwas zu sagen. Selbstverständlich hatten Pascals Lehrlinge ihre Sache gut gemacht. Sogar ausgezeichnet. Daran hatte nie ein Zweifel bestanden, und genau deswegen hatte Lorcan sie ja ausgewählt. Dennoch entging ihr nicht, dass er nicht fragte, wie die Bibliothek nun ihrer Meinung nach aussah.
Sie seufzte erneut, faltete das Papier zusammen und ließ die Hände in den Schoß sinken.
Die Bibliothek sah furchtbar aus, besonders für Wynters geschultes Tischlerauge. All diese glatten Flächen, die grell aus dem wunderschön geschnitzten Holz hervorleuchteten. Wohin der Blick auch fiel – verstörend nackte, kahle Stellen. Sie schüttelte den Kopf und senkte die Lider, um die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Als sie an diesem Morgen in die Bibliothek gekommen war, hatte sie dort zu ihrer großen Überraschung Pascal vorgefunden. Nachdenklich hatte er aus dem Fenster gesehen, als sie eintrat, und sie hatte schon befürchtet, dass seinen Jungen etwas Schreckliches zugestoßen war. Doch der Mann hatte sie nur traurig angelächelt und eine ausholende Geste gemacht. »Nun gut«, hatte er gesagt. »Es ist vollbracht.«
Fassungslos hatte sich Wynter umgesehen. In den vergangenen Tagen hatte sie gar nicht bemerkt, wie rasch die Arbeit vorangeschritten war, denn sie selbst hatte den Großteil ihrer Zeit damit verbracht, auf einer Fensterbank zu sitzen und ins Leere zu starren, während Pascals Truppe um sie herum emsig wirkte.
Und nun war es erledigt, war diese schamlose Verstümmelung der Arbeit ihres Vaters vollendet.
Mit einer schmerzlichen Grimasse schlug Wynter die Augen wieder auf. Erneut betrachtete sie das Papier in ihren Händen, faltete es auf, überflog die Seite, als könnte ihr Inhalt irgendwie die Erinnerung an diese furchtbare Zerstörung auslöschen.
Lorcan beäugte sie von seinem Kissen aus. In ihren Arbeitskleidern saß Wynter im Schneidersitz am Fußende seines Bettes. Aus der Bibliothek war sie unverzüglich in seine Kammer gekommen, hatte das Werkzeug neben der Tür abgelegt und war wortlos auf das Bett geklettert. Sie hatte die Beine verschränkt, den Kopf angelehnt und die Augen geschlossen. So war sie geblieben – still und verschlossen -, bis Marcello auf seine sanfte, unaufdringliche Art den Raum verlassen hatte. Erst als sie sicher war, dass sie und Lorcan allein waren, hatte sie die Augen wieder aufschlagen und ihren Vater angesehen. Lorcan hatte tief aufgeseufzt und sie angelächelt.
Erneut blickte Wynter von dem Papier vor sich auf, da sich ihr Vater langsam nach unten schob und mit einem Zischen den Kopf auf das Kissen legte. Er hatte heute versucht, so viel Zeit wie möglich außerhalb des Bettes zu verbringen, und das hatte seinen Tribut gefordert. Er schloss die Augen. Ihn hatte es offenbar nicht im Geringsten überrascht, dass die Arbeit in der Bibliothek abgeschlossen war.
Noch einmal betrachtete Wynter die sorgfältige, eckige Notation, die gewissenhaft gezogenen Notenlinien. Nie zuvor hatte sie darüber nachgedacht, wie schwierig es für Christopher sein musste, einen Federkiel zu halten, doch es war bestimmt äußerst mühselig. Es sollte mich all dessen berauben, was ich bin, hatte er gesagt, eine sehr wirksame Rache.
Es war ein sorgfältig aufgezeichnetes Musikstück, drei sich wiederholende Strophen. Ein Duett für zwei Blockflöten. Die tiefe Stimme bestand aus einer langsamen, getragenen Melodie, die den Takt vorgab und in ihrer Schlichtheit wunderschön war, wuchtig und feierlich. Darüber lag eine perlende Harmonie, beinahe ein Kichern. Es war wie ein heller Fluss, der durch die Tiefen eines mächtigen Waldes floss, Erhabenheit und Freude zugleich. Das Lied hieß »Lorcan«, und Christopher hatte es an diesem Morgen unter Lorcans Teeglas gelegt.
Wynter konnte es nicht länger betrachten, sonst würde sie in Tränen ausbrechen. Ein letztes Mal faltete sie das Blatt zusammen und gab es ihrem Vater. Ohne hinzusehen, streckte er die Hand aus und schob das Papier unter sein Kissen, sein Blick war inzwischen auf den sich rasch verdunkelnden Himmel vor dem Fenster gerichtet.
Sie hatten nur noch morgen, das war alles. Morgen. Tags darauf würde Wynter ihn verlassen müssen. Dabei gab es so viele Dinge, die sie einander sagen sollten, doch keiner von ihnen schien die Worte über die Lippen zu bringen. Vielleicht morgen. Ja. Morgen könnte sie gewiss reden, und alles, was sie ihm sagen musste, würde einfach wie von selbst hervorsprudeln.
»Morgen vielleicht«, sagte Lorcan ruhig an den Himmel gewandt. »Morgen habe ich vielleicht die Kraft für einen Spaziergang im Orangenhain.« Seine Worte spiegelten Wynters eigenen Gedanken wider, und sie nickte stumm. Ihr Herz war zu voll, um etwas zu entgegnen.
Der Himmel vor dem Fenster färbte sich violett, und Lorcan beobachtete, wie die Wolken dunkler, ihre Ränder trüber wurden, als die Sonne langsam unterging. Er schloss die Augen mit einem zarten Stirnrunzeln – vielleicht aus Schmerz, vielleicht wegen eines traurigen Gedankens. Dann wandte er Wynter den Kopf zu, schlug die grünen Augen auf, zögerte. Er wollte etwas sagen. Da plötzlich erstarrten sie beide, lauschten angestrengt und grinsten einander an, als sie ein leises Schaben an der Geheimtür vernahmen. Razi! Die Freude ließ sie strahlen.
Lorcan hievte sich hoch, bis er aufrecht saß. Mit einem Nicken bedeutete er Wynter, die Tür öffnen zu gehen, dann strich er seine Decke glatt und fuhr sich in freudiger Erwartung mit den Fingern durchs Haar. Sie sprang vom Bett und rannte in den Nebenraum.
Unsicher und gebückt stand Razi in dem dunklen Gang, als wüsste er nicht, ob er willkommen wäre. Unter dem Arm trug er einen Umschlag. Zaghaft lächelte er sie aus dem Schatten an.
»Hallo, Wyn. Darf … darf ich eintreten?«
Ihr Lächeln erstarb, als sie frische Schwellungen und Wunden auf seinem Gesicht entdeckte. Sie trat zu ihm in den Geheimgang und umarmte ihn. »Razi«, begrüßte sie ihn leise. »Wir haben uns um dich gesorgt.« Sie bemühte sich, ihn nicht zu fest zu drücken; dennoch keuchte er und löste sanft ihre Arme von seinem Rücken.
Ihre Hand jedoch hielt er fest und küsste sie mit einer galanten kleinen Verbeugung. »Kein Grund zur Sorge. Ich bin unentbehrlich, schon vergessen?«
Der Anblick von Razis Gesicht und seinem steifen, gebeugten Gang ernüchterte Lorcan sofort. Razi aber grinste ihn nur an und ließ sich schwerfällig und mit verzogenem Gesicht auf den Sessel neben dem Bett fallen.
Er legte den Umschlag auf Lorcans Decke, ein scheues Lächeln umspielte seine Lippen. »Das habe ich Euch mitgebracht, mein Freund. Ich wusste, es würde Euch große Freude bereiten.« Die Augen erwartungsvoll leuchtend, stupste er den Umschlag mit dem Finger an. »Das ließ ich kopieren, als ich im Maghreb war. Es ist eine sehr, sehr gelungene Übersetzung, wenn ich das so sagen darf. Ich ließ auch eine Abschrift für Vaters Bibliothek machen, doch diese hier …« Er warf einen schüchternen Blick auf Lorcan. »Diese hier ist für Euch.«
Lorcan strich mit der Hand über den schlichten Lederumschlag und blickte Wynter sichtlich erfreut an. Sie grinste und setzte sich gespannt zu seinen Füßen aufs Bett. Eilig löste Lorcan in freudiger Erwartung die Schleifen und entnahm dem Umschlag ein wunderschön gebundenes Buch. Seine Augen weiteten sich ehrfürchtig, und er stieß ein staunendes Seufzen aus, als er sich den Band aufs Knie legte und langsam die Seiten umblätterte. Der Titel lautete »Buch des Wissens von sinnreichen mechanischen Vorrichtungen«, und während sich Lorcan in die kunstvollen Zeichnungen vertiefte, deutete Razi auf diese und jene Illustration oder Beschreibung und gab leise Erklärungen.
»Das Original ist etwa dreihundert Jahre alt und wurde von einem außergewöhnlichen Mann verfasst, Badi’ Al-Zaman Al-Dschazari. Ein Ingenieur und Erfinder …« Razi blickte zu Lorcan auf. »Genau wie Ihr.« Die beiden Männer lächelten einander an, und Lorcan wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu.
»Unfassbar«, murmelte er. »Dreihundert Jahre?«
»So ist es.«
Alle drei beugten sie sich über die Seiten, und Wynter zeigte auf die wunderschöne Abbildung eines persischen Wasserrads. »Das erinnert mich an die Vorrichtung, die du für Shirken entworfen hast, Vater. Weißt du noch?«
»O ja«, murmelte Lorcan geistesabwesend und blätterte um.
»Vater hat für Shirkens Schloss eine fabelhafte Konstruktion erfunden, Razi. Sie versorgt jeden Raum mit Wasser, durch etwas, das Vater Pumpe nannte.«
Razis Augen weiteten sich begeistert. Gerade wollte er etwas fragen, als Lorcan trocken und ohne von dem Buch aufzusehen bemerkte: »Ich habe sie nie vollendet gesehen. Jon rief mich nach Hause, bevor ich Gelegenheit bekam, den Bau zu überwachen. Seht Euch das an!« Er hielt Razi eine Seite hin und deutete auf eine aufwendige Apparatur.
Doch Razi sah nicht auf die Seite, sondern stattdessen Lorcan an. Er überlegte kurz, dann sagte er: »Eine wissenswerte Tatsache über Al-Dschazari ist, dass er viele seiner eigenen Erfindungen verheimlichte.« Lorcan erstarrte und sah Razi scharf an. »Offenbar betrachtete er vieles von dem, was er geschaffen hatte, als zu … zerstörerisch … für den allgemeinen Gebrauch.«
Lorcan richtete sich auf und klappte das Buch zu. Sein Gesicht verfinsterte sich, die Augen wurden eiskalt. Abwehrend hielt Razi eine Hand hoch und verzog den Mund zu einem Lächeln. »Lorcan, ich möchte nicht nachforschen. Ich erzähle es Euch nur. Al-Dschazari war ein kluger Mann und ein anständiger Mensch. Alles, was er der Nachwelt hinterließ, war der Menschheit dienlich. Männer wie ihn – Männer wie Euch – gibt es nur wenige auf dieser Welt. Mehr wollte ich gar nicht sagen.« Er legte den Kopf schief. »Mehr wollte ich nicht sagen.«
Lorcan blinzelte, und Wynter starrte ihre Hände an. Eine unbehagliche, gespannte Stille entstand, bis Razi ein kurzes Lachen ausstieß und Lorcans Hand tätschelte. »Warum fällt es uns so schwer, uns das Gute anzuhören, das andere über uns zu sagen haben?«, murmelte er.
Lorcan nahm Razis Hand und drückte sie. »Würdet Ihr …«, begann er heiser. »Würdet Ihr gern die Pläne für Shirkens Schloss sehen? Und vielleicht auch den neuen Einfall, den ich für Tamarand in den Mittelländern hatte? Es geht darum, das Wasser von den Feldern durch eine verstärkte …«
»Ich breche morgen auf.«
Lorcan blieben die Worte im Halse stecken. Wynter, die eben vom Bett aufstehen wollte, um die Aufzeichnungen ihres Vaters zu holen und Razi seine neuen Erfindungen zu zeigen, erstarrte mitten in der Bewegung. Jetzt sank sie zu Boden, den Mund fassungslos geöffnet. Über Razis Kopf hinweg blickte sie erschrocken ihren Vater an. Morgen! Nein! Sie war noch nicht bereit! Sie war noch nicht bereit, sich auf den Weg zu machen! Sie hatte geglaubt, ihr bliebe wenigstens noch der morgige Tag! Den musste er ihr gewähren, bitte, nur den!
Lorcans Augen waren riesig, tränenfeucht und verzweifelt.
»Oh, Razi«, flüsterte Wynter. »Warum? Ich dachte …«
Steif wandte sich Razi zu ihr um, krümmte sich kurz und schlang die Arme um seine Brust.
»Razi.« Lorcans Stimme klang besorgt. »Was ist mir dir geschehen?« Er legte eine Hand auf Razis Kopf.
Zu Wynters Erstaunen gluckste Razi, beugte sich aber gleichzeitig erschöpft nach vorn und legte die Stirn auf Lorcans Bett, ohne die Arme von seiner Brust zu lösen. Lorcan streichelte ihm über das Haar, fuhr mit den kräftigen Fingern durch die unordentlichen Locken, als tröstete er ein Kind.
»Ach, so schlimm war es nicht«, sagte Razi leichthin. »Vaters Männer waren nur ein wenig übereifrig bei ihrer Suche nach Christophers Papieren.«
Wynter schluckte ängstlich. »Haben sie sie gefunden, Razi? Dein Vater hatte Männer im Wald …«
Er drehte den Kopf und sah sie von unten durch sein Haar hindurch an. »Jetzt nicht mehr.«
Die kalte Gewissheit in seiner Stimme jagte Wynter einen Schauer über den Rücken. Razi schloss die Augen und drückte das Gesicht wieder in die Bettdecke. Lorcan hörte nicht auf, ihm durch seine Locken zu streichen, und in seinem Blick sah Wynter ihren eigenen Kummer gespiegelt. Es war so falsch, dass Razi so ein Mensch sein musste. So falsch.
»Ich reise morgen ab«, seufzte Razi. »Ich kann nicht länger bleiben. Ich ertrage es nicht.«
»Es ist vermutlich sinnlos, Euch erneut zu bitten, meine Tochter mit Euch zu nehmen?«
Wynter zuckte heftig zusammen und funkelte Lorcan zornig an, doch er erwiderte ihren Blick nur starrsinnig.
Razi seufzte wieder und schüttelte den Kopf. »Bittet mich nicht länger darum, mein Freund. Ich würde sie nur umbringen. Hier, weit weg von mir, ist Wynter sicherer. Weit weg von meiner gottverfluchten Gesellschaft.«
Lorcans Lider flatterten. Nachdenklich wanderte seine Handfläche auf Razis Rücken und beschrieb zwischen seinen Schulterblättern tröstliche Kreise.
Wie unendlich erleichtert Wynter war – wenigstens diese Hürde blieb ihr erspart! Was für ein Alptraum, wenn Razi eingewilligt hätte. Besorgt blickte sie ihn an. Was würde passieren, falls die Suche nach Christophers Papieren fortgesetzt wurde? »Sind die Papiere wirklich in Sicherheit, Razi? Wenn du erst unterwegs bist, wird es viel schwieriger, sie zu verstecken.«
Wieder gluckste er, hob den Kopf, schüttelte Lorcans Hand ab und setzte sich bedächtig zurück auf den Sessel. Seine Miene drückte Heiterkeit aus, er grinste sie breit an. »Ich habe sie ja gar nicht.« Er lachte über ihre erstaunten Gesichter. »Jetzt hört aber auf. Habt ihr wirklich geglaubt, ich würde meinen liebsten Freund ohne Papiere in die Welt hinausschicken? Ihn – einen gebrandmarkten Sklaven? Also bitte.« Immer noch grinste er fröhlich und breitete die Hände aus, als wollte er sagen: Ganz im Ernst, seid ihr wirklich so töricht? »Christopher hat sie!«, rief er, als Wynter und Lorcan ihn immer noch verständnislos anstarrten. »Sie sind in seiner Kleidertruhe. Wenn er sich das nächste Mal umkleidet, wird er sie finden.«
Lorcan schnappte nach Luft. Es war eine List! Eine verrückte, gefährliche, atemberaubende List. Und sie war geglückt. Doch nun hatte Razi seinen Vater überrumpelt; er musste so schnell wie möglich aufbrechen – bevor der gerissene König den Verdacht schöpfte, dass Razis Macht über ihn nichts als Schall und Rauch war.
Und aus ebendiesem Grund musste auch Wynter nun früher fortgehen. Mutlos sank sie auf Lorcans Bett. Razi beugte sich zu ihr und rüttelte an ihrem Knie, er ahnte nicht, welche Folgen seine verfrühte Abreise hatte. »Komm schon, Schwester«, sagte er. »Keine langen Gesichter! Es ist doch nur einen Tag früher.« Er grinste sie an, und sie wandte den Blick Lorcan zu, der sie mit betont ausdrucksloser Miene beobachtete. Seine Augen jedoch verrieten, dass er traurig war. Ein Tag weniger.
»Na dann.« Lorcan schüttelte sich. »Sollen wir einen Becher Wein trinken? Ich hätte auf jeden Fall gern einen Schluck!« Nun lächelte er Wynter an und zuckte die Achseln. Was können wir tun?, bedeutete das. Was können wir schon tun? Lasst uns lachen und fröhlich sein, solange es noch geht. Morgen ist ein neuer Tag.
Razi kam auf die Füße und lächelte Lorcan hoffnungsfroh an. »Ich hole Eure Aufzeichnungen, Lorcan, ja? Darf ich?«
Der große Mann nickte zustimmend und deutete auf seine Truhe.
Razi ging vor Wynter in die Hocke und schüttelte sie erneut zärtlich. »Du, Madonna der Tränen? Willst du nicht einen Pagen nach Wein schicken?« Bitte, bitte, sagte sein verzweifeltes Lächeln. Lasst uns nicht traurig sein, nicht heute Abend. »Wynter?«, wiederholte er. »Etwas Wein?«
Sie riss sich aus ihren trübseligen Überlegungen und wandte sich seinen flehentlichen Augen zu. Überwältigt von Zärtlichkeit und Mitgefühl nahm sie Razis Gesicht in ihre Hände und küsste ihn, dann lehnte sie ihre Stirn an seine. Sie spürte seinen Atem durch ein unterdrücktes Schluchzen stocken, er versuchte, den Kopf zurückzuziehen. Doch sie verstärkte sanft den Druck ihrer Hände auf seine glatt rasierten Wangen und hielt ihn fest. »Bestimmt«, sagte sie, »möchtest du auch etwas Kuchen?« Sie sah ihm in die feuchten Augen.
»Ja«, erwiderte er etwas wackelig. »Kuchen wäre schön.«
»Marmeladentörtchen!«, krächzte Lorcan vom Bett aus.
»Igitt!« Wynter schüttelte sich in gespielter Abscheu. »Ihr Männer mit euren Süßigkeiten!«
Razi schob sie von sich fort und ging zu Lorcans Truhe, kniete sich davor und verharrte einen Moment reglos mit abgewandtem Gesicht, bevor er den Deckel aufklappte, um nach den Aufzeichnungen zu suchen.
Wynter blieb im Türrahmen stehen und sah sich nach den beiden Männern um. Lorcan schlug heimlich die Decke zurück und tastete nach seinem Mantel. Er zwinkerte ihr zu und sagte lautlos: Ich stehe kurz auf. Sie schüttelte nur den Kopf, machte aber keine Anstalten, ihn davon abzuhalten. Schwerfällig setzte er die Füße auf den Boden und stützte sich auf dem Bett ab, dann sammelte er sich und warf sich Richtung Kamin. Razi schrie erschrocken auf, als der große Mann atemlos auf den Sessel am Feuer plumpste, und Lorcan lachte fröhlich.
Du großes Kind, dachte Wynter liebevoll und wandte sich zum Gehen.
Als es leise klopfte, erstarrten die drei zu Stein.
»Schick ihn bloß zum Teufel!«, rief Lorcan. »Wer das auch sein mag!«
Besorgt sah Razi Wynter an, die Papiere auf den Knien. Doch sie war fest entschlossen: Bote, Ratsherr oder Soldat – niemand bekäme heute Zutritt zu ihrem Quartier!
»Bleib hier«, flüsterte sie ihm zu und schlich leise zur Tür. Noch ein Klopfen, dieses Mal etwas lauter. »Wer ist da?«, fragte sie streng. »Es ist viel zu spät für einen Besuch.«
Razi war ihr gefolgt und stand horchend im Gemeinschaftsraum. Beide schraken zusammen, als die vertraute Stimme des Königs ertönte.
»Öffnet die Tür, Protektorin Moorehawke. Ich möchte mit deinem Vater sprechen.« Jonathon klang leise, offenbar hatte er das Gesicht dicht an die Tür gedrückt.
Nein! Bestürzt drehte sich Wynter zu Razi um, der vorn übergebeugt und völlig verzweifelt dort stand. Nein! Nein, nein. Blieb ihm nun sogar das noch versagt? Sein letzter Abend. Sein Abschied. Er taumelte zurück in Lorcans Kammer. Er sah aus, als hätte ihn ein Pferd getreten.
Einen Augenblick lang geriet Wynter in Panik. Wie sollte sie den König abweisen? »Ich … Einen Moment, Eure Majestät. Ich bin … nicht angezogen.«
»Mach schnell!«
Sie rannte in Lorcans Kammer. Razi war zu seinen Füßen auf die Knie gefallen, hatte ihm die Arme um die Taille geschlungen und den Kopf an seiner Brust vergraben. Der ältere Mann strich ihm über das Haar, die Wange auf seinen Scheitel gelegt.
»Schsch«, machte Lorcan hilflos. »Schschsch …«
Wieder klopfte der König, jetzt mit Nachdruck.
»Razi«, rief Wynter leise. Sie spürte die Tränen nass und heiß auf den Wangen, als sie Razi aus Lorcans Armen zu ziehen versuchte. »Razi!«, flehte sie. »Bitte!« Erst da bemerkte sie, dass auch Lorcan festhielt, dass er Razi nicht gehen lassen wollte. Sie gab auf. Von hinten warf sie sich auf Razi und presste ihre Wange an seinen bebenden Rücken.
Völlig unvermittelt löste sich Razi von ihnen. Er schüttelte sich buchstäblich mit einem heftigen Ruck aus ihrer Umarmung heraus und sprang auf die Füße, das tränenüberströmte Gesicht glänzend im Feuerschein. Ohne weiter zu zögern, wandte er sich zur Tür, doch noch ehe er die Schwelle überschritten hatte, klopfte Jonathon erneut. Razi wirbelte mit wütend funkelnden Augen und geballten Fäusten herum. Noch nie hatte Wynter solchen Hass in seiner Miene gesehen.
»Razi«, zischte Lorcan.
Sofort drehte er sich um, breitete hilflos die Arme aus und sah ihn verloren an.
Das war das Letzte, was Lorcan von ihm sah. Er war fort.
Moorehawke 01 - Schattenpfade
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