Ein hoher Preis
Razi kehrte an jenem Abend nicht zurück, obwohl Wynter bis weit nach dem ersten Viertel auf ihn wartete. Lorcan schlief friedlich und tief, ohne überhaupt zu bemerken, dass sie treulich an seinem Bett Wache hielt. Schließlich zwangen die unbequeme Stellung und ihre müden Knochen sie hinüber in ihr Bett, wo sie in einen unruhigen Dämmerschlaf fiel.
Gerade, als sich ihr Geist endlich löste und sie in einen echten, erholsamen Schlaf sank, schreckte ihr Vater sie wieder auf. Er hielt sich mühsam im Türrahmen fest und starrte zu ihr hinein, sein Mund bewegte sich geräuschlos; Wynter sah ihn wie durch dichten Nebel.
Es dauerte lange, bis sie ihre Müdigkeit so weit bezwungen hatte, dass Lorcan und der Raum scharfe Konturen annahmen. Es war früher Morgen, unmittelbar vor Sonnenaufgang, und Lorcan sagte: »Liebes? Wynter? Kannst du mich hören?«
Seine Hände umklammerten das Holz so fest, dass es aussah, als würden ihm die Sehnen jeden Augenblick durch die Haut springen. »Wynter. Du musst heute etwas für mich erledigen. Fühlst du dich dazu imstande?«
Trocken und ohne einen Hauch von Belustigung in der Stimme gab sie zurück: »Leg dich wieder ins Bett, du alter Esel. Dann könnte es sein, dass ich zu dir komme und mir deine Bitte anhöre. Ansonsten brich ruhig dort in der Tür zusammen, ich steige dann einfach über dich hinweg.«
Lorcan bedachte sie mit einem finsteren Blick und tastete sich zurück in seine Kammer. »Du bist genau wie deine Mutter!«, schnarrte er, während er um die Ecke verschwand.
Beunruhigt lauschte sie seinem schwerfälligen Tapsen und atmete auf, als sie ihn ins Bett klettern hörte. »Sie muss eine wahre Heilige gewesen sein«, rief sie dann laut und schlug die Decke zurück, um aufzustehen, sich zu waschen und anzuziehen.
Vor dem Fenster zuckten Schatten über den frischen, rosigen Morgenhimmel. Erneut Raben, aber heute schon viel zahlreicher; Jusef Marcos’ Leichnam musste wohl neben den bisherigen blutigen Überresten aufgespießt worden sein. Angeekelt stöhnte Wynter auf und wandte die Augen ab. Einst hatte es eine Zeit gegeben, als sie vom Gesang der Rotkehlchen und Amseln geweckt worden war. Nun war es das Krächzen und Kreisen der Raben, ihre scharfen Krallen auf dem Dach über ihrem Kopf.
Was war nur mit ihnen allen passiert? Dass der Tod sie vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung grüßte, dass ihnen nichts anderes übrigblieb, als weiterzustrampeln und zu hoffen, er werde sie nicht in seine Klauen bekommen.
Vom Vorabend war nichts Essbares mehr übrig, also hockte sie sich mit einem Kanten Weißbrot und einem Becher Wasser zu Lorcans Füßen auf das Bett. Er hatte sich geweigert, etwas zu trinken, und kuschelte sich jetzt unter seine Decke. Trotz der Wärme bibberte er und beäugte missbilligend, wie sie beharrlich auf dem Brot herumkaute.
»Geh zu Marni«, drängte er, »und lass dir etwas Anständiges zu essen geben.«
Wynter hielt inne und ließ die Hand mit dem Brot in den Schoß fallen. Geh zu Marni. Lass dir etwas Anständiges zu essen geben. Wie viele Hundert Mal hatte sie diesen Satz von ihrem Vater gehört? Seit Jahren nun natürlich nicht mehr, doch bis zu ihrem Exil war es eine gewohnte, alltägliche Anweisung gewesen, der Auftakt zu ungezählten Ausflügen in die Küche. Ausflügen, die sie anfangs schwankend auf speckigen kleinen Beinchen unternommen hatte, später fröhlich hüpfend und mit aufgeschürften Knien, und schließlich im Galopp und mit dem sprudelnden Überschwang der Jugend. Ausflüge, die sie zwar fast immer allein antrat, die aber von den beiden ehernen Grundpfeilern in ihrem Leben flankiert wurden – Lorcan und Marni. Geborgenheit und Kraft warteten an beiden Enden dieses Wegs, und das Wissen um ihr Dasein reichte stets aus, um Wynter durch die furchteinflößenden, manchmal gefährlichen Schlossflure zu tragen.
Wie viel Zeit bleibt mir noch?, fragte sie sich und sah ihren Vater an. Mit dir als Freund und Festung?
»Hör auf, im Geiste schon Grabreden zu dichten«, murmelte er, die Mundwinkel emporgewölbt. Diesen alten Witz machte er immer, wenn sie sich in Gedanken verlor. Doch heute kam er der Wahrheit zu nahe, und er begriff es im selben Moment.
»Hast du Hunger?«, fragte sie so gelassen wie möglich.
»Und wie! Ich verhungere!«
Sie lachte froh und tätschelte seinen Fuß. »Wie würden Eier, Weißbrot und Kaffee klingen?«
Er machte ein gieriges Geräusch, und sie hüpfte vom Bett. Doch da fiel ihr etwas ein, und sie blieb an der Schwelle stehen. Es mochte nicht der rechte Zeitpunkt ein, doch der furchtbare Streit des gestrigen Abends nagte immer noch an ihr, und sie musste einfach fragen. »Vater«, begann sie, »wegen dieser … wegen dieser …«
»Still!«, herrschte er sie an, die Augen riesig und angsterfüllt. »Wynter, du darfst diese Maschine niemals wieder erwähnen. Hast du mich verstanden? Nicht einmal im Vertrauen, nicht einmal mir gegenüber. Solange du über den gestrigen Abend schweigst, bist du in Sicherheit. Aber Wyn, eines musst du begreifen … Falls jemals herauskäme, dass du mehr darüber weißt oder mehr darüber zu erfahren suchst, würde Jonathon dich töten. Und auch Razi.« Er sah ihr eindringlich in die Augen und senkte die Stimme beinahe zu einem Flüstern, als könnten die Wände, das Bett oder die Raben auf dem Dach sie belauschen und verraten. »Oliver hat er bereits zugrunde gerichtet, und Alberon tilgt er aus der Geschichte. Alles, was er sich je für den armen Razi wünschte, hat er zerstört. Und sie alle liebte er, mein Schatz. Er liebt sie noch heute. Doch du bedeutest ihm nichts. Verstehst du? Er würde dich auslöschen – einfach so!« Er schnippte mit den Fingern. »Und dein Verlust wäre ihm gleichgültig. Also bitte! Gib ihm keinen Grund. Lass nicht zu, dass ein Fehler, den ich in meiner Jugend beging, mich das einzige Leben kostet, das mir teuer ist.«
Sie blinzelte, antwortete aber nicht.
Schwerfällig hob er den Kopf vom Kissen. »Wynter«, zischte er. »Bitte!«
»Was, wenn der König Unrecht hat? Was, wenn …«
»Das kümmert mich nicht. Er kann dir nicht wehtun, das werde ich nicht erlauben.« Seine Stimme klang tonlos, aber unbeirrbar. »Es kümmert mich nicht, ob er das Königreich vernichtet, Wyn. Es kümmert mich nicht, ob er sich selbst vernichtet. Solange er dir kein Leid zufügt.«
Wynter wusste, dass das nicht stimmte – beides würde Lorcan das Herz brechen. Doch sie verstand, was er meinte. Im Gegensatz zu Jonathon war Lorcan nicht gewillt, das, was er liebte, zugunsten eines Königreichs zu opfern – gleich wie einzigartig, wie hell und strahlend dieses Königreich auch sein mochte. Lorcan würde Wynter immer an die erste Stelle setzen; sie war der Preis, den er niemals freiwillig bezahlen würde.
»Ist gut, Vater«, willigte sie sanft ein. »Wir werden nie wieder davon sprechen.«
Endlich lockerte er die geballten Fäuste und ließ den Kopf zurück auf das Kissen sinken. Sie lächelten einander an, dann zog Wynter die Augenbrauen zusammen und hielt ihm den Zeigefinger unter die Nase. »Und du bleibst im Bett!«, befahl sie und machte sich auf den Weg.
 
 
Aus Razis Gemächern kamen drei Brunnenmägde, und drei weitere warteten schon vor der Tür. Die schweren Kübel dampften zart in den morgendlichen Sonnenstrahlen. Wynter runzelte die Stirn. Es war sehr früh, um sich ein Bad einzulassen. Die Wasserknechte waren sicher nicht gut auf Razi zu sprechen; er musste sie die halbe Nacht auf den Beinen gehalten haben, um das ganze Wasser zu erhitzen.
»Sind wir bald fertig?«, flüsterte eine der wartenden Mägde den anderen zu, die gerade aus der Tür traten, die leeren Eimer hohl gegen das Joch klappernd.
»Ja, Dank sei dem Herrn. Ihr seid die Letzten. Ist doch lächerlich – ein Bad um diese Uhrzeit! Hätte er nicht das Badehaus benutzen können wie alle anderen im Palast?«
Die beiden bemerkten Wynter und zogen schweigend die Köpfe ein, als sie vorüberging. Razi sollte vorsichtig sein, dachte sie. Die Leute werden behaupten, dass er zum Tyrann wird. Es wollte so gar nicht zu ihm passen, solch ungebührliche Anforderungen an die Dienerschaft zu stellen, dass Wynter an der Ecke verunsichert zögerte und überlegte, ob sie nicht nach ihm sehen sollte. Doch sie entschied sich dagegen und setzte ihren Weg Richtung Haupttreppe fort.
In der Küche herrschte großer Trubel, und Marni knurrte etwas von »gewissen Leuten, die sich zu fein sind, im Saal zu speisen«. Doch sie stellte ein üppiges Frühstückstablett für Wynter und Lorcan zusammen und rührte einen ordentlichen Schluck Sahne in den Kaffeekrug.
»Ab mit dir«, kommandierte sie knapp und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem von ihr dirigierten Tumult zu.
Das Tablett war schwer, Wynter trug es langsam und vorsichtig. Allmählich erwachte der Palast, die Gänge summten leise vom frühmorgendlichen Treiben der Pagen, Mägde und Diener, die die Kaminfeuer schürten und das Schmutzwasser ausleerten. Geschmeidig wand sich Wynter zwischen ihnen hindurch.
Als sie von der Hintertreppe nach rechts in den kleineren Gang bog, sah sie zwei Mägde mit hoch aufgetürmten Stapeln sauberen Leinens auf den Armen, die erbleichten und wie angewurzelt stehen blieben. Im Vorübergehen bemerkte Wynter, dass sie den Blick an ihr vorbei auf die Gabelung am Ende des Flurs gerichtet hatten. Was die beiden dort auch entdeckt haben mochten, es entsetzte sie. Lautlos schoben sie sich rückwärts in eine tiefe Nische, wie um sich unsichtbar zu machen. Sie wirkten erschüttert, und eine konnte die Tränen nicht zurückhalten – sie kullerten ihr über die Wangen und tropften auf das sauber gefaltete Leinen.
Jäh attackierte ein widerlicher und grausig vertrauter Geruch Wynters Nase; in einer mächtigen Woge holten die ganzen Ereignisse des gestrigen Tages sie wieder ein. Jetzt erst erinnerte sie sich plötzlich zitternd an das eine, an das sie heute Morgen überhaupt noch nicht gedacht hatte. Schuldbewusste Tränen stiegen in ihr auf. Wie? Wie hatte sie es nur vergessen können? Sie biss sich auf die Lippe.
Am Ende des Gangs marschierten zwei Soldaten aus Jonathons Leibgarde auf sie zu. Sie passten ihre Geschwindigkeit der ihres Gefangenen an, und das ging ihnen sichtlich zu langsam. Zwischen ihnen taumelte Christopher, und obwohl sich Wynter alle Mühe gab, entschlüpfte ihr ein leiser Aufschrei.
Seine Hände waren vor dem Körper gebunden und mit einer Kette an der Taille befestigt. An den Füßen befanden sich lederne Fesseln, und er schlurfte wie ein Greis, als bereitete ihm jede Bewegung Schmerzen. Beide Augenlider waren geschwollen und blau, den Kopf hatte er steif in den Nacken gelegt, die Augen ob des hellen Lichts zu Schlitzen verengt. Er atmete vorsichtig durch den halb geöffneten Mund, die Nase war von verklumptem Blut verstopft. Die gesamte untere Gesichtshälfte war rötlich braun verschmiert, das lange Haar durch Blut, Dreck und Schweiß verklebt. Seine Kleider starrten vor Schmutz und waren voller dunkler Sprenkel.
Je näher Christopher kam, desto unerträglicher wurde der Gestank. Schaler Urin und feuchtes, modriges Stroh: der unverkennbare Geruch einer Kerkerzelle. Alle Gefangenen rochen so, gleich, wo man war, doch Christophers Gestank war besonders abstoßend. Sie mussten ihn in das übelste Loch geworfen haben, das sie hatten finden können. Die beiden Mägde vergruben die Nasen tief in ihren Leinenbündeln.
Er sah sie nicht, als er vorbeitrottete. Wynter dachte, dass er durch die fast geschlossenen Augen womöglich gar nichts sehen konnte. Selbst dieses trübe Licht schien ihn zu quälen.
Am Fuße der Treppe zum Mittelgang drehten sie ihn unsanft zur Seite, und er stolperte in der Fußfessel, als er den ersten Schritt machen wollte. Die Wachen kümmerten sich nicht um Christophers unterdrückten Schmerzensseufzer. Sie packten ihn einfach an den Ellbogen, und einer von ihnen befahl barsch: »Fuß hoch.« Sie warteten, bis sein tastendes Bein die Stufe gefunden hatte, dann zogen sie ihn mit einem groben Ruck hoch. Er ächzte, fand das Gleichgewicht wieder und tastete mit dem Fuß nach der nächsten Erhöhung. »Hoch«, instruierte der Soldat wieder, und so ging es die ganze Treppe hinauf.
Als sie endlich oben ankamen und um die Ecke bogen, zitterte Wynter so heftig, dass sie das Tablett auf dem Boden absetzen und einen Moment auf den Knien liegend ausruhen musste, die Hände fest ineinander verflochten, um sich wieder zu beruhigen. Die beiden jungen Mägde versteckten sich nach wie vor in der Nische, starrten ins Leere, sprachen kein Wort. Als Wynter nach einer Weile das Tablett wieder aufhob und den Weg in ihre Kammer fortsetzte, standen sie immer noch dort.
Sie nahm die hintere Wendeltreppe, um auf dem Hauptgang nicht noch einmal Christopher begegnen zu müssen. Sie wollte nicht sehen, wie die Leute ihn anblickten – mit dieser Mischung aus Triumph und Mitleid.
Warum hatten sie ihm die Fesseln nicht abgenommen? Und wieso hatten sie ihn nicht heimlich zurückgebracht? Wynter stöhnte. Warum stellte sie sich überhaupt derlei Fragen, wenn sie doch die eine und einzig wahre Antwort darauf längst kannte: All das geschah auf Jonathons Befehl, um Christopher zu demütigen, allen anderen eine Botschaft zu übermitteln und Razi in seine Schranken zu weisen.
Als Wynter endlich ihr Quartier erreichte, war ihre Miene beherrscht und ihre Hände zitterten nicht mehr. Aus Razis Gemächern war kein Laut zu hören, Christophers stinkende Kleider lagen auf einem Haufen vor der geschlossenen Tür. Jonathons Soldaten waren fort, die Wachen im Gang beobachteten teilnahmslos, wie sie durch die Tür schlüpfte.
Sofort ging sie in die Schlafkammer ihres Vaters. Er war wieder eingeschlafen, weshalb sie das Tablett auf dem Nachttisch abstellen und leise gehen wollte.
»Wo willst du hin, meine Kleine?«
»Ich dachte, du schläfst.« Sie kniete sich an sein Bett.
Er legte die Stirn in Falten, seine Augenlider flatterten. Wynter konnte sehen, dass er sich abmühte, sie wieder zu öffnen. »Dieser verfluchte Razi und seine Schlafmittel.«
Daraufhin musste Wynter kichern. »Das wird ihn aber ärgern. Eigentlich hättest du mindestens bis zum Mittag schlafen sollen.«
Lorcan räusperte sich und machte Anstalten, sich aufzusetzen, doch sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Vater, sie haben Christopher zurückgebracht. Ich möchte nach ihm sehen, dann komme ich zurück und frühstücke mit dir, einverstanden?«
Plötzlich war sein Blick klar und wachsam. »Hast du ihn gesehen? Den Hadraer?«
Wynters Reaktion erschreckte sogar sie selbst. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Lippen begannen albern, geradezu mädchenhaft zu beben, und sie musste die Hände zu Fäusten ballen, um einen erneuten Anfall von heftigem Zittern zu unterdrücken. Fest biss sie sich in die Wange und nickte.
»Schätzchen«, brummte Lorcan. »Du solltest dich von diesem Jungen fernhalten.«
»Aber ich will nur …«
»Das weiß ich, aber es wäre gefährlich, sich auf ihn einzulassen, mein kleines Mädchen.«
Entsetzt straffte sie die Schultern. »Aber Vater! Ich bin doch nicht …« Empört rieb sie sich die Augen und wischte die Nase am Ärmel ab. »Ich habe doch keine Gefühle für ihn! Es ist nur … Er ist Razis Freund. Und er ist ein guter Mensch. Ich …«
»Es ist ja in Ordnung, Gefühle zu haben, mein Liebling. Doch du solltest dir lieber jemanden aussuchen, der weniger … Dieser Bengel hat hier keine Zukunft, das weißt du.«
Und wir?, dachte Wynter unvermittelt. Haben wir hier eine Zukunft? Laut sagte sie: »Ich gehe nur nachsehen, ob sie etwas brauchen. Ich bin gleich zurück.«
Doch Lorcan hielt ihre Hand fest, als sie aufstand. »Wyn …« Er suchte nach Worten. »Er … der Hadraer … er hat offensichtlich einiges durchzustehen gehabt. Manchmal, wenn ein Mann Schlimmes erlebt hat, kann er … Wenn er dann endlich in Sicherheit und ohne Augenzeugen ist, verhält er sich möglicherweise auf eine Art, die er vor einer Frau nicht zeigen möchte.«
Der Unmut war ihm anzusehen – er konnte dieser plötzlich erwachsenen Ausgabe seiner Tochter nicht richtig erklären, wie unmännlich sich Christopher fühlen musste, wenn sie seine Schwäche sah. Wynter ihrerseits war bestürzt über seine Verlegenheit und auch darüber, dass er sie gerade als »Frau« bezeichnet hatte.
»Ist schon gut.« Verunsichert tätschelte sie ihm die Hand. »Ich bin ja gleich zurück.«
»Wynter …«
Argwöhnisch drehte sie sich im Türrahmen noch einmal um. »Ja?«
»Die Wachen sollten dich nicht sehen. Nimm lieber den Geheimgang.«
Ihre Verblüffung brachte ihn zum Glucksen, und er krümmte sich vor Ausgelassenheit leicht zusammen.
»Wer hat dir davon erzählt?«, fragte sie.
Wieder gluckste er – eine etwas rostige Version seines gewohnten dröhnenden Lachens – und scheuchte sie mit einer atemlosen Geste aus dem Raum. »Wer hat mir davon erzählt?«, keuchte er. »Wer mir davon erzählt hat, ha! Das ist ja ein Spaß! Was glaubst du denn, Mädchen, wer ihn gebaut hat? Wer mir davon erzählt hat, also wirklich!«
Er lachte immer noch in sich hinein, als sie an dem Cherub drehte und in die Dunkelheit des geheimen Gangs schlüpfte.
 
 
»Razi?« Wynter klopfte an der Wand und drückte leicht gegen die Wandtafel. Zu ihrer Überraschung glitt diese widerstandslos auf, und sie zögerte, weil sie nicht einfach unangekündigt eintreten wollte. Aus dem hinteren Raum – Christophers Schlafkammer – hörte sie leises Murmeln. In der Luft hing ein scharfer, medizinischer Geruch, der aber gegen den schweren Kerkergestank nichts ausrichten konnte. Offenbar waren die Fensterläden geschlossen, trüber Kerzenschein flackerte im Dämmerlicht.
»Razi?«, rief sie nun schon etwas lauter und setzte zaghaft einen Fuß über die Schwelle.
Da kam er aus Christophers Kammer. Er trug immer noch die Sachen vom Vorabend, nur der lange Mantel fehlte. In der Hand hielt er ein blutiges Tuch. Er warf einen Blick über die Schulter, bevor er auf sie zuging, die Miene nicht erkennbar, da er vom Kerzenschein in den Schatten trat.
»Du darfst noch nicht hier sein.« Er nahm sie am Ellbogen und steuerte sie zurück in den Geheimgang. »Er braucht noch etwas Zeit.«
»Warte, Razi, warte!« Sie entwand sich seinem Griff und hinderte ihn daran, sie aus dem Raum zu schieben, indem sie ihm eine Hand auf die Brust legte. »Wie geht es ihm? Ich will es nur wissen.«
Unerbittlich drängte Razi sie weiter zurück, bis sie ihn hart auf die Brust schlug. »Hör auf damit, Razi! Hör auf!«
Er stieß ein eigenartiges leises Oh aus und wich zurück, die Hände entschuldigend erhoben.
Sofort trat sie ein paar Schritte vor. »Wie geht es ihm?« Sie blickte zu Razi auf.
»Er braucht ein Bad«, stieß er hervor. »Und er hat schreckliche Kopfschmerzen. Du kannst jetzt nicht zu ihm, Wynter. Er braucht etwas Zeit …«
Da rief Christopher leise aus dem Nebenraum: »Razi.« Es war kaum zu hören, trotzdem drehte sich Razi auf dem Absatz um und verschwand blitzschnell im anderen Zimmer. Wynter blieb stehen und lauschte der gedämpften Unterhaltung. Sie fühlte sich unbehaglich, aus dem Gleichgewicht gebracht.
»Lass mich sie sehen.« Christophers Stimme klang sanft, aber was er sagte, war keine Bitte.
»Chris, du musst dich erstmal …«
»Ich muss sie sehen.«
»Es geht ihr gut, das habe ich dir doch schon gesagt.«
Und dann bettelte Christopher plötzlich, in demselben leisen Raunen, und es war Razi unmöglich, der Verzweiflung in seiner Stimme zu widerstehen.
Also erschien er wieder im Türrahmen, im Gegenlicht bildete er nur einen langen, schmalen Umriss. »Komm«, sagte er still.
Christopher saß an einem kleinen Tisch, um ihn herum Fläschchen und Phiolen und Tücher und eine Schüssel voll dampfenden Wassers. Er war in ein weites, bunt gestreiftes Gewand nach Art der Beduinen gehüllt und hatte das schmutzige Haar aus dem Gesicht gebunden. Immer noch hielt er den Nacken steif und zitterte, auch die Augen konnte er nicht weit öffnen. »Wynter?« Man sah ihn kaum die Lippen bewegen.
»Ja.«
»Ich kann dich nicht sehen.«
Sie trat näher in den Lichtkegel. Er senkte den Kopf, bemühte sich, sie durch die Schwellung in seinem Gesicht im schwachen Kerzenschein zu erkennen.
»Haben sie dir wehgetan?«
Die Frage kam so unvorbereitet, dass Wynter nicht sofort antwortete. Da beugte er sich vor, sein Atem beschleunigte sich, er zog die Augenbrauen zusammen und ächzte vor Schmerz. Sie konnte ihn kaum verstehen, als er drängte: »Antworte mir. Du musst es mir sagen. Haben sie dir wehgetan?«
Sie trat noch näher und schluckte ihren Ekel vor dem furchtbaren Gestank hinunter. »Nein, Christopher. Niemand hat mir wehgetan.«
Der Zweifel in seiner Miene war nicht zu übersehen, also zwang sich Wynter, mit größerer Bestimmtheit zu wiederholen: »Niemand hat mir etwas getan, Christopher. Ich habe eine ruhige Nacht in meinem eigenen Bett verbracht.«
Nun erst glaubte er ihr, ein erleichtertes Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. »Aaaaaah«, seufzte er, die Augen glitzerten gebrochen durch die fast geschlossenen Lider. »Das ist sehr gut. Das ist wundervoll …«
»Ich lasse dich jetzt allein, damit du baden kannst.«
Er nickte steif und schloss die Augen wieder. Durch seinen geschundenen Mund konnte er nur zaghafte, kurze Atemzüge machen. Der Schmerz überwältigte ihn einen Augenblick lang.
»Dann komme ich dich später besuchen?«
Er rührte sich nicht, und sie dachte, er wäre vielleicht eingedöst.
Doch als sie sich zum Gehen wandte, hörte sie ihn plötzlich eindringlich sagen: »Versprichst du es? Du würdest es uns doch sagen … wenn sie dir etwas angetan hätten?« Warum fragte er das nur immer wieder? Wynter überlegte, ob er vielleicht im Fieber redete. »Es … Wenn man über solche Dinge nicht spricht …«. Seine Hände in den weiten Ärmeln begannen zu zittern, und er zog sie an die Brust. Dann bebten auch die Lippen, und sein Atem ging rasch und stoßweise, während er den Satz zu beenden versuchte. »Dann … werden sie zu M-Maden im Kopf. Wenn man nicht davon erzählt. Sie fressen einen auf.«
»Ich schwöre es«, sagte Wynter. »Ich schwöre es dir, Christopher. Niemand hat Hand an mich gelegt.«
Nun legte Razi ihr die Hände auf die Schultern und schob sie aus dem Zimmer. Sie wehrte sich nicht. Erst, als sie schon halb im geheimen Durchgang stand, kam sie wieder zu sich, hob einen Arm und stemmte sich gegen ihn.
»Was sollte denn das?«, zischte sie.
»Nichts, nichts. Ich erkläre es dir später.«
»Herrgott nochmal, Razi!« Allmählich machte er sie wirklich wütend. Doch ihr Zorn verflog sofort, da er mit der Hand ein Schluchzen erstickte und den Kopf auf ihre Schulter sinken ließ. Ein kurzer, lautloser Tränensturm entlud sich an ihrem Hals. Sie schlang die Arme um ihn und flüsterte: »Oh, Razi, ist schon gut. Es ist ja gut. Es ist vorbei. Er ist in Sicherheit.«
Plötzlich hustete er, schob sie von sich weg und rieb sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. »Er ist immer noch ein bisschen verwirrt«, sagte er gepresst. »Sie haben ihn die ganze Nacht wach gehalten und ihm gedroht, ihn auf den Stuhl zu bringen. Einmal haben sie ihn sogar … darauf festgebunden. Auf dem Stuhl.« Er atmete ruckartig ein und aus. »Haben ihn … auf die Inquisitoren warten lassen, die nie kamen.«
Sie blickten einander an, beide für einen Augenblick schier blind vor Wut, dann fuhr Razi leise fort: »Da war eine Frau, und auch ein Mann. Aber die Frau … die konnte er hören. Sie haben ihm gesagt, du seist es. Die ganze Nacht lang dachte er, das arme Geschöpf wärst du.«
Wynter spürte das Blut aus ihren Wangen strömen. Was er durchgemacht haben musste! Dann dachte sie an die Frau. »Jusef Marcos’ Witwe?«
Razi nickte neben ihr in der Dunkelheit.
»Sie … sie haben ihm aber nicht mehr angetan als …«
»Mehr als was, Wynter?« Endlich kochte Razis Zorn über, und er erhob die Stimme, die Schultern abwehrend nach vorn gezogen. »Mehr, als ihn gegen einen Baum zu schlagen? Mehr, als ihn in dieser grauenhaften Kammer einzusperren? Mehr, als ihn die ganze Nacht zu quälen, bis er vor Sorge und Furcht nicht mehr Manns genug ist …«
»Razi Königssohn«, mahnte Christophers sanfte Stimme aus dem Nebenraum. »Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mir im Beisein einer so reizvollen Frau nicht die Männlichkeit absprächest.«
Das klang so sehr nach dem alten Christopher, dass sie beide unwillkürlich lachen mussten. Razi legte sich die Hand auf den Mund, matt und rastlos blickte er zur Tür. Da rannte Wynter mit einem Mal zurück.
Ohne darüber nachzudenken, was sie da tat, beugte sie sich über Christopher und drückte ihn heftig, bis er stöhnte und gequält nach Luft schnappte. Dann küsste sie rasch und sanft seine zerschundenen Lippen. So schnell sie gekommen war, stand sie schon wieder an der Tür.
Er legte sich die Hand auf den Mund. Seine Augen waren unter den ganzen Schwellungen nicht zu deuten, doch auf seinen Lippen lag eindeutig ein Lächeln. »Razi sollte dich besser entlausen, Mädel. Ich bin im Moment ein regelrechtes Paradies für Ungeziefer.«
»Bis später, Christopher«, verabschiedete sie sich leise und kehrte durch den Geheimgang zurück in die Kammer ihres Vaters.
Moorehawke 01 - Schattenpfade
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