17
Die Fahrt hätte auf der 95 Nord nicht so lange gedauert, aber da ich keine Eile hatte, nahm ich die 1A, die an verschlafenen Städtchen wie Topsfield, Rowley und Georgetown vorbeiführte. Etwa auf halbem Wege nach Plum Island hielt ich am Straßenrand, kroch unter den Rover und riß die LoJack-Box ab. Ich hatte keine Lust, Malloy meine Bewegungen auf einem Computerbildschirm mitverfolgen zu lassen.
Als ich die Zufahrtsstraße überquerte und vor dem Hauptgebäude des Waltons' hielt, ging bereits die Sonne unter. Das einstöckige Holzhaus lag direkt am Strand. Ich stellte den Wagen ab und stieg die Vortreppe hinauf zur Rezeption. Niemand war da, aber ich hatte telephonisch unsere alte Hütte reserviert. An der Tür hing ein Umschlag mit meinem Namen. Der Schlüssel zu Hütte 6 steckte darin.
Die Hütte sah noch so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte –klein, ländlich, Boden und Decke aus unlasierten Kiefernbrettern. In einer Zimmerecke befand sich die Kochnische. Bett und Wohnbereich, von dem Glastüren direkt zum Strand führten, waren durch eine Falttür getrennt. Ich beobachtete die Wellen, die gegen den Sand schlugen und in einer weißen Schaumkrone nur wenige Meter vor meinen Füßen ausliefen. Ein Vogelschwarm flog in Formation über mich hinweg. Die friedliche Stimmung brachte mir meine innere Anspannung nur noch deutlicher zu Bewußtsein. Es war i8:25. Aus der Jackentasche holte ich eine Spritze und die mitgebrachten Ampullen Haldol und Ativan. Ich zog je drei Kubikzentimeter auf, die Dosis, mit der ich als Assistenzarzt in der Notaufnahme aufgebrachte Patienten beruhigt hatte. Dann kauerte ich mich vors Bett und legte die Spritzen am Kopfende auf den Boden.
Ich brauchte Ruhe, doch ich wollte auf keinen Fall einschlafen. Also setzte ich mich aufs Sofa und schaltete die Abendnachrichten ein. Ich war zwar zu aufgeregt, um die Berichte zu verfolgen, aber das beruhigende Stimmengemurmel des Moderators und der Korrespondenten lenkte mich vom Grübeln ab.
Zehn Minuten später hörte ich ein Klopfen – erst leise, dann lauter. Ich stellte den Fernseher ab, ging zur Tür, holte tief Luft und öffnete.
Kathy stand da, eine schwarze Reisetasche aus Leder in der Hand.
Ich starrte sie an, als ob ich in den Wahnsinn hineinblicken könnte, der sich hinter der Fassade verbarg. Am liebsten hätte ich sie an den Haaren in die Hütte geschleppt und sie die Schmerzen spüren lassen, die sie anderen zugefügt hatte. Und mir. Allerdings bezweifelte ich, daß es mir gelingen würde, Gefühle in ihr auszulösen. Sie war durch ihr Leiden abgestumpft.
»Da bin ich«, sagte sie. Sie biß sich auf die Unterlippe und blickte auf ihr hellrosa Kleid herab. Es war einem Herrenhemd nachempfunden und mit Kunstperlen anstelle von Knöpfen versehen. Sie hatte es so weit geöffnet, daß ich den sanften Ansatz ihrer Brüste erkennen konnte. »Ich habe mir bei Ann Taylor was Neues gekauft, damit ich hübsch für dich bin.« Achselzuckend scharrte sie mit dem Fuß.
Ich bemerkte, daß die Schuhe ebenfalls neu waren – Oxfordslipper aus schwarzem Lackleder. »Du siehst hinreißend aus«, meinte ich.
»Darf ich reinkommen?«
Ich streckte die Hand aus. Sie ergriff sie. Eigentlich hatte ich erwartet, daß mich ein kalter Schauer überlaufen würde, doch nichts dergleichen geschah. Ihre Hand fühlte sich warm und vertraut an, und ich wunderte mich, wie normal es mir erschien, sie in die Hütte und in meine Arme zu ziehen. Aber warum erstaunte mich das? Schließlich war sie noch dieselbe Frau, mit der ich Hunderte von Malen geschlafen hatte. Ihr Parfüm hatte eine beruhigende Wirkung auf mich, und als sie meinen Hals liebkoste, stöhnte ich tatsächlich lustvoll auf. Erst als wir uns küßten und unsere Lippen sich öffneten, wurde ich von Widerwillen ergriffen. Ich wich zurück.
»Warum bist du plötzlich so schüchtern?« flüsterte sie.
Mein Kiefer verkrampfte sich. Ich packte sie mit beiden Händen am Kragen und riß ihr das Kleid auf bis hinunter zu den Schenkeln. Dann betrachtete ich sie. Sie war nackt, frisch rasiert und von Kopf bis Fuß so traumhaft schön wie beim erstenmal.
Sie lächelte und biß sich wieder auf die Unterlippe. »Sei so grob, wie du willst. Ich habe es verdient.« Ich sah zu, wie sie ihr Kleid auszog und aus den Schuhen schlüpfte. Mein Zorn und meine Erregung, schon zuvor kaum voneinander zu unterscheiden, wurden nun eins. Ich ergriff ihre Schultern und schubste sie mit dem Gesicht nach unten aufs Bett. Sie sträubte sich kaum, als ich meinen Gürtel aus den Schlaufen zerrte und ihr die Hände fesselte. Dann knotete ich den Lederriemen am Bettpfosten fest. Ich kniete hinter ihr. Ihr blondes Haar breitete sich auf ihrem Rücken aus, ihr Hintern zitterte leicht. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Ich zog ihre Hüften hoch und riß ihr an den Haaren den Kopf zurück. Wie gerne hätte ich in sie hineingestoßen, doch eine Erinnerung hielt mich zurück. Es war jene bedeutungsschwere Frage, die Trevor mir bei unserer Begegnung im Lynx Club gestellt hatte: Warum ruft sie ›Daddy‹, wenn ich es ihr von hinten besorge?
Also ließ ich sie los und rieb mir kräftig die Augen.
Kathy drehte sich auf den Rücken. »Was ist?« wollte sie wissen und spreizte die Beine. »Willst du mich lieber so?«
»Ich mußte gerade an deinen Vater denken.«
»An was?«
»An deinen Vater. Ich habe daran gedacht, wie er dir wehgetan hat.«
»Mein Vater würde mir nie wehtun.« Sie schloß die Beine. »Er hat mich geliebt.«
Ich setzte mich auf die Bettkante. »Ich habe einen Brief gefunden, in dem es um Blaire ging. Du hast ihm geschrieben, nachdem du sahst, wie er sich nachts in ihr Zimmer schlich.«
»Warum reden wir über so einen Schwachsinn? Binde mich los.«
»Erzähl mir, wie sie gestorben ist.«
»Du bist völlig verrückt.« Sie zerrte an dem Lederriemen und versuchte sich zu befreien.
»Hast du gesehen, wie der Brand ausbrach? Ich will es wissen. Ich muß es wissen.«
Ihre Augen verengten sich vor Wut. »Du bist so ein Idiot«, sagte sie mit Kinderstimme. Sie zerrte kräftiger an dem Gürtel, aber die Knoten wurden dadurch nur fester. »Du brauchst nicht zu fragen, wo ich war, als Blaire ihre Strafe bekam.« Nun klang sie wieder wie sonst. »Du weist es doch sowieso schon.«
»Strafe?«
Wieder die Kinderstimme. »Weil sie eine Petze war.«
Offensichtlich schwankte Kathy zwischen den erwachsenen und kindlichen Teilen ihrer Psyche hin und her. Im Psychiaterjargon nennt man das Dissoziieren . »Hast du das Feuer gelegt?« fragte ich.
»Blaire ist schuld daran, weil sie mir Daddy weggenommen hat«, wimmerte sie. »Ich wollte die Streichhölzer nicht benutzen. Ich habe es zuerst anders probiert.«
»Wie?«
»Ich habe mir die Haare abgeschnitten ... da unten. Daddy sagte, er mag keine Mädchen, die behaart sind wie Affen.«
»Aber das hat nichts genützt.«
»Doch.« Sie biß sich wieder auf die Unterlippe und errötete. »Eine Weile. Bis ich zu bluten anfing.«
»Und dann?« Ich stand auf, ging zum Fußende des Bettes, wo Kathy ihre schwarze Ledertasche hingeworfen hatte, und hob sie auf.
»Und dann war es vorbei. Also ist unter Blaires Bett ein Feuer ausgebrochen, während sie schlief.«
Mir traten die Tränen in die Augen, und ich mußte das Zittern meiner Hände unterdrücken, um die Tasche öffnen zu können. Darin befand sich Kathys zusammengeknüllter OP-Anzug. Dazwischen steckte ein Stück Rohr, aus dem der mit Fell überzogene Griff meines Jagdmessers ragte. Ich zog es heraus. Die Klinge war blutverkrustet. »Was ist mit den anderen? Sarah und Monique zum Beispiel?«
Kathy verzog die Lippen. »Das waren Nutten«, antwortete sie. »Sie haben mich gedemütigt.«
»Und der Mann? Michael?«
»Ekelhaft.« Sie zerrte so fest an dem Riemen, daß er ihr die Haut einriß. Einen Moment wirkte sie ganz ruhig und betrachtete das Blutrinnsal, das ihr den Arm hinablief. Doch dann sträubte sie sich noch heftiger. Der Blutstrom wurde stärker. »Du hast eine ausgelassen, Frank. Anscheinend macht es dich ja geil anzuhören, wozu du und Trevor mich getrieben habt. Du weißt schon, wen ich meine.Rrrr...«
»Bitte nicht, Kathy!«
»Rrrrrachel.«
Mir brach der Schweiß aus. Meine Schläfen pochten. Ich umfaßte das Messer fester und kehrte zum Bett zurück. »Deine kleine Nutte, die Stripperin.«
Ich setzte mich rittlings auf Kathys Handgelenk. Sie trat um sich, aber es war zwecklos. Ich stellte mir vor, wie ich ihr das Messer unterhalb des Brustbeins in den Leib stieß und ihr die Aorta durchtrennte. Oder noch besser: wie ich sie zwang zuzusehen, während ich ihr die Brüste abschnitt. Ich ließ das Messer sanft über ihre Brustwarze gleiten. Dann fielen mir Rachels Worte ein: Der Mensch ist nicht von Natur aus schlecht.
Ich hielt inne, schloß die Augen und erinnerte mich, daß Rachel mir etwas beigebracht hatte, was kein Psychiatrieprofessor mir je hatte eintrichtern können – daß jene, die es wagen, die Augen in der Dunkelheit zu öffnen, von einem strahlenden Licht gegrüßt werden.
Ich stand auf, kniete mich neben das Bett und holte die Spritze hervor.
Sie sah es. »Wehe, wenn du mir eine Spritze gibst«, keuchte sie. Aus meiner Tasche zog ich einen Riemen zum Abbinden und wickelte ihn um ihren Oberarm.
»Laß mich los!« schrie sie.
Ich malte mir aus, wie Rachel um ihr Leben gebettelt hatte. Mir schwindelte. Ich entfernte die Schutzkappe von der Nadel. Obwohl ich mich bemühte, Kathy festzuhalten, sträubte sie sich so heftig, daß die Nadel blutige Kratzer auf ihrem Arm hinterließ. Ich bemerkte, daß sie nicht einmal das Gesicht verzog. Erst beim dritten Versuch gelang es mir, ihr die Nadel in den Bizeps zu stechen. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf Kathy, damit die Nadel nicht wieder herausrutschte, und drückte langsam den Kolben herunter.
Sie starrte die leere Spritze in meiner Hand an. »Ich bring dich um, du mieses Schwein!« Sie zappelte und trat zwar noch ein wenig, aber ihre Bewegungen wurden durch das Haldol und das Ativan schon schwächer. Schließlich drehte sie den Kopf weg und fing an zu schluchzen. Ich stand auf, setzte mich auf die Bettkante und wartete, bis sie tief und regelmäßig atmete. Nach einer knappen Minute lag sie reglos da.
Ich verabreichte ihr noch eine Dosis Ativan, damit sie auch nicht aufwachte, während ich den Rover holen ging. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern fuhr ich auf den Strand und parkte vor der gläsernen Schiebetür, die in die Hütte führte. Eine Decke vom Rücksitz in der Hand, kam ich wieder herein.
Kathy hatte sich nicht gerührt. Sie lag mit angezogenen Beinen auf der Seite, die Hände noch immer über dem Kopf gefesselt, so daß es aussah, als würde sie beten. Ich fühlte ihr die gerunzelte Stirn. Dann breitete ich die Decke über sie und steckte sie an Schultern und Knien fest.
Ich löste den Gürtel, mit dem ihre Handgelenke ans Kopfbrett gebunden waren, und hob sie in meine Arme. Ihr Kopf sank an meinen Hals, so daß ich ihren warmen Atem spüren konnte. Ich trug sie ins Auto, legte sie auf den Rücksitz und fesselte ihr wieder die Hände.
Danach stieg ich ein, fuhr über den Strand zur Straße und bog in südlicher Richtung in die 1A ein. Zurück nach Rowley. Es dauerte nur zwanzig Minuten, die Stadtmitte zu erreichen. Doch mindestens genauso lange brauchte ich, um mich durch Seitenstraßen und durch die jungfräulichen Wälder vorzuarbeiten, die die Austin Grate Clinic umgaben. Diese hundert Jahre alte psychiatrische Heilanstalt wurde von ihrem Inhaber und Chefarzt Matt Hollander geleitet.
Hollander und ich hatten uns während meiner Tätigkeit als Assistenzarzt in Tufts kennengelernt. Damals war er in seinem letzten Dienstjahr und hatte sich erboten, einen Berufsanfänger unter seine Fittiche zu nehmen. Ich hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden. Er war kahlköpfig und so übergewichtig, daß er beinahe wie eine Kugel wirkte. Jede Bewegung bereitete ihm Mühe, aber sein Verstand arbeitete in einem Tempo, bei dem meiner heißgelaufen wäre. »Ich würde ja gerne etwas für meine Gesundheit tun, doch dann wäre es aus und vorbei mit mir«, sagte er eines Tages bei einer Portion Pommes frites in der Krankenhauskantine. »Irgend etwas in diesem Fett schmiert die Räder in meinem Oberstübchen. Ich weiß, daß das so ist, auch wenn ich es nicht beweisen kann – aber das würde ich wahrscheinlich auch noch schaffen, wenn man mir die Zeit dazu ließe.« Noch ein paar Pommes frites. »Aber warum sollte ich mir die Mühe machen, denn schließlich ist es eine allgemein bekannte Tatsache. Deshalb ist der Nikolaus dick, und der Grinch, der im Märchen den Kindern die Weihnachtsgeschenke klaut, ist mager. Wäre es umgekehrt, würde die ganze Geschichte unglaubwürdig.« Ein großer Schluck Vanille-Milchshake. »Vergleichen Sie mal Churchill und Hitler. Oder sehen Sie sich Buddha an. Minnesota Fats in Haie der Großstadt. Benjamin Franklin. Pavarotti.« Kekse mit Cremefüllung. »Überlegen Sie doch, wann Sie das letztemal einen dicken Penner gesehen haben. Und Ihre Mörder, Drogensüchtigen und Diebe sind fast alle klapperdürr.«
Auch nach dem Ende meiner Tätigkeit hatten Hollander und ich weiter engen Kontakt gehalten. Während ich meine Praxis eröffnete und wieder aufgab, erwarb er mit dem Vermögen seiner Familie ein halbes Dutzend erstklassiger psychiatrischer Kliniken. Er hatte mich mehr als einmal gebeten, die Station für Sicherheitsverwahrung in Austin Grate zu übernehmen, eine geschlossene Abteilung mit fünfundzwanzig Betten, in der gefährliche Patienten untergebracht waren. Er hatte sogar versucht, mich zu bestechen, indem er mir eine der beiden Prunkvillen auf dem Klinikgelände als Privatwohnung anbot. Aber ich hatte sein Angebot stets ausgeschlagen.
»In Rowley ist wohl nicht genug los für Ihren Geschmack«, hatte er einmal bemerkt. »Sie mögen die Laster der Großstadt.«
»Ich würde einen miserablen Mönch abgeben«, entgegnete ich.
Er schüttelte den Kopf. »Sie wären ein verdammt guter Mönch.
Sie haben sich nur für eine andere Religion entschieden. Und die können froh sein, daß sie Sie haben.« Damals hatte ich ihm nicht ganz geglaubt. Inzwischen glaubte ich ihm noch weniger.
Als ich in die kreisrunde Einfahrt einbog, schaltete ich die Scheinwerfer aus. Ich ließ den Motor laufen und stieg die Stufen hinauf zu seiner Tür. Noch ehe ich den zwiebelförmigen Türklopfer betätigen konnte, ging schon das Licht auf der Veranda an. Dann öffnete sich die Tür.
Hollander füllte den ganzen Türrahmen aus. Er trug ein weißes Hemd, das man auch als Segel hätte benutzen können. »Clevenger!« rief er aus und klatschte in die Hände. »Mein Freund!«
Ich konnte nicht länger an mich halten. Mein Kinn zitterte, und meine Augen füllten sich mit Tränen. »Was zum Teufel ist denn mit Ihnen los?« Er umarmte mich und tätschelte mir den Kopf, während ich weiterschluchzte. Offenbar konnte er ins Innere des Rover sehen, denn kurz darauf machte er sich sanft los und polterte die Stufen hinunter. Ich beobachtete, wie sich seine Schultern keuchend hoben und senkten, als er durchs Beifahrerfenster spähte. Dann wirbelte er ungewöhnlich anmutig herum und wies mit dem Finger auf mich. »Bringen Sie sie ins Haus.«
Er schaltete das Verandalicht aus. Ich trug Kathy ins Wohnzimmer und legte sie aufs Sofa. Hollander sank in einen gewaltigen, mit Gobelin überzogenen Lehnsessel. »Fangen Sie an«, schnaufte er. »Lassen Sie nichts aus.« Ich lief im Zimmer auf und ab, und die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Ich erzählte ihm, was Kathy Sarah, Monique und Michael angetan und daß sie mir Rachel genommen hatte. Ich berichtete ihm von Blaire, von Kathys Vater und von Lucas. Und ich beichtete, daß ich die Augen vor Kathys Leid verschlossen hatte, das stark genug gewesen war, um Wut, Mordlust und Eifersucht zu wecken.
»Sie haben diese Tänzerin Rachel geliebt«, stellte Hollander fest. Er ließ mich keine Sekunde aus den Augen. »Ja.«
Er wies mit dem Kopf auf Kathy. »Wenn ich auf den Alarmknopf drücke, steht in weniger als zwei Minuten ein Polizist vor meiner Tür.« Er hielt inne. »Oder hatten Sie vor, irgendwo in meinem Wald ein Loch zu graben?« Ich blieb stehen. »Sie hat keine Chance, wenn ich sie der Polizei übergebe. In diesem Bundesstaat ist schon seit Ewigkeiten niemand mehr mit geistiger Unzurechnungsfähigkeit durchgekommen.«
»1981, das Volk gegen Barker.«
»Vor sechzehn Jahren.« Ich schüttelte den Kopf.
»Wenn Sie den Gouverneur fragen, ist Barker dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Um ein Haar wäre er auf dem elektrischen Stuhl geendet.«
»Kathy hat sich doch nicht freiwillig entschieden, ein Ungeheuer zu werden, Matt. Sie ist nicht als Mörderin geboren.«
»Juristisch betrachtet, spielt das keine Rolle.«
»Ich möchte, daß sie eine Therapie bekommt.«
»Wäre Ihre Rachel damit einverstanden gewesen, daß die Frau, die sie ermordet hat, geheilt wird?«
»Ich glaube schon. Bevor ich Rachel kennenlernte, hätte ich es wahrscheinlich selbst nicht gewollt.«
»Offenbar war sie eine außergewöhnliche Frau.«
Es schnürte mir die Kehle zu. »Kathy muß in die geschlossene Abteilung«, stieß ich hervor.
»Unmöglich. Die Geschworenen werden das nie zulassen.«
»Aber wir könnten dafür sorgen. Jetzt sofort.«
»Oh ... ich verstehe. Ich habe mir schon gedacht, daß es darauf hinausläuft.« Er verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Wissen Sie, Frank, Sie haben wirklich Nerven.« Er keuchte wie ein Blasebalg. »Sie verlangen, daß wir eine Reihe von Schwerverbrechen begehen. Aus Kathys Perspektive handelt es sich um Freiheitsberaubung, aus der des Richters um Beihilfe zur Flucht. Und das ist erst das Vorspiel.«
Ich sah ihn an. In seinem Gesicht malten sich Widerwille und Entschlossenheit, so daß ich schon befürchtete, er würde Kathy selbst der Polizei übergeben. »Tut mir leid, Matt«, sagte ich. »Ich wußte nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Es war nicht richtig, daß ich Sie gebeten habe ... Ich lasse mir schon etwas einfallen.« Ich ging zu Kathy hinüber und bückte mich, um sie hochzuheben.
»Natürlich könnten wir sie nicht unter ihrem richtigen Namen einweisen«, fuhr er fort.
Ich drehte mich um und starrte ihn an.
»Schließlich möchte ich nicht, daß die Hüter des Gesetzes mich am Arsch kriegen. Also werde ich sie unter einem Pseudonym als Privatpatientin aufnehmen und mir eine glaubhafte Krankengeschichte ausdenken. Keine Post, keine Anrufe, keine Besucher.« Er machte eine Pause. »Nicht einmal Sie.«
Ich nickte. Doch dann wurde mir die Tragweite unseres Plans klar. »Sie haben recht. Wir könnten beide hinter schwedischen Gardinen landen. Behinderung der Justiz, Mißachtung ...«
»Mißachtung?« Er beugte sich ein wenig vor. »Kein Gericht ist in der Lage, auch nur zu erahnen, wie zuwider mir diese heruntergekommene Gesellschaft ist. Ich würde mit Vergnügen den nächstbesten Richter roh zum Frühstück verzehren, wenn ich einen finde, der nicht allzu zäh ist.«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
»Wird jemand sie vermissen, wenn sie einfach verschwindet?«
»Die Geschichte lautet folgendermaßen: Wir haben uns getrennt, und sie ist abgehauen. Ich kenne jemanden, der einen Auslandsflug ohne Rückticket organisieren und dafür sorgen kann, daß der Flugschein auch eingelöst wird.«
»Dieser Lucas wird vermutlich ein furchtbares Theater wegen ihr veranstalten.«
»Ganz bestimmt. Er wird seine gesamte Verteidigung darauf aufbauen. Die Staatsanwaltschaft hat sowieso keine lückenlosen Beweise. Es würde mich nicht wundern, wenn er freigesprochen wird.« Ich blickte zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Was ist?«
»Ich weiß nicht, ob ich es über mich bringe, einem Typen wie ihm zu helfen.«
»Deswegen hängt ja auch Jesus Christus am Kreuz und nicht Sie. Einige Leute können nur von Gott geheilt werden. Sie und ich hin gegen sind nur Menschen und haben unsere Grenzen. Und deshalb brauchen wir auch Gott.«
Ich stand in diesem Augenblick zu sehr unter Druck, um weiter über Hollanders Bemerkung nachzudenken. Aber sie sollte mir im Laufe der Jahre immer wieder einfallen, wenn ich mich ohnmächtig fühlte und das Bedürfnis hatte, mir selbst zu verzeihen.
Hollander seufzte. »Sie wissen, daß ein gerissener Anwalt Kathy vielleicht aufgrund einer Formalität freikriegt, wenn ich jetzt den Alarmknopf drücke. Hier in Boston gibt es jede Menge Schlitzohren. Auf diese Weise würde sie für unbegrenzte Zeit eingesperrt. Für viele Jahre, möglicherweise sogar Jahrzehnte. Irgendwann könnte ich sie dann in meine Klinik auf den Jungferninseln schaffen lassen. Oder nach Puerto Rico. Wer weiß? Ganz zu schweigen von dem Problem, was wir mit ihr anfangen sollen, falls sie wieder gesund wird.« Er sah mich eindringlich an. »Fühlen Sie sich wirklich wohl in Ihrer Haut, wenn Sie Richter und Geschworene spielen?«
Ich überlegte. »Warum nicht?« antwortete ich. »Richter und Geschworene haben ja offenbar auch kein Problem damit.« Wir verabreichten Kathy genügend Beruhigungsmittel, um sie bis zum nächsten Morgen schachmatt zu setzen. Ich schlief neben ihr in einem gewaltigen Himmelbett in einem von Hollanders Gästezimmern. Als ich eindöste, lag ich starr auf dem Rücken, so nah an der Bettkante, wie es nur irgend ging, ohne herunterzufallen. Doch als ich bei Morgengrauen kurz nach sechs aufwachte, war ich seitlich an sie gekuschelt. Einen Augenblick vergaß ich, wo wir uns befanden und was geschehen war. Aber als ich ihre Hand berührte, erinnerten mich die Lederfesseln wieder daran. Und dennoch blieb ich an sie geschmiegt liegen. Ich fühlte mich ruhig, eher traurig als von Grauen erfüllt, und empfand ebensoviel Mitleid wie Zorn. Ich schnupperte sogar verstohlen an ihrem Nacken.
Sie drehte sich zu mir um. »Wo sind wir ?« fragte sie.
»An einem sicheren Ort.«
Sie schloß die Augen und sank wieder aufs Kissen.
»Tut mir leid, daß ich dich nicht früher in Sicherheit bringen konnte«, flüsterte ich.
Hollander weckte mich, damit ich mich aus dem Staub machen konnte, bevor seine Pfleger Kathy holen kamen. Wir verabredeten, daß ich mich mindestens einen Monat lang nicht bei ihm melden würde.
Ich fuhr heim, blieb aber im Auto sitzen, weil ich es nicht schaffte, das Haus zu betreten. Ich sehnte mich nach einem Ort, an dem ich Rachel nah sein konnte.
Also machte ich mich auf den Weg nach Revere, bog in den Parkplatz des Lynx Club ein und betrat das Lokal. Im Lynx Club ist es tagsüber dunkler als nachts. Die Lichter am Laufsteg sind abgeschaltet. Die Musik dudelt nur aus zwei Lautsprechern, nicht aus zehn. Die Mädchen sind ein wenig älter und nicht so hübsch, und die Drinks sind stärker. Ich ging an zwei Männern im Anzug vorbei, die das Frühstück im Sonderangebot herunterschlangen, und setzte mich in eine Ecke. Elton Johns »Candle in the Wind« spielte, und eine Brünette im Ledergeschirr kam auf die Bühne. Als die Kellnerin erschien, bestellte ich einen Screwdriver, aber ich nahm nur einen kleinen Schluck. Ein verkrüppelter Rollstuhlfahrer war der einzige Gast in der Spannerecke. Als die Stripperin zu tanzen begann, zog er seine Brieftasche heraus und wedelte ihr mit einem Dollarschein zu. Sie hob ihr langes, schlankes Bein, streckte die Zehen wie eine Ballerina und schob das Stoffdreieck zwischen ihren Beinen weg. Mit einem Seufzen lächelte er mir zu. Ich lächelte zurück.
Wir alle sind verkrüppelt und verkorkst. Die meisten von uns bemühen sich verzweifelt, ihre Behinderungen zu verbergen und nicht daran zu denken. Durch einen alchimistischen Prozeß verwandelt unsere Seele unser Leid dann in Süchte, Magengeschwüre, Schlaganfälle, Haß oder sogar Krieg. Doch es gibt einige wenige Menschen, die man eigentlich als Engel bezeichnen könnte. Sie treten überraschend in unser Leben, und mit ihrer Hilfe lernen wir, nicht mehr vor uns selbst zu fliehen. Und als ich allein und voller Schmerz im Lynx Club saß, wußte ich, daß ich das Glück gehabt hatte, einem solchen Menschen zu begegnen.