7
Natürlich durfte in meiner letzten Nacht in der Freiheit das Koks nicht fehlen. Da ich nicht riskieren wollte, noch einmal etwas vor dem Emerson zu kaufen oder mir das Zeug nach Hause liefern zu lassen, machte ich mich auf den Weg zum Pug's, einer Kneipe an der Straße nach Lynn. Willie Hightower, von dem ich öfter was bekam, arbeitete hin und wieder dort. Die restliche Zeit war er Drummer bei einer Heavy Metal Band, die Fixierung hieß. Den Namen hatte ich mir ausgedacht. Zum Glück war er da.
Ich brauchte Willie gar nicht zu sagen, was ich wollte. Bei ihm fühlte ich mich ein wenig wie ein Gast, der in seinem Stammlokal automatisch das Frühstück vorgesetzt kriegt. Also warf ich einfach meine Marlboroschachtel auf den Tresen. »Wie läuft's mit der Musik?«
»Fetzt richtig rein«, antwortete er. Er räusperte sich und warf sein langes, schwarzgefärbtes Haar zurück. Während er mir ein Miller-Bier einschenkte, sah er sich um. »Malloy war vorhin da. Er hat mich gefragt, ob du hier manchmal was kaufst.« Er stellte das Glas vor mich hin und nahm die Marlboroschachtel.
Ich nickte. Mein Herz klopfte wie wild.
»Selbstverständlich hab ich den Mund gehalten. Keine Angst. Aber ich finde, du solltest es wissen.« Die Marlboroschachtel verschwand hinter dem Tresen.
»Danke.«
»Und dabei habe ich diesem Fettwanst in den letzten anderthalb Jahren jeden Monat dreihundertfünfzig Dollar abgedrückt, damit er sich nicht blicken läßt.« Er räusperte sich wieder. Die Nerven. »Ich glaube, dir kann nichts passieren. Wahrscheinlich wollte er mir nur den Tip geben, mich bedeckt zu halten, weil du für die Stadt arbeitest. Da die Hancock bei den Bürgermeisterwahlen kandidiert, haben sie sicher keine Lust auf peinliche Zwischenfälle.« Er zündete sich eine Zigarette an und legte die Marlboroschachtel wieder auf den Tresen.
»Die Hancock will Bürgermeisterin werden?«
»Du weißt schon, Verbrechensbekämpfung und der ganze Mist. Die hält sich wohl für Isis.« Er drehte um und griff nach einer Ausgabe des Lynn Evening Item. »Lies selbst.«
»HANCOCK BEWIRBT SICH FÜRS BÜRGERMEISTERAMT«, lautete die Schlagzeile. Ich las die ersten Zeilen. Emma Hancock, erfahrene Mitarbeiterin der Polizei von Lynn und erster weiblicher Captain des Bundesstaates, hat angekündigt, sie werde für das Amt von Bürgermeister William McGinnis kandidieren. Hancock äußerte Bedauern darüber, daß ihre Arbeit durch die vom Rathaus angeordneten Mittelkürzungen beeinträchtigt werde. Im Fall ihrer Wahlwerde sie hart gegen Drogenmißbrauch und Gewalt durchgreifen.
Kein Wunder, daß die Hancock den Mord an Sarah so schnell wie möglich aufgeklärt sehen wollte. »Macht und Glaube. Diese Mischung wirkt schon seit Jahrtausenden.« Ich warf die Zeitung auf den Tresen. »Jetzt wissen wir, was sie denkt. Es bleibt nur noch die Frage nach ihrem Unterbewußtsein.«
»Dafür bist du zuständig. Ich schenke nur Getränke aus.« Ich lächelte. »Hast du für ihren Wahlkampf gespendet?«
»Klar doch. Malloy war auch aus diesem Grund hier; er wollte
Emmas Wahlkampfkasse füllen.«
Ich trank mein Bier halb aus und stand auf. »Schreib's mir auf die Rechnung.«
»Wie sagte Bogart noch mal? – ›Ihr Geld ist hier willkommen.‹«
»Hab ich mir fast gedacht.« Ich schob ihm fünf Zwanziger zu. »Aber verpraß es nicht gleich. Ich gehe morgen in die Therapieklinik.«
»Du weißt, daß ich mich immer freue, einen Kunden zu verlieren. Viel Glück.«
Als ich am Lynx Club ankam, war der Parkplatz fast besetzt. Ich holte mein Päckchen aus der Marlboroschachtel, streute eine dicke Linie auf die Klinge meines Jagdmessers und schnupfte sie. Nach dreißig Sekunden breitete sich ein angenehm taubes Gefühl in meiner Nase und Kehle aus. Ich schluckte mit geschlossenen Augen. Ich spürte nichts. Emma Hancocks Bürgermeisterwahlkampf war mir egal. Alle Sorgen waren mit einem mal vergessen. Ich schnupfte noch eine ordentliche Portion und ging hinein.
Der Rhythmus von »Hit Me With Your Best Shot« schlug mir entgegen. Rote und blaue blitzende Lichter blendeten meine Augen. Genießerisch betrachtete ich die üppigen Kurven zweier Blondinen, die nackt auf zwei runden Bühnen zu beiden Seiten des Laufstegs tanzten. Sie hielten sich an Ketten fest, die von der Decke herabhingen. Während die Musik sich steigerte, zogen sie sich mit gespreizten Beinen an den Ketten hoch und ließen sich durch die Luft wirbeln wie Figürchen auf einer Spieluhr. Ich setzte mich unter die Tänzerin, die ein rosafarbenes Halsband aus Lackleder trug, und atmete in tiefen Zügen die muffige Luft des Lynx Club ein.
Ich bestellte einen Black Label ohne Eis und zündete mir eine Marlboro an. Dann griff ich in die Tasche und warf einen Dollar auf die Bühne. Die Tänzerin, die aussah wie etwa zwanzig, ließ sich fallen und ging vor mir in Hockstellung. Sie war hübsch, wirkte mit ihren hohen Wangenknochen und dem vorstehenden Kinn aber ein wenig streng. Ich schaute ihr in die Augen, weil ich mich scheute, ihr sofort in den Schritt zu starren. Als sich unsere Blicke trafen, errötete sie. Dann wanderte ihr Blick zwischen ihre Beine, und ich folgte ihrem Beispiel. Bis auf ein kleines, schmutzigblondes Dreieck war sie rasiert, und als sie mit zwei Fingern ihre Schamlippen spreizte, erkannte ich, daß sie einen gepiercten Goldring trug. Vermutlich als Symbol der Unterwerfung unter irgendeinen Glückspilz von Lastwagenfahrer. Sie nahm meinen Dollarschein, streichelte sich damit und schob ihn dann in ihr Strumpfband. Danach rappelte sie sich auf, drehte sich um, bückte sich und blickte zwischen ihren gespreizten Beinen hindurch. Als ich ihr in die Augen sah, kam ich mir ziemlich dämlich vor, weil ihre auf dem Kopf standen. Sie zwinkerte mir zu und stolzierte auf ihren Stilettoabsätzen zur anderen Seite der Bühne.
Inzwischen war mein Scotch gekommen. Ich nahm erst einen kleinen Schluck und leerte dann das halbe Glas. Ich sah mich nach Rachel um, konnte sie aber nirgends entdecken. In der Spannerecke und an den langen Tischen zu beiden Seiten saß die übliche Mischung aus Geschäftsleuten, Bauarbeitern und Rockern.
Also drehte ich mich um und suchte mit den Augen die Bartheke gegenüber dem Laufsteg ab. Mein Blick glitt über einen Mann hinweg, der auf einem Hocker in der Nähe der Tür saß, und kehrte wieder zu ihm zurück. Er wandte mir den Rücken zu. »Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte ich vor mich hin. Ich musterte ihn gründlich, um einen Hinweis dafür zu finden, daß ich mich irrte. Doch es gab keinen Zweifel: Der Mann mit dem gewellten, grau-melierten Haar und dem dunkelblauen Anzug konnte nur Trevor Lucas sein. Ich biß die Zähne zusammen und bekam Herzklopfen. Als er den Kopf in den Nacken legte, um sein Glas zu leeren, erkannte ich deutlich seine Uhr und das goldene Armband von Cartier. Er wandte sich dem Laufsteg zu.
Ich folgte rasch seinem Beispiel und tat so, als beobachtete ich die Tänzerinnen. Aber eigentlich sah ich gar nichts, denn ich hatte die Augen geschlossen. In mir stieg eine unmässige Wut auf. Hastig trank ich aus und stellte mein Glas weg, um nicht in Versuchung zu geraten, es diesem Schwein in die selbstgefällige Fresse zu schleudern. Ich konnte es mir nicht leisten, die Beherrschung zu verlieren und in einen Schlamassel zu geraten – vor allem nicht in einem Stripteaseschuppen. Also holte ich tief Luft, öffnete wieder die Augen und konzentrierte mich auf das Mädchen, das sich gerade die riesigen Brüste mit Öl einrieb und an den Brustwarzen zupfte. Sie glänzten im bunten Licht. Als ich gerade wieder einen Dollar auf die Bühne warf, spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Ich betrachtete sie – schwarze Härchen auf den Fingern, polierte Nägel, ein goldener Siegelring. Es gab kein Entrinnen mehr. Ich stand auf. Meine Fäuste ballten sich. »Frank Clevenger, hab ich's mir doch gedacht.« Lächelnd streckte Lucas mir die Hand hin. Seine Stimme war so melodisch wie die eines Radiosprechers, und seine Zähne leuchteten selbst in diesem Schummerlicht. »Schön, daß ich nicht der einzige perverse Arzt nördlich von Boston bin.«
Ich starrte in seine durchdringenden Augen. Warum war er nicht gegangen, nachdem er mich bemerkt hatte? Er beugte sich vor und griff nach meinem leeren Glas, schnüffelte daran und hielt es hoch. »Peggy!« rief er der dicken Frau hinter dem Tresen zu. »Noch einen Black Label für meinen Psychiater und einen doppelten Bourbon-Manhattan für mich.« Er setzte sich neben mich und sah mich an. »Es stört Sie doch nicht, oder? Ich weiß, daß manche Leute lieber in der anonymen Masse verschwinden.«
»Ich hätte nie gedacht, daß Sie sich Sorgen darüber machen, ob Sie jemandem zu nahe treten könnten«, entgegnete ich und nahm ebenfalls Platz.
Er warf einen Zehner auf die Bühne und nickte der Tänzerin zu. »Tolle Titten!« brüllte er.
Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Kichernd leckte sie sich die Lippen. Dann ging sie in die Hocke und hob den Geldschein mit zusammengepreßten Brüsten auf. »Danke«, sagte sie grinsend. Sie setzte sich auf die Bühne, spreizte die Beine, umklammerte ihre Knöchel und schaukelte hin und her. Der Ring in ihrer Schamlippe wippte im Rhythmus.
Die Barfrau stellte unsere Drinks vor uns hin. Trevor reichte ihr einen Zwanziger und wies das Wechselgeld mit einer Handbewegung zurück. Nach einem kurzen Blick auf mich betrachtete er wieder das Mädchen. Inzwischen wurde »Ride Like The Wind« gespielt, und sie tat so, als säße sie auf einem Motorrad. »Schrecklich, das mit Sarah Johnston«, meinte er. »Verdammt gute Krankenschwester.«
»Ja.«
»Und auch verdammt hübsch.«
Wortlos trank ich einen Schluck Scotch.
»Wahrscheinlich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Pech gehabt.«
»Sieht so aus.«
»Ich habe gehört, Sie und der Typ, der ihr das angetan hat, sind inzwischen schon per du.«
Hatte er mit Nels Clarke oder mit Kathy geredet? »Bis jetzt ist noch niemand verurteilt worden«, antwortete ich und blickte weiter starr geradeaus.
»Die Zeitungen halten es für eine eindeutige Sache.« Er nahm einen Schluck. »Oder haben Sie etwa Zweifel?« Ich hatte die Höflichkeiten satt. »Nicht, was Sie angeht.« Ich blickte ihm in die Augen.
Kopfschüttelnd schürzte er die Lippen. »Warum hacken Sie auf mir rum? Niemand hat Kathy gezwungen, sich anderweitig zu amüsieren.«
»Ich bin sicher, daß es für Sie nur ein Spiel ist.«
»Katz und Maus«, bestätigte er grinsend.
Maus. Falls er vorhatte, mich zu provozieren, indem er Kathys Spitznamen benutzte, wollte ich ihm diese Genugtuung nicht gönnen. Ich drehte mich um und warf einen Dollar auf den Laufsteg.
Er nahm noch einen Schluck von seinem Manhattan. »Für mich war sie eigentlich nie mehr als ein guter Fick, aber ich glaube, sie hat sich die Sache sehr zu Herzen genommen.«
Meine Finger schlossen sich so fest um mein Glas, daß sie sich weiß verfärbten. Ich betrachtete Trevors Gesicht mit den dunklen Bartstoppeln und stellte mir vor, wie Glasscherben seine griechische Nase und sein markantes Kinn zerfetzten. »Das bringt Sie auch nicht weiter«, sagte er mit einem Blick auf mein Glas.
»Was?«
Er lehnte sich zu mir hinüber. Sein Gesicht schien unter den roten und blauen Lichtern Wellen zu schlagen. »Sie würden es schaffen. Schließlich sind Sie größer und stärker als ich, und ich habe gehört, daß Sie fast zu allem fähig sind, wenn Sie in Wut geraten. Aber ich bin nicht Ihr Problem, sondern Kathy.«
Er ärgerte und faszinierte mich gleichzeitig. »Also lehnen Sie die Verantwortung für Ihr Handeln ab? Dann sind Sie nicht besser als irgendein sexuell übertragbares Virus.«
Er lachte. »Ganz im Gegenteil. Ich übernehme die volle Verantwortung. Deshalb sitze ich jetzt hier bei Ihnen. Ich hätte genauso gut verschwinden können.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Rachel aus der Garderobe kam und auf die Bar zuging. Ich folgte ihr mit dem Blick. Sie trug eine Jogginghose und ein weißes, ärmelloses T-Shirt, das sich eng an ihre straffen Brüste schmiegte. »Plättbrett«, sagte Trevor.
»Wie bitte?«
»Das Mädchen, das Sie da eben anstarren, sieht aus wie ein Plättbrett.«
Ich drehte mich zu ihm um. »Vielleicht würde sie Sie mehr interessieren, wenn Sie wüßten, daß sie mit einem anderen Mann zusammenlebt.«
»Wahrscheinlich. Haben Sie was mit ihr?«
Ich verzog das Gesicht und griff nach meinem Glas.
Während Trevor sich schützend die Hand vors Gesicht hielt, legte ich den Kopf in den Nacken und leerte es zur Hälfte. »Sie sind ein bedauernswertes Arschloch. Sie verwechseln Rivalität mit Leidenschaft, weil sich nie jemand einen Furz um Sie gekümmert hat.«
Er lächelte. »Spannende Theorie. Aber wie erklären Sie es sich dann, daß Kathy in Wirklichkeit mich liebt und mit Ihnen nur vögelt? Nicht, daß man ihr daraus einen Vorwurf machen könnte, Frank. Ich bin ihr nähergekommen, als Sie es je gewagt haben. Ich kenne sie besser als sie sich selbst.«
Ich griff in die Tasche »Gehen Sie jetzt«, sagte ich mit unbewegter Miene.
Er nickte versonnen. »Gestern Nacht hatten wir großen Spaß miteinander. Sie war phantastisch. Doch eins müssen Sie mir noch verraten. Sie sind ja Hobbyanalytiker: Warum ruft sie immer nach ihrem Vater, wenn ich es ihr von hinten besorge?« Mit dem Daumen ließ ich mein Silbermesser aufschnappen und verbarg es unter dem Tresen.
»›Daddy! Daddy!‹ schreit sie.«
Ich stieß mit einer raschen Drehung nach der Wölbung in seiner Hose, und zwar kräftig genug, daß ich dabei den Stoff aufschlitzte. Mit der anderen Hand warf ich mein Glas um.
Er fuhr zurück und wäre beinahe vom Hocker gekippt. »Mein Gott! Sind Sie noch ganz dicht?«
»Das Ding ist scharf wie eine Rasierklinge«, sagte ich.
Dann lächelte ich den anderen Gästen beruhigend zu und betupfte seine nasse Hose mit meiner Serviette. »Wenn Sie heute nicht auf dem Operationstisch übernachten wollen, sollten Sie jetzt wirklich gehen.«
Er machte zwei Schritte rückwärts. »Vielleicht haben Sie recht. Ich möchte Kathy nicht warten lassen. Sie kann es nicht leiden, wenn ich mich verspäte.« Mit diesen Worten drehte er sich um und entschwand in Richtung Tür. Ich hätte ihm folgen können, tat es aber nicht. Irgendwo jenseits des Nebels aus Scotch, Kokain und Nikotin, in einem Teil meines Gehirns, wo die chemischen Botenstoffe noch planmäßig zirkulierten, wußte ich, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Er war nicht wichtig. Ich hatte ein Problem mit Kathy.
Hatte sie mich belogen? Ging sie wirklich wieder mit ihm ins Bett? Bei der Vorstellung, wie sie auf dem Bauch lag, den Hintern hochstreckte und ihn durch ihre blonden Haarsträhnen ansah, wurde mir übel. Doch trotz aller narzißtischer Anwandlungen wußte ich, daß es mir kaum zustand, sie zu verurteilen: Schließlich saß ich in der Spannerecke und wartete darauf, es einer sommersprossigen Stripperin mit Künstlernamen Tiffany zu besorgen. Ich leerte meinen restlichen Drink und ging zur Toilette. Meine Umgebung nahm ich leicht verschwommen wahr. Zuviel Alkohol, zu wenig Koks, dachte ich. Es kostete mich einige Konzentration, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ich sagte mir vor, daß ich die Arme baumeln lassen und den Absatz vor den Zehen auf den Boden stellen mußte. Ich kam an ein paar Typen vorbei, die, aufgereiht wie die Soldaten, vor den Urmalen standen und starr geradeaus blickten. Im Lynx Club findet niemand etwas dabei, wenn man der Möse einer Tänzerin ein Kußhändchen zuwirft. Doch wer einen anderen Gast falsch ansieht, läuft Gefahr, Bekanntschaft mit dem Betonfußboden zu machen. Ich schloß mich in einer Kabine ein und pinkelte. Dann zog ich mein Päckchen heraus, schob mir eine Prise in jedes Nasenloch und schnupfte. Bald war das Schwindelgefühl vorbei. Ich kehrte an meinen Platz zurück.
Inzwischen hatte ein anderes Mädchen mit schimmernden schwarzen Locken zu tanzen begonnen. Dazu lief ein Lied von Bonnie Raitt. Die Tänzerin war als Cowboy verkleidet und trug einen Pistolengürtel und Schießeisen. Allerdings hatte sie unter den Beinlingen nichts an.
Rachel saß mit einem alten Mann an der Bar. Ihre Hand lag auf seinem Knie. Ich setzte mich den beiden schräg gegenüber und bestellte einen Kaffee. Peggy, die Barkeeperin, ziemlich abgebrüht, ungefähr fünfzig und mit etwa zwanzig Kilo Übergewicht, stellte die Tasse vor mich auf eine Cocktailserviette.
»Fünf Dollar, Süßer«, sagte sie. Sie hatte eine angenehme Stimme.
»Einen Fünfer für eine Tasse Kaffee?«
»Willst du einen Schuß Kalúha oder Baileys dazu? Selber Preis.«
»Lieber nicht.« Ich gab ihr sechs.
Sie zog den Rundausschnitt ihres Polyesterhemds herunter, damit ich ihren Brustansatz sah. »Viel Spaß noch«, kicherte sie.
Ich nahm einen Schluck und sah zu Rachel hinüber. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie, aber sie hörte weiterhin aufmerksam dem Mann zu. Ich bemerkte eine Flasche Champagner auf dem Tresen. Rachel beugte sich vor, ließ ihre Hand den Oberschenkel des Mannes hinaufgleiten und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Inzwischen hatte das Mädchen auf der Bühne die Beinlinge ausgezogen. Mit geschlossenen Augen kniete sie da und schob sich den Lauf des Revolvers in den Mund. Sie steckte ihn ganz hinein, zog ihn wieder raus, leckte ihn ab und wiederholte das Ganze. Ich stellte mir vor, welche Panik im Lokal ausbrechen würde, wenn die Waffe geladen gewesen wäre und sie sie auf die Zuschauer gerichtet hätte. Ein Massenmord von wahrhaft poetischen Dimensionen, ein Fanal des Zorns. Ich malte mir aus, wie sie auf jeden Mann zuging, der einen Dollar vor sich liegen hatte, ihm zwischen die Beine schoß, sich umdrehte und ihm noch eine Kugel ins Gesicht verpaßte.
»Ich habe alle abgeknallt, die mir Trinkgeld gegeben haben«, würde sie später aussagen. »Der Gnadenschuß. Ich glaubte, die Dollars wären dafür gedacht.« Ich fragte mich, ob man sie wohl für unzurechnungsfähig erklären würde. Da spürte ich, wie sich zwei Hände sanft über meine Augen legten. Sie waren zart und weich, und obwohl ich plötzlich nichts mehr sah, fühlte ich mich geborgen.
»Wenn du die anderen Mädchen angaffst, bin ich beleidigt«, sagte Rachel. Sie nahm die Hände weg und setzte sich neben mich.
Sie trug einen Pferdeschwanz. Ihre hohe Stirn und die bernsteinfarbenen Augen beeindruckten mich noch mehr als beim erstenmal. »Ich fing schon an, mich einsam zu fühlen«, erwiderte ich.
»Ist Trevor weg?« Sie warf einen Blick auf die Plätze, wo wir zuvor gesessen hatten. »Ich dachte schon, heute hätten alle Ärzte Ausgang.«
War das ein Alptraum? »Woher kennst du Trevor?«
»Wir alle kennen ihn. Er ist Stammgast hier. Candy, das Mädchen mit dem Ring, hatte schon mal ... du weißt schon, beruflich mit ihm zu tun.«
Also ging Trevor auch zu Nutten. Ich überlegte, was Kathy wohl dazu sagen würde, daß er ihr Keime von Candy – und wahrscheinlich von halb Revere – übertrug. »Wie gut kennst du ihn denn?« fragte ich.
»Nur so vom Sehen«. Sie lächelte. »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich auch beruflich mit ihm zu tun hatte?« Ich dachte eine Weile darüber nach. »Nein«, meinte ich dann. »Das glaube ich nicht.« Ich nahm noch einen Schluck. Der Kaffee war abscheulich. »Wer ist denn dieser Opa?«
»Joe Smith.«
»Sehr einfallsreich, muß schon sagen.«
»Es spielt keine Rolle, ob er lügt. Wahrscheinlich fällt es ihm leichter, mit mir zu reden, wenn ich seinen richtigen Namen nicht weiß.«
»Und wovon redet er?«
»Das darf ich eigentlich nicht weitererzählen.«
»Ich werde schweigen wie ein Grab.«
»Schwörst du es mir?« Sie sah mich prüfend an. »Müßt ihr Ärzte denn immer noch einen Eid schwören?«
»Aber natürlich.« Ich hob eine Hand. »Ich schwöre beim Eid des Hippokrates. ›Was ich bei der Ausübung meines Berufes erfahre, werde ich für mich behalten und wie ein geheiligtes Geheimnis behandeln.‹«
»Hast du das auswendig gelernt?«
»›Ich werde niemandem absichtlich Schaden zufügen und den menschlichen Körper nicht mißhandeln.‹«
»Darüber sprechen wir später. Aber vielleicht kannst du mir helfen. Es geht um Joe.«
»Klar.«
»Gut. Vor drei Monaten wurde ihm ein Hautkrebsgeschwür an der Schenkelinnenseite in der Nähe der Leiste entfernt. Er sagt, er hat eine ziemlich schlimme Narbe, und ich vermute, daß die Wunde nicht vollständig abgeheilt ist. Kann das so lange dauern?«
An seinem Alter schon. Besonders, wenn es zu einer Infektion gekommen ist.«
»Okay.« Sie zuckte die Achseln. »Jedenfalls sagt er, sie ist nicht ganz zu. Deshalb will er nicht mehr, daß seine Frau ihn nackt sieht oder ihn berührt. Er findet, daß er da untenrum verstümmelt aussieht.«
»Darüber hat er mit dir geredet? Hier?«
»Kommt wahrscheinlich billiger, als wenn er sich an dich wenden würde. Und du streichelst ihm dabei nicht das Bein.«
»Ich dachte, das wäre verboten.«
»Ist es auch. Aber ihm geht es dadurch besser, und er gibt mir Champagner aus – im Gegensatz zu manchen anderen Gästen. Deshalb hat Peggy dem Chef gesagt, er soll sich raushalten.«
Ich warf einen Blick auf ihn. »Jeder Mensch bekommt das, was er braucht.«
»Wirklich? Da bin ich mir nicht so sicher. Manche Leute haben solche Probleme, daß sie das, was sie brauchen, gar nicht mehr annehmen können – selbst wenn es ihnen jemand geben würde.«
Man denkt, man hat eine Stripperin vor sich, und dann entpuppt sie sich als Wunderheilerin. Gott ist auch im Lynx Club präsent.
»Was soll ich ihm antworten?« fragte sie.
»Er sieht sich als Opfer, hält sich für einen halben Mann. Vielleicht ist das sogar der Grund, warum die Wunde nicht richtig heilt. Du mußt ihm helfen, sich als Überlebenden zu betrachten. Er hat den Krebs besiegt und dem Tod ins Auge geblickt. Seine Wunde ist so etwas wie ein Orden. Frage ihn, warum er seiner Ansicht nach noch lebt, während so viele andere Menschen an Hautkrebs sterben. Frag ihn, wie er die Schmerzen ausgehalten hat.«
»Und dann fühlt er sich besser?«
Ich zuckte die Achseln. »Kann sein. Doch eigentlich ist es egal, was du sagst, solange du nur dabei weiter sein Bein streichelst.«
»Gut.« Sie lächelte. »Das habe ich mir fast gedacht.« Sie stand auf. »Ich bin als nächste dran. Ich muß mich fertig machen.«
»Ich warte hier.«
»Warum setzt du dich nicht nach vorne?«
Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Ich setzte mich wieder in die Spannerecke neben zwei junge Typen in gestreiften Hemden und Clubkrawatten, die sich über den Handel mit Porsche- und Mercedesschlitten unterhielten. »Das Problem mit Porschekunden ist«, sagte der eine, »daß sie alle nur protzen wollen. Die Finanzierung ist bei ihnen ein totaler Streß, weil sie sich die Autos eigentlich nicht leisten können. Aber sie brauchen sie für ihr Ego.« Er zog fünf Ein-Dollar-Scheine aus der Tasche und legte sie auf den Tresen. »Der Mercedeskunde dagegen übernimmt sich nicht. Er hat es nicht nötig, sein Image aufzupolieren, sondern will einfach nur ein komfortables Auto.«
»Und was ist mit Leuten, die Range Rover fahren?« mischte ich mich ein.
»Snobs mit Miesen auf der Bank«, antwortete er mit einem Blick zu mir.
»Machen den Gerichtsvollziehern jede Menge Arbeit«, fügte sein Freund hinzu.
»Aha«, sagte ich.
»Fahren Sie einen Rover?« wollte der erste wissen.
»Ja.«
»Tut mir leid«, kicherte er.
»Schon gut.«
»Aber es stimmt trotzdem. Wenn man einen Pick-up will, soll man sich einen kaufen. Einen Ram oder einen Suburban. Warum so tun, als wäre man mitten im Dschungel?«
»Darüber werde ich mal nachdenken.«
Er gab mir seine Karte: JERRY STEIN, GESCHÄFTSFÜHRER, MEL'S AUTOWORLD. »Wir haben viele gebrauchte Pickups auf Lager. Bei uns bekommen sie was für Ihr Geld.«
»Vielen Dank.« Von einem Autohändler als Hochstapler enttarnt. Rachels Lied – »Purple Rain« von Prince, oder wie dieser Idiot sonst heißt – fing gerade an. Sie kam mit einem weißen Spitzenhöschen und einer schwarzen Lederjacke auf die Bühne. Die Jacke hatte silberne Reißverschlüsse und eine verchromte Schließe. Ich war mir nicht sicher, ob die Höflichkeit gebot, ihr einen Fünfer hinzulegen oder nichts zu geben. Ich entschied mich für den Fünfer. Sie schlenderte zu mir herüber, blieb stehen und biß sich auf die Unterlippe. Das rotbraune Haar fiel ihr ins Gesicht. Dann kauerte sie sich mit gespreizten Beinen hin, so daß das Höschen mehr enthüllte als verbarg, und fuhr mit dem Finger über die Spitze. Nachdem sie sich umgedreht hatte, zog sie das Höschen bis auf die Schenkel hinunter und zeigte mir ihren Po. Am liebsten hätte ich sie angefaßt und geschmeckt. Vielleicht erinnerte sie sich an meine Bitte vom letzten mal, denn sie holte mit der Hand aus und versetzte sich einen Klaps auf den Hintern. Dann stand sie auf, ohne mein Geld zu nehmen, ließ ihr Höschen ganz herunterrutschen und tanzte zum anderen Ende der Bühne. Die Autohändler glotzten auf meinen Fünfer. »Kennen Sie die Kleine?«
Ich fühlte mich stark und wie etwas Besonderes. Weil ich die Stripperin kannte. Der Rest blieb der Phantasie der beiden überlassen. Ich zwinkerte ihnen zu.
Als die Bedienung sich näherte, bestellte ich noch einen Black Label ohne Eis.
Sie brachte ihn sofort, und ich griff nach meiner Brieftasche. »Tiffany hat gesagt, Ihre Drinks gehen heute auf Kosten des Hauses!« überbrüllte sie die Musik.
Meine Beziehung war am Ende. Mein Konto war abgeräumt. Mein Auto hatte einen ordentlichen Blechschaden. Ich kam im Fall Westmoreland nicht weiter. Vielleicht würde ich von Lynns Polizei, meinem zuverlässigsten Auftraggeber im letzten Jahr, nie wieder einen Job kriegen. Und ich brauchte dringend eine Drogentherapie. Doch als ich in diesem Moment in der Spannerecke saß, einen Rest Koks in der Tasche, einen Gratisscotch vor mir und ein Spitzenunterhöschen in Griffweite, konnte ich mir immer noch vormachen, daß mit mir alles in Ordnung war. Nicht nur in Ordnung – ich war der Allergrößte!