8

Rachels Auftritt war die letzte Nummer des Abends gewesen. Als ich sie von Revere nach Chelsea – einem heruntergekommenen Viertel nördlich von Boston – fuhr, roch es im Auto immer mehr nach Sex. Ich beobachtete sie von hinten, während sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Sie wohnte in der obersten Etage eines vierstöckigen Industriegebäudes am Ufer. Da sie kein Höschen trug und ihre Jeans im Schritt durchgescheuert waren, sah ich bei jeder Stufe, wie sich weiches Fleisch gegen die letzten Fäden des Stoffes preßte.

Verstandesmäßig wußte ich, daß das Hinterteil einer Frau nichts weiter ist als der Gluteus maximus – ein mit Becken und Steißbein verwachsener Muskel. Doch es ist mir noch nie gelungen, eine wissenschaftlich distanzierte Einstellung dazu zu gewinnen. Den Großteil meines Erwachsenenlebens habe ich auf der Jagd nach dieser kurvigen Körperstelle zugebracht.

Als Rachel die Eisentür zu ihrer Wohnung aufschob und hineinging, hatten Adrenalin und Testosteron die Herrschaft über meinen Verstand übernommen. Ich packte sie und schob sie an die Wand. Wir küßten uns. Unsere Zungen berührten sich, und wir knabberten einander an den Lippen. Als ich ihr die Jeans aufknöpfen wollte, schob sie meine Hand weg und zog statt dessen meinen Reißverschluß auf.

»Du brauchst es«, flüsterte sie. Sie leckte sich die Handfläche ab und schob ihre Hand in meine Boxershorts. Das Gefühl ihrer feuchten Haut an meiner ließ mich aufseufzen. Ich tastete mit der Zunge nach ihrem Ohr. »Entspann dich«, sagte sie und zog den Kopf weg. Dann bewegte sich ihre Hand immer schneller.

Ich lehnte den Kopf an ihre Schulter und schloß die Augen. Plötzlich wirbelte sie uns herum, so daß ich an die Wand gepreßt wurde. Als ich ihren Hintern berühren wollte, packte sie meine Hand und drückte sie herunter. Ich hätte sie mühelos überwältigen können, aber ich wollte es nicht. Hieß das, daß sie mich überwältigt hatte?

»Was hast du da?« wollte sie mit einem Blick auf mein verbundenes Handgelenk wissen.

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Für eine lange Geschichte haben wir keine Zeit. Beweg dich nicht. Ich möchte dein Gesicht ansehen.« Sie leckte sich wieder über die Handfläche und steckte die Hand zurück in meine Hose. »Sag mir, wenn du kommst.« Wenn ich auf Koks bin, dauert es gewöhnlich eine Weile, aber ihre Hand tat so ziemlich das, was ich auch selbst getan hätte. Nur mit dem Unterschied, daß ich den Druck und das Tempo nicht vorhersehen konnte. Und das erregte mich so, daß ich schon nach einer halben Minute kurz vor der Explosion stand. Ich zögerte, ihr das zu gestehen. Einerseits, weil sie mich darum gebeten hatte, andererseits, weil ich befürchtete, sie würde aufhören, mich verspotten und mich zappeln lassen. Aber dann sagte ich es ihr doch.

»Ich ... komme«, stieß ich hervor.

Als es losging, lag sie vor mir auf den Knien und hatte die Lippen um mich geschlossen. Mein Rücken preßte sich an die Wand, während sich alle meine Beinmuskeln gleichzeitig anspannten. Ich sah sie an, stellte fest, daß sie mir in die Augen starrte, und zog mich zurück.

Sie blickte mich weiterhin unverwandt an, während ihr mein Sperma gegen den Mund spritzte. Nach einer Weile wischte sie sich mit dem Handrücken das Kinn ab und stand auf. Sie schmiegte sich an mich, so daß sich unsere Gesichter berührten. »War es schön?« zwitscherte sie.

Ihr Tonfall kam mir bekannt vor. Ich dachte an eine Situation, als ich zehn Jahre alt war. Damals trug ich abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt und saß mit meiner Mutter auf dem Sofa. Sie versuchte mich aufzuklären und druckste ziemlich herum. Ich war erwischt worden, als ich die knospenden Brüste von Kim Daney streichelte, einem neunjährigen, blonden Mädchen mit grünen Augen, das zwei Häuser weiter wohnte. »Wenn ein kleiner Junge ein kleines Mädchen gern hat, wird manchmal sein kleiner Penis hart«, sagte meine Mutter mit derselben Singsangstimme. Sie warf einen Blick zwischen meine Beine. »Aber das ist doch nicht etwa passiert, als du mit Kimmy zusammenwarst, oder?« Ich konnte nicht einschätzen, wieviel Ärger mir drohte. »Nein«, antwortete ich.

»Nein?«

»Ja«, gab ich zu.

»Das braucht dir gar nicht peinlich zu sein, Frankie.« Ihr Ton wurde ernst. »Und lüg mich nicht an.« Sie machte eine Pause. »Gefällt es dir, wenn dein Penis hart wird?«

»Nein ... ja.« Ich zuckte die Achseln und versteckte mich hinter meinen Ponyfransen.

»Wenn Menschen erwachsen sind – älter als du –, steckt der Mann seinen harten Penis in die Frau hinein ... in einen Schlitz zwischen ihren Beinen. Er bewegt ihn hin und her, und aus irgendeinem Grund fühlt sich das für ihn schön an.« Sie wartete auf meine Reaktion. »Doch das hast du mit der kleinen Kimmy nicht gemacht? Du hast deinen Penis nicht zwischen ihre Beine gesteckt?«

An so etwas hatte ich nicht einmal gedacht. Es klang zwar interessant, aber ich hatte eine eher praktische Frage: »Was ist, wenn man pinkeln muß, während er da drin ist?«

»Wenn man pinkeln muß?« Sie fing an zu lachen.

Ich machte einen Rückzieher. »Nein, ich meinte ...«

Es war zu spät. Sie rüttelte schon meinen Vater wach, der auf dem Fernsehsessel seinen Rausch ausschlief, um ihm zu erzählen, was ich gesagt hatte.

Ich heulte.

Mein Vater hörte kopfschüttelnd zu, sah mich an und schlug meiner Mutter ins Gesicht, so daß sie zu Boden stürzte. »Wehe, wenn du dich noch einmal über meinen Sohn lustig machst«, murmelte er. Dann warf er mir einen Blick von Mann zu Mann zu und döste wieder ein.

Rachel kniff mich spielerisch in den Bauch, und meine Eltern verschwanden. »Ich habe dich gefragt, ob es schön war«, zwitscherte sie wieder.

Ihre Stirn lag immer noch an meiner, und auf einmal wurde mir das zu viel. Ich nahm sie an den Schultern und schob sie weg. Sie ließ es geschehen, stand einfach da. »Nun?«

»Ja«, antwortete ich. »Es hat mir gefallen.«

»Und gefällt es dir auch, wenn ich mir im Club selbst den Hintern versohle?«

Ich schwieg.

»Gefällt es dir?« beharrte sie.

»Ja.«

»Möchtest du mich übers Knie legen und mir auch den Hintern versohlen?«

Ich zuckte die Achseln.

Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Nicht nur den Hintern. Auch zwischen den Beinen. Möchtest du mich dort schlagen?« Mein stockender Atem verriet mich.

»Du kannst ruhig sagen, was du willst, Frank. Es gibt keine Regeln.«

»Sag mir erst, was du willst«, brachte ich heraus.

»Das spielt doch für dich keine Rolle.«

»Tut es schon.«

Lächelnd küßte sie mich auf die Wange. »Lügner.« Sie machte sich los und ging zur Kochnische.

Ich fühlte mich bloßgestellt und allein. Umständlich verstaute ich mein Geschlecht in der Hose.

»Willst du einen Scotch?« fragte sie.

Meine Boxershorts waren feucht und ungemütlich. Ich räusperte mich. »Bei einem Scotch«, krächzte ich, »sage ich nie nein.« Ich klang wie eine Parodie auf John Wayne. Dann schlug ich die Eingangstür so heftig zu, daß sie wieder aufsprang. »Die Tür hat ihre Macken!« rief sie.

Ich versuchte es noch einmal, nun etwas behutsamer.

»Du kannst dich ruhig umdrehen.«

»Danke.« Ich freute mich über die Gelegenheit, wieder meine Beine – und mein Hirn – zu benutzen. Rachels Wohnung war ein Loft mit freistehenden Pfeilern und Säulen und vielen Backsteinwänden. Auf einem etwa einen Meter hohen Podest mitten an der Wand stand ein Bett aus Mahagoni, auf dem eine samtene Patchworkdecke lag. An den anderen Wänden hingen gewaltige Vergrößerungen von Schwarzweißphotos. Sie stellten Menschen dar, die im Leben gescheitert waren: Männer mit verzweifeltem Blick, die sich vor einer Suppenküche namens »Täglich Brot« drängten. Ein schwarzer Junge, höchstens acht Jahre alt, der vor einer mit Graffiti beschmierten Wand kauerte. Eine alte Frau im Rollstuhl mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ich drehte mich zur Küche um. »Sind die Photos von dir?« fragte ich.

»Ich habe sie hier in Chelsea gemacht«, antwortete sie. »Möchtest du Eis?«

»Nein, pur.« Ich betrachtete noch einmal die alte Frau. Zwischen ihren Nasenlöchern und einem Sauerstofftank an ihrem Rollstuhl verliefen durchsichtige Plastikschläuche. »Romantik kann man dir wirklich nicht vorwerfen.«

»Nein? Ich finde den Überlebenswillen dieser Leute etwas Wunderschönes. Wie bei meinem Gast mit dem Hautkrebs. ›Dem Tod ins Auge blicken‹, wie du es genannt hast.« Sie kam mit unseren Drinks zu mir.

Mein Blick fiel auf ein ausgestopftes Tier, das dem gläsernen Couchtisch in der Mitte des Raums als Sockel diente. Es war ein Kojote mit einem gefangenen Waschbären im Maul. Die Augen des Waschbären waren ängstlich aufgerissen, doch er hatte die Klauen tief in die Schnauze des Kojoten geschlagen.

»Glaubst du das, was du mir über die Narbe gesagt hast, wirklich?« wollte sie wissen. »Daß er ein Überlebender ist?« Das war eine gute Frage. Als ich noch praktizierte, fühlte ich mich manchmal wie ein Vertreter, der das Dasein auf diesem unglückseligen Planeten als lebenswert anpries. Unzählige Male ließ ich meine Patienten »Sicherheitsverträge« unterzeichnen, in denen sie mir schriftlich bestätigten, daß sie sich nichts antun würden. Aber hätte ich so leben wollen wie sie? Oder wie Billy? Häng dich rein. Warum? »Es ist völlig egal, ob ich ihn für einen Überlebenden halte«, antwortete ich und nahm mein Glas entgegen. »Er ist derjenige, der es glauben muß.«

Wir gingen zu den Glastüren am anderen Ende des Raums. Sie führten auf ein Sonnendeck hinaus, von dem aus man die Tobin Bridge sehen konnte. Dieser gewaltige Bogen aus Stahl, über den man in die Innenstadt von Boston fuhr, war für den Niedergang von Chelsea verantwortlich gemacht worden, da ganze Straßenzüge niedergewalzt worden waren, um seinen Betonfundamenten Platz zu machen. Ich hatte die Brücke noch nie so genau betrachtet, und nun schlug mich ihre Großartigkeit in Bann. Ich setzte mich auf eine alte Kirchenbank, die Rachel vor die Tür gestellt hatte. »Was war früher in diesem Gebäude?« fragte ich.

»Eine Ausbeuterfabrik«, erwiderte sie und ließ sich neben mir nieder. »Während des Vietnamkriegs wurden hier Uniformen genäht. Nach einem Brand hat der Laden dichtgemacht.« Sie zeigte auf eine verkohlte Stelle an einem Balken. »Diese Etage hat es nicht schlimm erwischt. Die anderen Stockwerke sind total ausgebrannt.« Von Verwandten, die gesellschaftlich aufgestiegen waren und Chelsea verlassen hatten, um an die Nordküste in Städtchen wie Nahani, Swampscott und Marblehead zu ziehen, wußte ich, daß Chelsea zweimal fast vollständig niedergebrannt war. Einmal 1908 und einmal 1973.

»Du kennst ja den Spruch: Was Chelsea braucht ....«

»... ist wieder ein Feuer. Der Witz ist uralt.« Sie trank einen Schluck. »Das hört sich zwar zynisch an, doch in gewisser Weise stimmt es. Verbesserungen erfolgen niemals schrittweise. Man muß sterben, um wiedergeboren zu werden.«

»Das zeugt nicht gerade von Vertrauen in meinen Beruf.«

»Tut mir leid, aber seien wir mal ehrlich: Die meisten deiner Kollegen erkennen nicht, was für ein Potential in einem Nervenzusammenbruch liegt. Einem absoluten Kollaps. Durch eine schwere Depression findet man leichter zu sich selbst als durch eine Packung Prozac.« Sie beugte sich zu mir vor. »Oder durch ein Gramm Kokain.«

»Kokain?«

»Kokain?« wiederholte sie spöttisch. »Du bist ein miserabler Lügner. Ich habe es geschmeckt, als ich die Zunge in deinem Mund hatte.«

»Ich habe noch was da, wenn du ...«

»Nein danke, ich nehme keine Drogen'. Aber tu dir keinen Zwang an.«

Diese Aufforderung hatte ich nicht nötig. Schon auf der Treppe hatte ich daran gedacht, mich auf eine Prise ins Bad zurückzuziehen. Ich holte mein Päckchen heraus.

»Ich hab es eine Zeitlang probiert – Schnee, Marihuana, Valium, Percocet, Heroin, Prozac, Zoloft.« Sie hielt inne. »Ach ja, Ritalin auch noch. Eine Menge Ritalin.«

Ich wußte nicht, ob ich mich näher mit Rachels psychiatrischer Krankengeschichte befassen wollte. Wenn ich Mitleid mit ihr bekam, würde ich sie nicht mehr vögeln können, wie ich es eigentlich vorhatte. Allerdings habe ich mich noch nie damit begnügen können, an der Oberfläche zu bleiben. »Hattest du Depressionen?«

»Sehr gut, Herr Doktor.« Sie drehte ihren Arm herum. Von ihrem Handgelenk aus liefen vier vertikale Narben einige Zentimeter ihren Unterarm hinauf. Wie hatte ich die übersehen können? »Ich habe versucht, mir mit Prozac das Leben zu nehmen. Niemand hatte mir gesagt, daß man das Zeug tonnenweise schlucken müßte, damit es klappt. Es heilt einen nicht, und es bringt einen auch nicht um. Wozu ist der Mist dann gut?«

»Und was hat dir geholfen?«

»Ein Seelenklempner, wie du einer bist.« Sie grinste. »War das die richtige Antwort?«

»Meiner Erfahrung nach nicht.«

»Wie recht du hast. Die Wahrheit ist, daß das Strippen mich gerettet hat. Als ich damit anfing, ging es mir sofort besser.«

»Ein Betäubungsmittel sozusagen?«

»Eher ein Sicherheitsventil.«

»Warum?«

»Um es im Psychologenjargon auszudrücken: Es ermöglicht mir, meine Wut nach außen anstatt nach innen zu richten.«

»Und ich dachte immer, wir Männer wären die Ausbeuter.«

»Falsch. Ich weiß, was die Gäste durchmachen, wenn ich mich über sie beuge. Die meisten haben übergewichtige, alternde Frauen zu Hause, die ihnen keinen blasen würden, auch wenn es um ihr Leben ginge. Ich weiß, daß sie bei meinem Anblick einen Steifen kriegen und daß sie davon träumen, mit mir zu schlafen. Uns trennen zwar nur wenige Meter, aber sie kommen nie wirklich an mich ran. Ich sehe den Schmerz in ihren Augen.«

»Du bist ja eine richtige Sadistin.«

»Nur auf der Bühne. Und das reicht mir. So habe ich es nicht nötig, jemanden umzubringen.«

»Warte noch ein paar Jahre.« Ich rieb mir eine Prise ins Zahnfleisch und steckte das Päckchen weg. »Ich frage mich, was du mit deiner Wut machst?«

»Was ?«

»Mit deiner Wut.« Sie lächelte. »Vor ein paar Minuten ist sie dir übers Gesicht gelaufen. Wie äußert sie sich sonst?« Ich leckte über das Glas meiner Uhr, wo noch ein wenig Koks klebte. »Ich bin darauf spezialisiert, Mörder zu begutachten, um herauszufinden, ob sie verrückt sind. Ich höre ihnen zu, wenn sie schildern, wie sie ihre Opfer erdrosselt, erstochen oder erschlagen haben. Ich sehe mir die Leichen in der Pathologie an.«

»Findest du das schön?«

»Es ist mein Job. Ein komischer zwar, aber ein Job.«

»Jetzt mach mal' nen Punkt.«

»Was meinst du damit?«

»Wenn es dir nur auf einen Job ankäme, könntest du genauso gut Professor werden. Du müßtest dich nicht in Leichenhallen rumtreiben.«

Ich mußte lächeln, als ich sah, wie sehr sie darauf erpicht war, die Wahrheit zu hören: daß nämlich jeder, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, den Motiven von Mördern auf den Grund zu kommen, mit seinen Anschauungsobjekten einiges gemeinsam hat. »Vermutlich gefällt es mir.«

»Aber das reicht nicht.«

»Mir schon.«

»Stimmt nicht, sonst würdest du den Schnee nicht brauchen.« Sie nahm einen großen Schluck Scotch. »Wenn du meine Analytikerin werden willst, solltest du mir ein Honorar berechnen«, sagte ich. »Besonders angesichts deiner Fähigkeiten.«

Sie stellte ihr Glas auf die Kirchenbank, stand auf, öffnete die Knöpfe ihrer Jeans und ließ die Hose herunterrutschen. Dann stellte sie sich zwischen meine Beine. »Jetzt kannst du bezahlen.«

Ich strich mit den Händen über ihre schlanken Arme und über ihre Hüften, drückte ihren Hintern und vergrub meine Finger darin. Ihr Körper war jünger als Kathys, fester und weiter vom Tod entfernt.

Sie trat ein paar Schritte zurück, damit ich sie betrachten konnte. Reglos stand sie im Mondlicht. Sie trug nichts weiter als ihr weißes, ärmelloses Rippen-T-Shirt. Durch das dünne rote Haar zwischen ihren Beinen sah ich ihre Hautfalten. Dann drehte sie sich um und ging zum Bett. Ich folgte ihr. Nachdem sie die drei Stufen des Podests hinaufgestiegen war, nahm sie einen zusammengerollten schwarzen Ledergürtel vom Nachttisch und legte ihn auf die Patchworkdecke. Sie kniete sich vor die Matratze.

Mein Herz klopfte wie wild, als ich mit zitternder Hand nach dem Gürtel griff. Doch als nach dem ersten Schlag ein geröteter Striemen auf ihrer weichen Haut erschien, verflog meine Angst. Ich holte noch einmal aus, Rachels Stöhnen gefiel mir. Zitternd wartete sie auf den nächsten Hieb. »Sag bitte«, befahl ich.

Sie sah mich an. »Bitte«, wimmerte sie.

Ich schlug sie wieder.

Sie drückte den Rücken durch und reckte den Hintern hoch. »Tu, was du willst.«

Ich verließ Rachel um fünf Uhr morgens. Der Rover war mit Tau bedeckt. Im Auto kurbelte ich die Fenster herunter und atmete die Morgenluft ein. Da ich in den letzten beiden Nächten nur vier Stunden geschlafen hatte, war mir leicht schwindelig. Meine Beine fühlten sich bleischwer an. Ich hatte zwar noch etwa ein Viertelgramm in der Tasche, aber ich ließ es, wo es war. Ich wollte den Absturz bei vollem Bewußtsein erleben.

Ich blickte zur Tobin Bridge hinauf. Die ersten Pendler fuhren bereits nach Boston. Wahrscheinlich ahnten sie nicht, daß unter ihnen im Hafen von Chelsea der Tag schon angefangen hatte. Ich beobachtete, wie drei Schleppkähne einen Tanker zu einer Treibstoffstation zogen. Obwohl ich nur das leise Dröhnen ihrer Motoren hören konnte, verriet mir die weiße Schaumspur hinter ihnen, mit welcher Kraft sie sich vorwärts bewegten. In der Surf Lounge hatte ich einmal eine Flasche Scotch mit dem Kapitän eines Schleppers geleert. Er hatte mich ausgelacht, als ich seinen Job als romantisch bezeichnet hatte. Der Charme eines Schleppkahns sei reine Illusion, hatte er mir erklärt. An Bord drohe wegen des unausgewogenen Verhältnisses zwischen Größe und Motorenkraft des Schiffes ständig Gefahr.

Ich ließ das Auto an und fuhr den Broadway nach Osten zur Route16. Bevor ich mich im McLean anmeldete, mußte ich mir in Marblehead ein paar Kleider holen. Während meiner Tätigkeit auf der Entzugsstation in Tufts hatten wir Mitarbeiter darüber gewitzelt, wie voll es immer in jeder dritten Woche des Monats wurde: Dann hatten die Süchtigen nämlich ihren Sozialhilfescheck aufgebraucht und konnten sich keinen Stoff mehr leisten. Am nächsten Ersten war der Laden dann wieder wie ausgestorben. Inzwischen kam mir das nicht mehr komisch vor – denn auch ich selbst hatte mir so lange etwas vorgemacht, bis mir das Geld ausgegangen war.

Ich fragte mich, ob Kathy wohl zu Hause war. Falls sie die ganze Nacht auf mich gewartet hatte, konnte ich mich auf eine Szene gefaßt machen. Denn wenn sie sich erst einmal in ihre Wut hineingesteigert hatte, machten vernünftige Einwände meinerseits die Sache nur noch schlimmer. Normalerweise trommelte sie dann auf die Wand ein oder trat ein paar Antiquitäten kaputt. Das letztemal hatte sie nicht einmal aufgehört, nachdem sie sich die Finger gebrochen hatte. Damals hatte sie sich von mir The Pugilist at Rest geliehen und in dem Buch ein Polaroid-Photo von Isabela Cadronale gefunden, einer zweiundzwanzigjährigen brasilianischen Journalistin, die wir in St. Croix am Strand kennengelernt hatten. Auf dem Photo trug Isabela nichts weiter als eine Fliege – meine Fliege. Kathy hatte mit ihrer geschwollenen Faust weiter auf die Wand eingeprügelt, als ob sie keine Schmerzen spürte. Ich mußte sie fast eine Viertelstunde festhalten, bis ihr eifersüchtiger Zorn verraucht war. Schließlich fing sie an, lautlos zu weinen, und danach war Sex mit ihr wie immer am schönsten.

Warum hatte ich wegen meiner Seitensprünge kein schlechtes Gewissen? Nicht einmal dann, wenn ich Kathys salzige Tränen auf meiner Zunge spürte. Und warum ließ sie sich immer wieder von mir verletzen? Band uns die Liebe aneinander oder die Aussicht, daß ich ihr auch in Zukunft weiter wehtun würde?

Ted Pearson, mein Psychiater, hatte die Theorie vertreten, mein Alkoholkonsum, Drogenmißbrauch und Frauenverschleiß hingen damit zusammen, daß ich tief in meinem Innersten keine wirkliche Nähe zulassen könne. Doch ich hatte ihm widersprochen. Aber warum konnte ich Rachels Gegenwart nur dann ertragen, wenn ich ihr Schmerzen zufügte? Es waren nur wenige Autos unterwegs, und die Straße war trocken. Trotzdem umrundete ich den Bell Circle in Revere sehr langsam. Ich hatte nicht das Geld, um noch jemandem die Autoreparatur zu bezahlen. Als ich an der Wonderland-Hunderennbahn vorbeikam, zündete ich mir eine Marlboro an. Zu meiner Bestürzung mußte ich mir eingestehen, daß ich Manny einen Besuch abgestattet hätte, wenn der Laden geöffnet gewesen wäre. Nur eine Wette – oder vielleicht zwei. Welche Erklärung gab es dafür? Warum fühlte ich mich nur lebendig, wenn ich kurz vor dem Abgrund stand?

Als ich den Lynnway erreichte, hörte ich hinter mir eine Sirene. Im Rückspiegel sah ich in etwa hundert Metern Entfernung einen Streifenwagen. Ich warf einen Blick auf den Tacho, stellte fest, daß ich die Höchstgeschwindigkeit weit unterschritt, und fuhr nach rechts, um ihn vorbeizulassen. Die Sirene verstummte zwar, aber der Streifenwagen wechselte mit mir die Spur und kam immer näher. Ich spürte, daß mein Herz schneller schlug. Wie absurd, ausgerechnet an dem Tag festgenommen zu werden, an dem ich mich endlich zu einer Therapie durchgerungen hatte! Da Emma Hancock Videoaufnahmen von mir beim Drogenkauf vor dem Emerson besaß, konnte sie behaupten, ihre Leute hätten einen berechtigten Grund, mich zu durchsuchen. Und wenn sie das Kokain fanden, würde ich einige Monate im Kreisgefängnis von Essex verbringen. Vielleicht sogar noch länger. Mein verpfuschtes Leben würde dem Evening Item eine tolle Schlagzeile liefern: »Heil dich selbst, Doktor: Psychiater wegen Kokainbesitzes verhaftet.«

Ich beschleunigte bis zur Höchstgeschwindigkeit und zog das Päckchen aus der Tasche. Hinter mir sprang wieder die Sirene an. Im Rückspiegel überprüfte ich, ob man mich auch nicht sehen konnte, öffnete das Päckchen und schnupfte den Rest. Dann steckte ich das Papier in den Mund, kaute es und schluckte es runter. Auf dem Seitenstreifen hielt ich an. Das Polizeiauto blieb hinter mir stehen.

Angesichts meiner Pechsträhne hätte ich mir eigentlich gleich denken können, daß Kevin Malloy sich in diesem Wagen befand. Die Daumen in den Gürtel gehakt, näherte er sich meinem Auto. Ein älterer Polizist, den ich nicht kannte, blieb hinterm Steuer sitzen.

Ich ließ den Motor laufen und schaltete den CD-Spieler an. Big Mama Thornton sang den Blues. Ich schob den Lautstärkeregler hoch.

Malloy legte einen haarlosen Arm in mein Fenster. Er hielt mir ein paar Handschellen hin. »Wissen Sie, daß wir Ihnen seit der Hunderennbahn mit eingeschalteter Sirene folgen?«

Ich lächelte.

»Stimmt was nicht? Was ist denn so komisch?«

Ich riß mich zusammen. »Big Mama Thornton.« Ich wies auf den CD-Spieler. »Sie singt ›Little Red Roosten‹. Mama war eine der ganz Großen. Und eine witzige Frau. Sie bringt mich zum Träumen.« Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn ein bißchen zu ärgern. »Tut mir leid, daß ich die Sirene nicht früher gehört habe. Ich finde sie echt gut, und das Blaulicht sieht auch cool aus.«

Er schaute sich in meinem Auto um. »Schön, daß Ihnen das gefällt«, entgegnete er ruhig.

»Wollen Sie ein Schwätzchen halten?« fragte ich.

»Ich fürchte nein.«

Meine Angst wuchs. »Was gibt's denn sonst noch für Möglichkeiten? Jetzt hab ich's: Sie haben mich mit jemandem verwechselt.« Er sah mich an und deutete mit dem Finger auf mich, als wolle er etwas sagen. Dann streckte er wortlos den Arm durchs Fenster und tippte mir auf die Brust.

Ich blickte an mir herunter. Mein Jeanshemd war mit kleinen Kokainkristallen gesprenkelt. Malloy leckte sich eines von der Fingerspitze.

»Sieht aus, als hätten wir ein Problem«, stellte er fest und klapperte mit den Handschellen wie mit Kastagnetten. Mir wurde flau im Magen. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn auf die dreihundertfünfzig Dollar anzusprechen, die er jeden Monat von Willie Hightower als Schweigegeld kassierte. Aber dann beschloß ich, lieber abzuwarten, bis ich wußte, was er vorhatte.

»Ich wette, wenn wir diese Kiste nach Koks durchsuchen, hätten wir eine Erklärung dafür, warum sie anderen Leuten das Auto zu Schrott fahren.«

»Anderen Leuten das Auto zu Schrott fahren?«

»Verschonen Sie mich damit. Der Bursche mit dem Mustang hat Sie gestern nacht bei der Polizei von Revere wegen Fahrerflucht angezeigt. Er hat gesagt, Sie hätten ihn angefahren und sich dann verdrückt. Der diensthabende Polizist hat das an uns weitergeleitet, weil Sie ja für uns arbeiten – oder besser, gearbeitet haben.«

»Ich habe dem Mistkerl Geld gegeben.«

»Schön für Sie. Haben Sie eine Quittung?«

»Klar.« Ich konnte mich nicht mehr bremsen. »So eine, wie Willie Hightower jeden Monat von Ihnen kriegt.« Malloy schürzte die Oberlippe, so daß ich in seine gelben Zähne sehen konnte. »Sie müssen mich zum Revier begleiten.« Ein wahnwitziger Gedanke schoß mir durch den Kopf. Wenn ich sowieso schon am Ende war, hatte ich nichts mehr zu verlieren. Mein Jagdmesser lag unter meinem Sitz. Ich starrte seinen Bauch an und ließ meinen Blick zu der Stelle wandern, wo die Aorta, nicht mehr geschützt vom Brustbein, in den Unterleib führt.

»Seien Sie ein braver Junge. Oder wollen Sie im Streifenwagen fahren?«

Als ich ihm in die Augen sah, war es mir, als stünde mein Vater vor mir: »Möchtest du in dein Zimmer gehen und die Strafe wie ein Mann auf dich nehmen? Oder soll ich dich tragen wie ein Baby?«

Wieder ließ Malloy die Handschellen klappern.

Ich roch den alkoholgeschwängerten, heißen Atem meines alten Herrn. Hatte er es nicht verdient, abgestochen zu werden? Würde die Gerechtigkeit siegen? Wo ist deine Wut? Wieder hörte ich seine Stimme. »Okay, dann eben auf die harte Tour.«

Oder war es Mallogs Stimme gewesen? Ich schüttelte den Kopf. Zuviel Kokain, sagte ich mir. Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich mußte in die Klinik. Ich brauchte Schlaf. ich mir die Augen rieb, war Malloy wieder da. Ich holte tief Luft. »Fahren Sie voraus«, sagte ich.