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Ich fuhr auf der Route 1A über die Tobin Bridge nach Boston. Inzwischen fühlte ich mich ein wenig besser. Wenn ich zweitausend einzahlte, würde die Bank wahrscheinlich ein paar Wochen Ruhe geben. Und ich hatte noch immer genug Geld, um zu verhindern, daß mir das Koks ausging, bevor ich soweit war, endgültig Schluß damit zu machen. Vielleicht konnte ich ja auch der Hancock etwas zustecken, damit sie die Videoaufnahmen von mir vor dem Emerson verlor. Für einen Menschen, der soviel von der Kirche redete wie sie, war diese Institution sowieso eine Art Kokainersatz. An der nächsten roten Ampel holte ich mein Päckchen heraus und schnupfte eine Prise.

Zur Veteranenklinik brauchte ich eine halbe Stunde. Das Büro für Gesundheit und Sozialleistungen hatte seit meiner Zeit als Assistenzarzt die Adresse nicht geändert. Cliff Pidrowski, ein ehemaliger Alkoholiker, der in Vietnam beide Beine verloren hatte, leitete den Laden immer noch. Er erkannte mich sofort. »Ach, du meine Güte«, lachte er. »Schließt das Geld weg.« Im Rollstuhl kam er hinter dem Schreibtisch hervor.

»Soviel habe ich euch nun auch wieder nicht gekostet«, antwortete ich kichernd und schüttelte ihm die Hand. Ich freute mich, als ich sah, daß er sich nicht die Haare abgeschnitten hatte und weiter einen geflochtenen Zopf trug. »Das glaubst auch nur du. Mir kam es eher vor, als hätte sich dein Name bei allen obdachlosen Veteranen in der Gegend rumgesprochen. Man brauchte sich nur mit einer kleinen Depression oder einem posttraumatischen Streßsyndrom in der Notaufnahme zu melden und konnte zusehen, wie der Zauberdoktor die Geldquellen zum Fließen brachte. Zauberdoktor, nennen sie dich eigentlich immer noch so?«

»Du warst der einzige, der mich so genannt hat.« Ich nahm Platz. »Ich habe dir nur geholfen, Gelder zu verschenken, die du ohnehin verschenken wolltest.«

»Ach, wirklich?« Das habe ich wahrscheinlich irgendwie verdrängt. Wie ich mich erinnere, hat es mich einige Nerven gekostet, dir zu verklickern, daß Obdachlosigkeit nicht immer mit dem Krieg zusammenhängt. Man kann auch einen Schatten gehabt haben, bevor man im Krieg war.«

»Dann sollte man auch nicht eingezogen werden. Außerdem müßte Uncle Sam eigentlich allen seinen Opfern helfen, ohne nach den Gründen zu fragen.«

Er hielt sich die Ohren zu. »Ich habe ein Déjà-vu-Erlebnis. Du willst dich doch nicht etwa für einen Job vorstellen?«

»Hältst du die Regierung für so blöd, mich zu nehmen? Nein, ich beschäftige mich noch immer mit Gerichtsfällen in North Shore.«

»Die echten Kaputtnicks waren dir schon immer am liebsten.« Er lachte. »Aber ich muß zugeben, daß du wunderbar mit ihnen klargekommen bist. Wahrscheinlich haben sie gespürt, daß du mindestens so gefährlich bist wie sie.«

»Ich bin doch ganz harmlos.«

Er verdrehte die Augen. »Tut mir leid, ich hab das ganz anders im Gedächtnis. Warum bist du hier, wenn du keine Arbeit suchst?«

»Du mußt mir einen Gefallen tun ... natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht.«

»Na klar. Solange es Uncle Sam nichts kostet.«

»Ich brauche Einblick in eine Wehrdienstakte.«

»Die sind vertraulich.«

»Deswegen ist es ja ein Gefallen.«

Er rollte zu seinem Computer hinüber. »Wenn dich einer fragt: Ich habe dir nie geholfen.«

»Leute, die dich kennen, würden mir das unbesehen glauben.«

»Immer noch der gleiche alte Witzbold. Wie heißt denn der Mann?«

»Sein Vorname ist George. Der Familienname fängt mit La an.«

Er tippte ein L und ein a ein. »Das engt den Kreis auf eine Personenzahl ein, die etwa der Bevölkerung von Rhode Island entspricht. Wenn man alle rauspickt, die George heißen, sind es immer noch ein paar hundert. Welcher Krieg?«

»Vietnam.«

»Das wäre ja schon mal was.«

»Diagnose?«

»Schizophrenie.«

»Augenfarbe?«

»Blau.«

»Körpergröße?«

»Etwa einsachtzig.«

»Ich habe hier einen blauäugigen, einszweiundachtzig großen Schizophrenen namens George LaFountaine. Geboren am 5. April 1949• Zur Armee eingezogen am 16. April 1969. Kam am 28 November 1970 vors Kriegsgericht. Verfahren eingestellt. Aus gesundheitlichen Gründen entlassen. Diagnose: Schizophrenie.«

»Kriegsgericht? Steht da auch, was ihm vorgeworfen wurde?«

»Das ist nicht im Computer vermerkt.« Er drehte sich zu mir um. »Aber er wurde nach seiner Entlassung oben auf 13B behandelt. Insgesamt etwa zwölfmal. Seine Akte müßte im Archiv sein.«

»Und wie komm ich da ran?«

»Indem der Patient dir dazu die Vollmacht erteilt.«

»Keine Chance.«

»Dann hast du Pech gehabt. Für das Archiv bin ich nicht zuständig, und sie sind sehr heikel, wenn es um Einzelheiten geht. Datenschutz.«

»Cliff, ich habe den Typen schon untersucht. Er hätte bestimmt nichts dagegen, wenn ich mir seine Akte ansehe, aber im Moment komme ich nicht an ihn ran.«

»Tut mir leid.«

Ich seufzte. »Eigentlich wollte ich es ja nicht ausnützen, aber es sieht aus, als müßte ich meine Schulden eintreiben.«

»Schulden?«

»Helena?«

»Und wenn du mich Charisse nennst, bei mir beißt du auf Granit.«

»Nicht Helena, Helga. Die Sozialpädagogik-Praktikantin. Grellroter Lippenstift. Enger Rock. Ich habe dir mein Bereitschaftszimmer zur Verfügung gestellt, damit du mit ihr allein sein konntest. Damals hast du gesagt, dafür schuldest du mir was.«

»Das ist doch schon Jahre her. Etwa zehn.«

»Dein Glück, daß ich keine Zinsen verlange.«

»So gut war sie nun auch wieder nicht.«

»Aber sie war gut genug, daß du mitten in der Nacht drei Stunden lang mein Zimmer blockiert hast.« Ich grinste. »Dafür lande ich im finstersten Kerker«, meinte er kopfschüttelnd. »Ist es wirklich so furchtbar wichtig?« Ich nickte.

Er griff zum Telephon und wählte eine Nummer. »Rusty, hier spricht Cliff. Ich brauche sämtliche Akten, die du über George LaFountaine hast. Großes L, großes F. Ersteinweisung auf 13B am 3. Dezember 1970.

Sozialversicherungsnummer 010-16-3024. Ich schicke dir einen Psychiater runter, einen gewissen Doktor Clevenger ... Nein ... du brauchst sie ihm nicht auszuhändigen ... Er macht eine Untersuchung zum Thema Sozialleistungen für psychisch Kranke. Ich habe vergessen, ihm eine Genehmigung zu besorgen.« Er zwinkerte mir zu. »Danke, Rusty. Dafür hast du bei mir was gut.« Er legte auf.

»Danke.«

»Vergiß es. Rusty hat dir die Akte in etwa zehn Minuten rausgesucht. Im Keller.«

»Schön, dich mal wiederzusehen.«

Er nickte. »Ganz meinerseits, Zauberdoktor. Und paß auf dich auf«

»Kannst dich drauf verlassen.«

Rusty entpuppte sich als magere, nervöse Frau um die Fünfzig. Sie verzehrte inmitten der kilometerlangen Regale des Patientenarchivs ihr Mittagessen aus einer braunen Papiertüte. Dazu hatte sie sich im Schneidersitz auf dem Boden niedergelassen und an einen der deckenhohen Aktenschränke gelehnt. »Sie dürfen sie aber nicht mitnehmen«, sagte sie, während sie einen etwa fünfundzwanzig Zentimeter dicken Ordner hochstemmte. Dann drehte sie sich um, biß ein Stück von einem Karottenschnitz ab und schluckte ihn ohne zu kauen hinunter.

»Keine Angst, ich steck nichts in die Hosentasche«, spöttelte ich.

»Klar, es ist leicht, sich darüber lustig zu machen – bis doch mal was verschwindet. Und wenn dann jemand kommt und das Ding sucht, dann hört der Spaß auf.« Sie sah mich mit todernster Miene an. »Das wäre der Weltuntergang.«

»Ist gut. Tut mir leid.« Ich setzte mich ihr gegenüber und lehnte in ich auch an ein Regal.

Sie starrte mich an.

»Störe ich Sie?« fragte ich.

»Nur, wenn Sie mir beim Essen zuschauen.«

Die Empfindungen eines Menschen, wenn er etwas in den Mund steckt, verraten eine Menge über seine Psyche. Ich mußte mir vor Augen halten, daß ich nicht die Zeit hatte, dieses Thema zu vertiefen. »Kein Problem«, sagte ich deshalb und schlug die Akte auf. Innen auf dem Deckel war ein Schwarzweißphoto von George LaFountaine aufgeklebt. Selbst mit soldatischem Haarschnitt war er ein gutaussehender Mann mit einem strahlenden, selbstbewußten Lächeln. Ich betrachtete seine Augen und suchte nach einer Ähnlichkeit mit Westmoreland. Aber ich fand keine. Als ich die Akte durchblätterte, stieß ich auf ein Farbphoto, das mit 1985 datiert war. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. LaFountaine hatte sich in Westmoreland verwandelt. Seine Wangen waren eingefallen, und das Lächeln war einem wilden Zähne-fletschen gewichen. Er hatte zottiges, verfilztes Haar. Angst standin seinen Augen. Ich fühlte mich wie ein Einbrecher, der durch ein fremdes Haus streift. Oder schändete ich ein Grab? Westmoreland hatte LaFountaine beerdigen wollen, und nun exhumierte ich ihn wieder. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, wäre es das Beste gewesen, die Akte zurück ins Regal zu stellen und alles auf sich beruhen zu lassen, was Westmoreland für immer in dieser Katakombe versenkt hatte. Gab ihm mein Vertrauensbruch nicht erst recht einen Grund zur Paranoia? Vielleicht war es meine eigene morbide Neugier, die mir in diesem Moment einflüsterte, daß ich seine Akte aus einem ganz bestimmten Grund in der Hand hielt. Es war kein Zufall, daß er genug von seinem Namen preisgegeben hatte, um die Tür zur Vergangenheit zu öffnen.

Ich blätterte wieder zum Anfang zurück und las das Deckblatt. Dort waren Westmorelands Entlassungsdatum aus der Armee und der Tag seiner Einweisung ins Krankenhaus verzeichnet. Die Adresse seiner Familie war mit Warren Avenue12, Charlestown angegeben, ein heruntergekommenes Arbeiterviertel am nördlichen Rand von Boston. Nächster Verwandter war sein Vater John LaFountaine. Ich schlug die erste der beiden handgeschriebenen Seiten auf, die mit »Psychiatrischer Krankengeschichte« betitelt war:

George LaFountaine,22, männlich, wurde aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee entlassen. Anlaß hierfür waren eine nach einem militärischen Einsatz aufgetretene Paranoia und akustische Halluzinationen. Auf diese psychotischen Symptome wird auch Mr. LaFountaines bizarres Verhalten in jüngster Zeit zurückgeführt, das eine Verhandlung vor dem Kriegsgericht zur Folge hatte. Das Verfahren wurde in allen Anklagepunkten eingestellt. Der Patient wurde zur psychiatrischen Untersuchung und Behandlung überstellt.

Am 21. November nahm Mr. LaFountaine, in der Vergangenheit wegen Tapferkeit ausgezeichnet, als Mitglied einer Eliteeinheit am Überfall auf das Gefangenenlager Son Tay in der Nähe von Hanoi teil. Für diese Operation war er zuvor gründlich ausgebildet worden. Man hatte angenommen, daß amerikanische Kriegsgefangene dort festgehalten wurden, doch man fand das Lager verlassen vor. Der Patient verbrachte mehrere Stunden mit der Durchsuchung leerer Gebäude, von denen einige vermint waren. Ein enger Freund, der gemeinsam mit dem Patienten die Häuser durchkämmte, wurde durch einen Sprengsatz getötet.

Ich blickte auf und versuchte, mir den Wirrwarr aus Hoffnung, Angst, Haß und Panik vorzustellen, der in LaFountaine getobt haben mußte, während er das verlassene Lager Raum für Raum durchsuchte. Ich malte mir aus, wie er seinen sterbenden Freund in den Armen hielt, gefallen bei einer Mission, durch die niemand befreit wurde, getötet von einem unsichtbaren Feind.

»Lassen Sie das«, schimpfte Rusty.

»Was?«

»Sie schauen mir beim Essen zu. Ich habe Sie doch gebeten, das nicht zu tun.«

»Ich habe nicht zugeschaut, sondern nur nachgedacht.«

»Schon gut. Wahrscheinlich darüber, was für ein Vielfraß ich bin.« Sie sammelte ihre Gemüsetütchen ein und stand auf. Im Stehen wirkte sie noch magerer. »Ich mache Ihre Spielchen nicht mit.«

Ich konnte es einfach nicht dabei bewenden lassen. Menschliches Leid hat schon immer einen unwiderstehlichen Reiz auf mich ausgeübt. »Die Wahrheit ist doch, Rusty, daß Sie nie genug bekommen Haben, nicht daß Sie zu viel essen.« Sie trat einen Schritt auf mich zu. »Wie kommen Sie dazu, mich mit Ihrem oberflächlichen Psychokram zu belästigen? Soweit ich weiß, liege ich nicht auf Ihrer bescheuerten Couch.«

Ich nickte. Mir war klar, daß ich schon tiefer als geplant in Rustys verwinkeltes Unterbewußtsein eingedrungen war. »Sie haben recht. Ich lese nur noch schnell zu Ende.«

Ich blickte mit demonstrativ gesenktem Kopf in die Akte, damit sie mir nicht mehr vorwerfen konnte, daß ich sie anstarrte.

»Und wie können Sie behaupten, daß ich nie genug bekommen 1 habe? Ihr Psychiater denkt wohl, ihr hättet die Weisheit mit Löffeln gefressen!«

Ich warf einen Blick auf ihre Füße. Sie rührten sich nicht. Sie sehnte sich regelrecht nach der Couch. Tief in seinem Innersten möchte jeder Mensch die Wahrheit sagen.

»Wahrscheinlich kommen Sie aus reichem Hause, Doc«, stichelte sie weiter. »Mein Vater hatte drei Jobs, um die Familie ernähren zu können.«

Ich schloß die Augen und hoffte, sie würde endlich aufhören.

»Mein Vater hat auch für uns gekocht. Also habe ich ausgezeichnet gegessen.« Sie ging noch immer nicht weiter. »Worauf wollen Sie also hinaus? Oder machen Sie sich über mich lustig?«

Widerwillig blickte ich auf. »Hat Ihre Mutter auch gearbeitet?« fragte ich.

Ich würde um das Gespräch wohl nicht herumkommen.

Sie schien überrascht. »Was?«

»Hatte Ihre Mutter einen Job?«

»Sie war nicht da. Aber ...«

»Warum nicht? Wo war sie denn?«

»Weshalb sollte ich Ihnen das erzählen?«

»Nur so. Natürlich müssen Sie nicht.«Aber du brauchst es!

»Schon gut. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Nach meiner Geburt wurde sie krank – psychisch krank. In diesem Krankenhaus hat sie sich das Leben genommen.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Jetzt zufrieden?« Unter der schweren Last ihres Geständnisses wäre ich fast zusammengebrochen. Ich seufzte. »Muß eine ziemlich schwere Aufgabe gewesen sein«, sagte ich leise, »die Lücke zu füllen, die sie hinterlassen hat. Vor allem als Einzelkind.«

»Wie kommen Sie darauf ...«

»War nur eine Vermutung. Doch ich kann mir vorstellen, wie problematisch es für Sie gewesen ist.«

Sie zuckte die Achseln.

Dann sprudelten die Worte aus mir heraus, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. »Allein konnte er Ihnen nicht genug geben. Ihr Vater, meine ich. Das kann kein Mann, ganz gleich, wieviel Mühe er sich gibt. Und Sie durften es ihn nicht spüren lassen. Darauf wollte ich hinaus, als ich sagte, Sie hätten nie genug bekommen. Das meinte ich emotional. Die Liebe einer Mutter.« Ich sah ihr direkt in die Augen. »Es tut mir leid, daß Sie sich jetzt wegen Ihrer Bedürfnisse schuldig fühlen.«

»Ich fühle mich die ganze Zeit über schuldig. Wegen allem und jedem. Sogar ...«

»Natürlich tun Sie das. Deshalb denken Sie auch, daß Ihnen jeder beim Essen zuschaut. Sie dürfen keinen Appetit haben, geschweige denn richtigen Hunger.«

Sie umklammerte ihre Gemüsetüten. »Davon verstehe ich nichts«, sagte sie. Dann ging sie den Flur entlang und bog um die Ecke.

Ich blickte ihr nach. Ihre Bedürftigkeit, ihr Wunsch, geliebt zu werden, und ihre Angst, es zu zeigen, rührten mich. Ich holte tief Luft und widmete mich wieder LaFountaines Akte.

Den lückenhaften Krankenberichten zufolge zeigte der Patient am 23.November die ersten Symptome. An diesem Tag suchte er einen Vorgesetzen auf und meldete, Meuchelmörder würden ihn verfolgen, um ihn wegen »feiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit« hinzurichten. Er bekam ein Beruhigungsmittel und wurde in der Krankenstube des Stützpunktes beobachtet, weil man eine akute Streßreaktion vermutete. Seine Symptome legten sich, und er versah wieder seinen gewohnten Dienst. Am 25.November jedoch nahm Mr. LaFountaine mit Hilfe eines offenbar aus der Krankenstube entwendeten Skalpells eine Krankenschwester als Geisel, die ihn dort gepflegt hatte. Er beharrte darauf, sie sei an der Verschwörung beteiligt, die zum Ziel habe, ihn gefangenzunehmen und hinzurichten. Nachdem er sie vier Stunden lang in einem Lagerschuppen festgehalten hatte, ließ er sie frei. Er hatte ihr tiefe, horizontale Schnittwunden in den Augenwinkeln beigebracht, offenbar weil er den Verdacht hegte, sie sei mit ferngesteuerten Kameras ausgestattet.

Diesen letzten Satz las ich dreimal. Mir drehte sich fast der Magen um. Also hatte er es schon einmal getan. Da stand es schwarz auf weiß: eine Frau, ein Messer, die Suche nach etwas, das sich unter der Haut verbarg. Ich ließ den Kopf sinken. War mir entgangen, daß Westmoreland einem bestimmten Zwang folgte? Hatte er wissen wollen, ob seine Geliebte, die Madonna, unter ihren weichen Brüsten nicht etwa doch ein Roboter war? Bereute er jetzt, weil er nur Fleisch und Blut gefunden hatte? Selbst unter dem Einfluß von Amytal konnte er mir seine Tat vielleicht deshalb nicht gestehen, weil er mich in seiner Angst für einen der Verschwörer hielt, die ihn ermorden wollten. Am liebsten hätte ich nicht mehr weitergelesen, aber es mußte sein:

Mr. LaFountaine wurde festgenommen und inhaftiert. Am 28. November fand eine Verhandlung vor dem Kriegsgericht statt. Die Anklage gegen ihn wurde fallengelassen, und man kam zu dem Schluß, daß er an einer psychischen Erkrankung litt. Der Patient wurde aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee entlassen und an diese Einrichtung überstellt. Eine Untersuchung seines Gesundheitszustandes ergab, daß es sich bei ihm um einen gepflegten, kräftigen weißen Mann handelte, der zu einer raschen, zum Teil unzusammenhängenden Sprechweise neigte. Sein Zustand war labil. Seine Stimmung wurde vom Patienten selbst als »grauenerregend« bezeichnet. Er litt weiterhin an ausgeprägter Paranoia und war davon überzeugt, er werde von anderen verfolgt, die sich an ihm für seine »feigen Verbrechen« rächen wollten. Er stritt akustische, visuelle und olfaktorische Halluzinationen ab (obwohl seine Angaben vermutlich nicht zuverlässig sind). Er kennt seinen Namen und das Datum, hält dieses Krankenhaus allerdings für ein »Experimentierlabor«, wo sein Gehirn mach Radiotransmittern untersucht« werden soll. Roboter und Maschinen sind bei ihm eine fixe Idee.

Es handelt sich unserer Kenntnis nach um seine erste Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Er behauptet, niemals an einer psychischen Krankheit gelitten zu haben.

Seine kindliche Entwicklung ist von Bedeutung, da er von beiden Eltern körperlich mißhandelt wurde. Wir wissen nicht, ob es dabei zu einem Hirntrauma oder Bewußtseinsverlust gekommen ist.

Ich schloß die Augen. Jeder Gewalttäter, den ich bislang behandelt hatte, war als Kind selbst Opfer von Gewalt geworden. Ich nahm mein Kokspäckchen heraus, schnupfte den Rest und las weiter.

Körperliche Erkrankungen im Erwachsenenalter sind ebenfalls nicht bekannt. Es gibt keine Anzeichen für Alkoholmißbrauch oder dem Konsum illegaler Drogen.

Wir werden Mr. LaFountaine mit Psychopharmaka, aller Wahrscheinlichkeit nach mit Haloperidol, behandeln. Ziel der Therapie ist ein Abklingen der paranoiden Wahnvorstellungen, der weiteren psychotischen Symptome und seiner gewalttätigen Neigungen. Angesichts der Tatsache, daß der Patient eine Gefahr für andere darstellt, rechnen wir mit einem längeren stationären Aufenthalt.

Dr. med. Bruce Rightwinder

Behandelnder Psychiater, 13B

LaFountaines erster Klinikaufenthalt hatte fünf Monate gedauert. Das Haloperidol konnte nichts gegen seine Paranoia ausrichten. Auch Thorazin half nichts. Allmählich fragte sich Dr. Rightwinder, ob die Symptome seines Patienten nicht auf eine latente psychotische Depression zurückzuführen waren. Schließlich hatte er einen Freund verloren. Nachdem die sechswöchige probeweise Verabreichung des Antidepressivums Imipramin auch keine Besserung bewirkt hatte, verordnete Rightwinder zwölf Elektroschock-Sitzungen.

Der Zustand des Patienten besserte sich stetig, und er begann seiner Umwelt mehr Vertrauen entgegenzubringen. Außerdem sprach er nicht mehr von Robotern und Transmittern. Allerdings hatte die Elektroschocktherapie eine einschneidende Nebenwirkung: »Der Patient kann sich an nichts mehr erinnern, was vor seiner Einweisung ins Krankenhaus vorgefallen ist«, schrieb Rightwinder. »Er hat vergessen, daß er am Überfall auf das Lager Son Tay teilgenommen hat, und streitet ab, daß ein ihm nahestehender Mensch gestorben ist. Dieser Gedächtnisverlust gibt zwar Anlaß zur Sorge, wir halten ihn jedoch nur für vorübergehend.«

Für mich hörte es sich eher so an, als hätte man LaFountaines Trauma – nur vorübergehend – in die tiefsten Tiefen seines Großhirns gebombt. Aber psychische Konflikte arbeiten sich hartnäckig zurück an die Oberfläche. Innerhalb der nächsten zehn Jahre wurde er immer wieder wegen paranoider Wahnvorstellungen stationär behandelt. Jedesmal erhielt er weitere Psychopharmaka und Elektroschocktherapie, und sein Zustand besserte sich langsam. Da einem anderen behandelnden Psychiater die ständigen Rückfälle seltsam erschienen, entschied er, Mr. LaFountaine solle alle zwei Monate ins Krankenhaus kommen, um sich stabilisierende Elektroschocks verabreichen zu lassen. Doch ab November1985 ließ sich der Patient nicht mehr blicken:

Mr. LaFountaine versäumte es, seine Termine zur stabilisierenden Elektroschocktherapie wahrzunehmen. Angesichts seiner gewalttätigen Übergriffe in der Vergangenheit und der rezidivierenden Paranoia innerhalb der letzten Jahres wurde bei Gericht die Amtspflegschaft beantragt. Die Polizei wurde aufgefordert, den Patienten ausfindig zu machen und ihn in die Notaufnahme zu bringen. Die Adresse in Charlestown und eine Personenbeschreibung wurden weitergeleitet.

 

Aber offenbar hatte die Polizei ihn nicht gefunden – bis jetzt. Ich klappte die Akte zu und machte mich auf die Suche nach Rusty. Sie war zwei Gänge weiter mit der Ablage beschäftigt. Ich hielt ihr die Akte hin.

Doch sie machte keine Anstalten, sie entgegenzunehmen. »Sie sehen schrecklich aus«, stellte sie fest. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Ich bin nur müde.«

»Ich weiß nicht, ob ich alles verstehe, was Sie mir gesagt haben. Aber wenn ich darüber nachdenke, kommt es mir ziemlich logisch vor.«

Ich konnte mich kaum auf ihre Worte konzentrieren.

»Haben Sie eine Praxis? Können Sie mir Ihre Karte geben?« Sie wartete eine Weile. »Haben Sie mir überhaupt zugehört?« Eigentlich hätte ich ihr die Wahrheit über mich erzählen können – nämlich daß sich meine Fähigkeiten auf zehnminütige Spontananalysen beschränkten, wie man sie von jedem guten Kaffeehaus-Hellseher bekommen kann. Ich hätte ihr erklären sollen, daß sie einen mutigeren und ehrlicheren Menschen als mich brauchte, wenn sie zu den Höllenfeuern zurückkehren wollte, denen das Kind in ihr zum Opfer gefallen war. Ich hätte ihr gestehen können, daß ich sie wahrscheinlich enttäuschen und einsam irgendwo in der Vergangenheit zurücklassen würde, da ich nicht in der Lage war, sie auf diese Reise zu begleiten. »Ich behandle keine Patienten mehr«, war alles, was ich herausbrachte. Menschen, denen das Leben übel mitgespielt hat, erkennen einander. Ihre Stimme klang mitfühlend, als sie fragte: »Sie behandeln keine Patienten? Warum denn?«

»Das ist eine lange Geschichte.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Denken Sie lieber über Ihre eigene nach.« Ich legte die Akte auf ein leeres Regal und ging hinaus.