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Donnerstag, 6:15
Bei meiner Ankunft auf dem Revier stand die Tür zu Emma Hancocks Büro offen. Sie blickte auf, als Malloy und der ältere Polizist, der sich nur Grillo nannte, mich in Westmorelands alte Zelle stießen. Ich blieb an der Tür stehen, und sie schlossen mich ein. »Wo ist Ihr anderer Gast?« erkundigte ich mich.
Malloy antwortete nicht.
»Wie lautet die Anklage gegen mich?«
»Schwere Frage. Da gibt es mehrere Möglichkeiten: Kokainbesitz, Gefährdung des Straßenverkehrs, Widerstand gegen die Festnahme.«
»Widerstand gegen die Festnahme? Ich bin Ihnen doch brav nachgefahren.«
»Haarspaltereien«, sagte Grillo und klopfte Malloy auf den Rücken. »Darf ich telephonieren?«
Malloy kicherte. »Ich dachte, ich wäre derjenige, der sich schlechte Filme anschaut.« Dann drehte er sich um, und die beiden gingen zur Tür.
Ich setzte mich auf die Pritsche und sah mich in der Zelle um. Mein Blick blieb an einem eingetrockneten Blutspritzer an der Wand hängen. wo Westmoreland gestanden hatte, als er sich auf die Zunge biß. Auch auf dem Boden bemerkte ich ein paar rote Schmierer, entstanden bei meinem Versuch, ihn nach dem Angriff auf mich zu überwältigen.
Ich spähte in die anderen Zellen hinüber: alle leer. Wahrscheinlich hatte Hancock ihren wichtigen Gefangenen mit Sam Fitzgeralds Einwilligung nach Concord in die Massachusetts Corrections Institution verlegen lassen, wo er jetzt auf seinen Prozeß wartete.
Inzwischen pochte mein Schädel. Da ich fürchtete, daß mein Blutdruck durch das Koks gefährlich ansteigen könnte, beschloß ich, mich hinzulegen. Aus der Pritsche quoll Verwesungsgeruch und hüllte mich ein. Ich starrte zum oberen Stockbett hinauf und stützte mich auf die Ellenbogen, um das Wort zu lesen, das dort, hingeschmiert mit Blut, stand: GEORGE. »George LaFountaine«, sagte ich laut vor mich hin. Dann sank ich auf die Matratze zurück und schloß die Augen.
Einige Minuten später wachte ich von Schlüsselgeklapper wieder auf. Emma Hancock trat in die Zelle. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und setzte mich auf.
Sie lehnte an der Wand. »Ich habe Sie gewarnt«, meinte sie.
»Und ich habe Sie unterschätzt, Emma. Ich dachte, Sie hätten Angst, ich könnte Ihnen die Beförderung zum Polizeichef durchkreuzen. Nicht im Traum wäre ich drauf gekommen, daß Sie es auf einen höheren Posten abgesehen haben. Bei einer zukünftigen Bürgermeisterin Hancock wäre ich natürlich vorsichtiger gewesen.«
»Ich könnte in dieser Stadt viel bewirken. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.«
»Doch Sie meistern die Kurven mit Bravour.« Ich zeigte auf das eingetrocknete Blut an der Wand. »Sie haben den General verlegt –eine Hürde weniger. Fitzgerald ist ein miserabler Psychiater, aber er weiß, wo etwas zu holen ist.« Hancock preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie wirkte erschöpft. »Ich habe ihn nicht verlegt.« Ich nickte ganz automatisch. Dann aber stutzte ich. »Was soll das heißen, Sie haben ihn nicht verlegt?« Noch einmal sah ich mich im Zellenblock uni: kein Mensch.
Sie senkte die Augen und blickte mich dann an. »Er ist tot, Frank. Er hat sich umgebracht.«
»Umgebracht?«
»Er hat sich eine Socke in den Hals gestopft. Tobias Lucey hat ihn gestern spät in der Nacht tot aufgefunden.« Ich sprang hoch. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen auf ihn aufpassen«, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Sie zuckte die Achseln. »Niemand hat das gewollt.«
»Niemand?« Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. »Und was ist mit Ihnen?«
»Ich wünsche keinem Menschen den Tod.«
»Nein? Auch nicht tief in Ihrem Innersten, auf das die Nonnen von Sacred Heart keinen Einfluß hatten? Überlegen Sie mal: Es ist doch viel einfacher, Westmoreland aus dem Weg zu schaffen, als zu riskieren, daß ein neunmalkluger Pflichtverteidiger sich mit dem Fall zu profilieren versucht.« Ich trat einen Schritt auf sie zu. »Wer regt sich schon darüber auf, was mit einem Penner passiert?«
Sie richtete sich auf. »Ich habe ihn nicht getötet.«
»Nicht auf eine Weise, für die man Sie zur Verantwortung ziehen könnte. Wenigstens nicht in diesem Leben. Aber damit sind ja wohl alle Probleme beseitigt, die ihren Wahlkampf stören könnten, nicht wahr? Mörder gefaßt. Mörder tot. Ende der Geschichte. Richtig, Bürgermeisterin Hancock?« Ich machte noch einen Schritt auf sie zu.
»Nein. Sie irren sich.«
»Ich irre mich? Ach, das ist ja interessant, Emma. So sagen Sie mir schon, wie leid es Ihnen tut. Wie sehr Sie wollten, daß Westmoreland seine gerechte Strafe erhält.«
»Wir haben wieder eine Leiche.«
»Wieder eine ...« Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube verpaßt. Eine Weile starrte ich sie an, dann taumelte ich rückwärts und ließ mich auf meine Pritsche sinken. »Gleiche Vorgehensweise?«
»Nicht direkt, aber nah dran.«
»Wer war sie?«
»Sie?«
»Das Opfer, Emma.«
»Warum sagen Sie ›sie‹?«
»Das schließe ich aus Kleinigkeiten. Zum Beispiel daraus, daß der Mörder offenbar darauf steht, Frauen die Brüste abzuschneiden.«
»Sie war neunzehn«, antwortete Hancock tonlos. »Alleinstehend. Lebte in der Park Street. Ihr Mitbewohner hat sie vor ein paar Stunden zu Hause gefunden.«
»Krankenschwester?«
»Tänzerin.«
Ich sah sie an.
»Sie arbeitete im Lynx Club.« Hancock musterte mich prüfend. »Mein Gott. Ich war eben erst dort.«
»Ich weiß. Das ist einer der Gründe, warum ich Sie von Malloy herbringen ließ. Der Besitzer notiert die Autonummern von allen Wagen auf seinem Parkplatz. Nur für den Fall, daß es Arger gibt.« Sie verschränkte die Arme. »Und Sie stehen auf der Liste.«
»Und ...«
»Und Sie waren ziemlich sauer, weil Sie sich im Fall Westmoreland nicht durchsetzen konnten.«
»Und weiter?«
»Und ich habe keine Ahnung, wie sauer Sie werden können, Frank, besonders nicht, wenn Sie Koks nehmen. Sie sind für mich wie ein fremder Mensch.«
Ich sah sie ungläubig an. »Sie denken, ich hätte die Tänzerin umgebracht? Warum? Um meine Theorie zu beweisen?« Sie zuckte die Achseln.
Ich stand auf und näherte mich ihr auf Armeslänge. »Ihre Schuldgefühle fressen Sie auf, Emma«, sagte ich leise. »Sie sind für den Tod dieses Mädchens verantwortlich, und Sie wissen das. Sie haben zugelassen, daß der Täter frei auf der Straße herumläuft und nicht einmal Angst vor Verfolgung zu haben braucht. Und da Ihr Leben ansonsten so traurig und leer ist, würden Sie alles tun, um Bürgermeisterin zu werden.« Ich kam noch näher. »Bürgermeisterin von Lynn.Ein toller Job. Was für ein jämmerliches Motiv. Sie kotzen ...«
Sie wandte sich ab und schien mit den Tränen zu kämpfen.
Ich stand einfach nur da.
Dann holte sie tief Luft und drehte sich wieder zu mir um. »Sie hieß Monique Peletier«, sagte sie. »Sie war meine Nichte.«
Eine Ausbildung als Psychiater sollte einen eigentlich dazu befähigen, die Trauer eines anderen Menschen schweigend mitanzusehen. Doch ich brauchte Worte, um mich dahinter zu verstecken.
Hancock rieb sich mit den Handballen die Augen, verschränkte wieder die Arme und sah durch die Gitterstäbe der Zelle. Sie wirkte eher verwirrt als traurig, als ob sie es nicht fassen könnte, daß ihr sechster Sinn sie so schnöde im Stich gelassen hatte. Ich kannte dieses Gefühl. »Mein Bruder ist vor einigen Jahren gestorben. Ich habe sie hin und wieder besucht und gehofft, ich könnte sie für die Kirche interessieren. Sie war ein wunderbarer Mensch. Sie wußte nur nichts mit ihrem Leben anzufangen.«
»Standen Sie ihr sehr nahe?«
»Sie wissen doch, daß ich niemanden nah an mich heranlasse.« Ich wartete ab, in der Hoffnung, sie würde mir mehr über sich erzählen.
Eine Weile blieb sie stehen und sah mich an. Dann straffte sie die Schultern. »Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob beide Taten von demselben Mann begangen wurden. DerNorth Shore Weekly hat gestern einen Artikel gebracht, in dem der Mord an Sarah Johnston in allen Details geschildert wurde. Vielleicht haben wir es mit einem Trittbrettfahrer zu tun.« Ich nickte. Vermutlich suchte sie verzweifelt nach einer Erklärung, die sie von ihrer Schuld freisprach. Ich wußte nicht genug über den Fall, um ihr zu widersprechen, doch das war mir ganz recht.
Sie schlug die Fingernägel so fest gegeneinander, daß ich schon fürchtete, sie würden abbrechen. »Wer immer das Monique auch angetan hat, ich werde ihn finden«, schwor sie. »Gott ist mein Zeuge.« Dann sah sie mich wieder an. »Auch wenn wir es nicht mit einem Serienmörder zu tun haben, brauchen wir dringend ein Täterprofil. Und dabei bin ich auf Ihre Hilfe angewiesen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Vorhin haben Sie ins Schwarze getroffen, Emma. Ich bin dazu nicht in der Lage. In Ihrem Fall würde ich die Finger von Fitzgerald lassen, aber Chuck Sloane nimmt den Fall bestimmt an.«
»Sloane will ich nicht. Er ist ein Pfuscher.«
»Andrew Rothstein vom New England Medical Center ist ein zuverlässiger Mann.«
Sie betrachtete mich. »Ich suche keinen zuverlässigen Mann, Frank. Nicht mehr. Kein gewöhnlicher Seelenklempner kann nachvollziehen, was in diesem Ungeheuer vorgeht.«
»Ich würde Ihnen nichts nützen. Ich bin nicht klar im Kopf.«
»Ich verstehe. Zweihundertfünfzig die Stunde. Zehn Stunden Vorschuß.«
»Es geht nicht ums Geld.«
»Fünfunddreißigtausend Vorschuß. Ich sorge dafür, daß sich jemand um diesen Jungen mit der Fahrerflucht-Anzeige kümmert. Ich habe gehört, er will unbedingt auf die Polizeiakademie.«
Ich verdrehte die Augen. »Spitze. Wieder mal ein wahrhaft vertrauenswürdiger Zeitgenosse mit Polizeimarke.«
»Was wollen Sie sonst noch? Sie brauchen es nur zu sagen.«
Ich warf einen Blick auf Westmorelands getrocknetes Blut an der Wand und knirschte mit den Zähnen. Am liebsten hätte ich ihr geantwortet, daß ich ihr die Todesangst wünschte, die einen Paranoiker befällt, wenn man ihn wie ein Tier in einen Käfig sperrt. Ich wollte, daß sie die psychische Bedrängnis durchlitt, die es einem als vernünftigen Ausweg erscheinen läßt, sich eine Socke in den Hals zu stopfen. Ich wollte ihr Geständnis, daß sie nicht fähig war, so tief um ihre Nichte zu trauern wie Westmoreland um seinen Freund. Aber sie litt auch so schon genug. »Ich will gar nichts von Ihnen, Emma«, entgegnete ich deshalb.
Sie schürzte die Lippen. »Sie wurden wegen Kokainbesitzes festgenommen.«
»Dann sitze ich meine sechzig Tage eben ab. Irgendwann mußte es ja so kommen.«
»Könnte auch länger werden. Vielleicht möchte der Richter an Ihnen ein Exempel statuieren.«
»Vielleicht.«
»Und da wäre auch noch die Ärztekammer.«
Ich starrte sie entgeistert an.
»Ist das Ihr letztes Wort?« Sie fixierte mich. »Ich frage Sie nicht noch ein mal.«
Ich nickte, wenn auch zögernd. Ich wußte nicht, welche Trümpfe sie sonst noch im Ärmel hatte.
»Also gut«, sagte sie. »Sie haben freie Hand.« Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ich regle das mit der Anklage wegen Drogenbesitz und der Fahrerflucht-Anzeige und sorge dafür, daß Sie die Stunden bezahlt bekommen, die Sie bis jetzt in den Fall investiert haben. Die Ärztekammer erfährt nichts. Die ganze Sache – Westmoreland und Monique – war mein Fehler. Sie hatten von Anfang an recht.« Sie atmete tief durch. »Auch wenn es Ihnen egal ist, mich interessiert es nicht, was die anderen wegen Prescott, dem Koks oder sonst über Sie sagen. Sie sind in Ihrem Job der Beste, ob Sie das nun glauben oder nicht.« Mit diesen Worten ging sie hinaus.
Soviel zum Thema McLean. Ich folgte dem Wagen von Emma Hancock zur Gerichtsmedizin. Es war kurz nach acht Uhr morgens. An beiden Seiten der Union Street tuckerten Müllwagen vorbei. Der Gestank drang sogar durch die geschlossenen Fenster des Rover. Ich überlegte, ob ich mich davonstehlen und auf der Route 1 nach Vermont fahren sollte, wo die Luft besser war. Doch Hancocks Beichte war mir nahegegangen. Ich wollte ihr helfen, den Psychopathen zu schnappen, der ihre Nichte abgeschlachtet hatte.
Und da war auch noch ein anderer Grund, warum ich mich nicht verdrückte – und zwar ein sehr eigennütziger. Nach meinen Erfahrungen mit Prescott, Billy und jetzt mit Westmoreland fragte ich mich mehr denn je, ob ich einer Spur der Aggression und Zerstörungswut bis zum Ende nachgehen konnte. Nur wenige Tage vor Westmorelands Tod hatte ich im Stonehill Hospital in seinem Krankenbericht gelesen, daß er auch schon in der Vergangenheit selbstmordgefährdet gewesen war. Und dennoch hatte ich ihn nicht gefragt, ob er sich etwas antun wollte. Vielleicht hätte allein diese Frage ihm das Gefühl vermittelt, daß jemand seine Verzweiflung verstand.
Und warum hatte ich Westmoreland nicht noch einmal besucht, nachdem ich aus der Krankenakte der Veteranenverwaltung wußte, welches Trauma er während des Überfalls auf Son Tay durchgemacht hatte? Fehlte mir der Mut, ihm zu helfen, sich mit dem sinnlosen Tod seines Freundes auseinanderzusetzen? Hatte ich nicht sehen wollen, daß auch George LaFountaine in diesem Gefangenenlager einen sinnlosen Tod gestorben war?
Der Streifenwagen hielt an, und ich parkte dahinter. Emma Hancock und ich gingen zur Tür der Gerichtsmedizin. »Sind Sie sicher, daß Sie sich das antun wollen?« fragte ich sie.
Sie öffnete die Tür und trat ein.
Ich folgte ihr ins Autopsielabor.
Paulson Levitsky stand, ein Klemmbrett in der Hand, wieder neben einem grauen Körper. Als wir den Seziertisch fast erreicht hatten, blickte er auf. »Die hohen Herrschaften lassen sich immer erst beim zweiten Mord blicken«, witzelte er. »Es gibt doch nichts Besseres als einen Serientäter, damit alle endlich an einem Strang ziehen.«
Hancock blieb stehen und packte mich mit ihrer fleischigen Hand am Arm. »Er braucht nicht zu wissen, daß es eine Verwandte von mir ist«, flüsterte sie.
»Irgendwann erfährt er es doch.«
»Irgendwann ist besser als jetzt.«
»In Ordnung.«
Wir näherten uns dem Tisch.
»Diesmal ist es schlimmer als bei Ms. Johnston«, erklärte Levitsky und rückte seinen Krawattenknoten zurecht. Dann zog er den stählernen Zeigestab aus der Tasche und fuhr ihn aus. »Ms. Peletier weist Verletzungen im Genitalbereich auf.«
Ich betrachtete das zerfetzte Fleisch zwischen Moniques Beinen.»Gütiger Himmel«, murmelte Hancock. »Wie Sie sehen, wurde die Klitoris entfernt.« Levitsky deutete mit dem Stab. »Außerdem fehlen die Brüste. Wieder scheint es sich bei der Waffe um eine rasiermesserscharfe Klinge von weniger als fünf Zentimetern Länge zu handeln.« Vorsichtig hob er der. Kopf der Leiche an und zeigte uns eine blau angelaufene Beule hinter dem rechten Ohr. » Todesursache war jedoch ein Schlag auf den Kopf mit einem stumpfen Gegenstand. Kann ein Kreuzschlüssel gewesen sein. Die Verletzungen erfolgten erst danach.« Sanft legte er den Kopf zurück auf den Tisch. »Die abgetrennten Körperteile sind verschwunden.«
Kopfschüttelnd betrachtete ich die verstümmelte Brust des Mädchens, dann ihr Gesicht. »Ich hab sie noch vor ein paar Stunden im Lynx Club tanzen sehn«, sagte ich.
»Wo? « fragte Levitsky.
Ich drehte mich zu ihm um. »Im Lynx Club. Ein Striptease-Schuppen in Revere. Gestern abend habe ich dort ein paar Gläser getrunken. Sie arbeitete dort als Tänzerin, Ihr Bühnenname war Candy,«
Er zog die Augenbrauen hoch, schwieg aber.
Nach einem Blick auf Hancock wandte ich mich wieder an Levitsky. »Sie war bis auf ein Haardreieck- über den Schamlippen vollkommen rasiert, Paulson.« Ich wies auf die fragliche Stelle.
Hancock verzog das Gesicht. »Wie können Sie sich an so was erinnern?«
Ich mußte weitersprechen. »Und noch was. Sie trug einen gepiercten Ring in der Klitoris.«
»Einen Ring?« fragte Hancock.
»Die Leute haben eben verschiedene Vorlieben«, antwortete Levitsky. »In einigen Kulturen ist das Durchbohren der Klitoris nicht weiter außergewöhnlich. Bei uns jedoch handelt es sich, soweit ich weiß, um ein Ritual unter Sadomasochisten. Sie hatte Schwellungen und geringfügige Abschürfungen an den Handgelenken. Handschellen könnten eine Erklärung dafür sein.«
Ich bemerkte, daß Hancock nach den Handschellen an ihrem Gürtel tastete. »Wurde sie vergewaltigt?« fragte sie. »In ihrer Vagina wurde Sperma sichergestellt. Ich weiß allerdings nicht, ob es vom Täter oder von einem Liebhaber stammt.«
»Wirst du es mit den bei Sarah gefundenen Spermaspuren vergleichen?« erkundigte ich mich.
Levitsky zwinkerte mir zu. »Soll ich mir die Zeit nehmen oder es lieber auf sich beruhen lassen? Du weißt ja, daß die Polizei nicht begeistert ist, wenn ich mich in Details verzettele.«
»Sie bekommen so viel Zeit, wie Sie brauchen«, entgegnete Hancock ruhig.
»Da Jack the Ripper wieder zugeschlagen hat, besteht vermutlich keine Eile mehr, den Fall schnellstmöglich abzuschließen«, meinte Levitsky und warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Allerdings fürchte ich, daß die Früchte meiner Geduld Mr. Westmoreland nicht mehr viel nützen werden.«
Hancock hatte diese Spitze verdient – allerdings nicht, während ihre Nichte auf dem Seziertisch lag. »Machen wir weiter, Paulson«, forderte ich ihn deshalb auf.
»Okay. Dann also los. Aber zuerst würde ich gern alles erfahren, was du über sie weißt.«
»Über ihr Aussehen?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
»Du bist nicht das erstemal hier, Frankie-Boy. Ich brauche sämtliche Informationen, die mir helfen, meine Untersuchungsergebnisse zu deuten.«
Unwillkürlich drehte ich mich zu Hancock um. »Ich glaube, sie ging auf den Strich«, sagte ich leise. »Was?« fragte Paulson. »Sprich lauter und ins Mikrophon.«
»Sie war eine Nutte«, wiederholte ich bedrückt. »Eine Prostituierte. Eine Freundin von ihr hat mir erzählt, daß sie es für Geld macht.« Ich spürte Hancocks Hand auf meiner Schulter.
»Verschweigen Sie uns nichts, was uns in diesem Fall weiterbringt, damit wir diesen Typen schnappen«, meinte sie. Ihre Stimme klang, als wäre sie mit ihren Gedanken weit weg.
Levitsky betrachtete uns beide prüfend.
»Sonst weiß ich nichts«, erwiderte ich.
»Okay, wenigstens kennen wir jetzt den Grund, falls ich Sperma von verschiedenen Männern in ihr finden sollte.« Er hatte Hancock immer noch auf dem Kieker. »Hoffentlich bringt meine Spermaanalyse nicht einige Ihrer großzügigen Spender in Verlegenheit. Schließlich haben wir Wahlkampf.«
Hancocks Stirn war gerötet. Sie holte tief Luft. »Ich bin an objektiven Resultaten interessiert, Herr Doktor.«
»Vielen Dank.« Levitsky verbeugte sich leicht. »Eine größere Freude könnten Sie mir gar nicht machen.« Er zupfte heftig an seinen Manschetten, um sie zu glätten.
»Hast du was gefunden, das mir bei der Erstellung eines Täterprofils hilft?« fragte ich ihn.
»Nur, daß unser Mann offenbar sehr sorgfältig vorgeht. Ich habe Dias von den Wundrändern an der Brust angefertigt. Die Veränderungen sind dieselben wie bei der ersten Leiche. Der Täter hat irgend etwas mit den Wunden angestellt. Vielleicht etwas Baraufgestreut. Ich bin noch immer nicht sicher.«
»Keine Nachricht vom FBI-Labor?« erkundigte ich mich. »FBI?« fragte Hancock spitz.
»Paulson hat einen Freund, der Pathologe in Hopkins ist. Er hat Gewebeproben von Sarahs Wunden nach Quantico ins Labor geschickt«, erklärte ich.
»Diese Sache wird bestimmt bald die Inside Edition interessieren«, sagte sie.
Ich war entsetzt. Hoffte sie noch immer auf Schadensbegrenzung vor der Wahl?
»Ich denke an die Mutter des Mädchens«, fuhr sie fort. »Es ist nicht leicht für sie.«
Die Tür zum Autopsielabor wurde aufgerissen, und Malloy platzte herein. Er schlenderte lässig zum Tisch, baute sich zwischen mir und Hancock auf und betrachtete die Leiche. »Wow«, lachte er. »Wußte schon immer, daß man vom Rasieren Ausschlag kriegen kann.« Keiner von uns lachte. »Wenn man zu viele Haare wegnimmt ...« Er blickte vom einen zum anderen und zuckte dann die Achseln. »Wann schneiden wir sie auf, Doc?«
»Es überrascht mich nicht, daß Sie gerade rechtzeitig kommen«, sagte Levitsky. »Officer Malloy blieb bei mir, bis ich das letzte von Ms. Johnstons Organen seziert hatte. Sein Interesse an Beweisen ist unersättlich.«
»Darauf können Sie einen lassen«, entgegnete Malloy. »Übrigens habe ich gerade die Schwuchtel vernommen, mit der diese Nutte zusammen gewohnt hat.«
Hancock schloß die Augen.
»Ein arbeitsloser Konditor. Wirklich ein Schätzchen. Aber wenn man mit so einer zu tun hat, kann man nicht erwarten ...« Ich stieß Malloy meinen Ellenbogen in den Mund. Mit einem dumpfen Aufprall landete er auf dem Boden und wand sich vor Schmerzen.
Hancock packte mich am Arm. Eine Hand an der Pistole, funkelte sie mich wütend an. Dann ließ sie langsam los und schien in sich zusammenzusinken. Sie drehte sich zum Tisch um und berührte Monique am Knöchel. »Dieses Mädchen ist meine Nichte, Dr. Levitsky. Bitte helfen Sie uns, so gut Sie können.«
»Scheiße! Meine Zähne!« brüllte Malloy.
Hancock stand nur da und fuhr mit den Fingern sanft über Moniques Haut. Nach einer Weile wandte sie sich um, ging zu Malloy hinüber, faßte ihn unter den Achseln und zog ihn auf die Beine. »Ich brauche alle verfügbaren Leute«, sagte sie. »Also versuchen Sie bloß nicht, sich krank schreiben zu lassen. Gehen Sie zum Zahnarzt und kommen Sie dann zurück aufs Revier.« Sie ließ ihn wieder auf den Boden gleiten und sah mich an.
»Vergessen Sie nicht. Sie kriegen alles, was Sie brauchen.«
Ich verließ die Gerichtsmedizin gegen neun. Inzwischen hatte ich die Müdigkeit überwunden und fühlte mich wie in einem Nebel. Nachdem ich das Auto gewendet hatte, legte ich eine alte CD von Ray Charles ein. Ich wollte mir Moniques Wohnung ansehen, um am Tatort vielleicht etwas von der Handschrift des Mörders zu entdecken. Aber ich hatte das Bedürfnis, zuerst Kathy im Krankenhaus einen Besuch abzustatten. Warum, wußte ich nicht. Vielleicht hatte sie recht, und ich benutzte sie wirklich als Drogenersatz. Ich legte den Gang ein, um in Richtung Union Street zu fahren. Doch als ich einen kleinen, braunen Umschlag entdeckte, der mit Klebestreifen unten an meinem Handschuhfach befestigt war, bremste ich ruckartig. Ich riß den Umschlag auf – er sah aus wie die, in denen ich als Kind meine Briefmarkensammlung aufbewahrt hatte. Darin befanden sich ein wiederverschließbarer Plastikbeutel mit einem Pulver, das Kokain sein mußte, und eine kleine Karte. Ich holte die Karte zuerst heraus. Auf der einen Seite standen die Anfangszeiten der Messe in Sacred Heart, auf die andere hatte Hancock geschrieben: »Sie kriegen alles, was Sie brauchen.« Jetzt bekam ich sogar schon Drogen auf Bestellung. Ich warf die Karte auf die Fußmatte, zog den Beutel heraus und knetete ihn zwischen den Fingerspitzen. Er fühlte sich weich und einladend an. Wie ein Kissen, auf das ich meinen Kopf betten konnte. Ich schluckte und stellte mir vor, meine Kehle nicht mehr spüren zu können. Dann riß ich den Beutel auf, nahm eine Prise und rieb sie mir ins Zahnfleisch des Oberkiefers. Es wurde sofort taub. Taub. Doch noch während ich diesen Zustand der Gefühllosigkeit genoß, fing das Wort an, mich zu stören. Ich mußte daran denken, was Rachel gesagt hatte: Wenn ich mich erst einmal mit meiner Wut auseinandersetzte, würde ich das Koks nicht mehr brauchen. Ich wußte, daß sie absolut recht hatte, ja, ich war felsenfest davon überzeugt. Und dennoch nahm ich noch eine Prise, um meinen Unterkiefer zu betäuben, dann eine dritte für die Nase. Stumpf. Wieder ein Wort, das Stoff zum Nachdenken gab.
Der Nebel lüftete sich, aber ich befürchtete, es könnte sich wieder um ein durch große Distanz hervorgerufenes Trugbild handeln, so wie meine romantischen Vorstellungen von der Schifffahrt im Hafen von Chelsea. Ich trat aufs Gas, raste die Union Street entlang und schlängelte mich durch den Verkehr auf der Boston Street. Vor dem Stonehill Hospital parkte ich auf einem der Plätze, die für die Ärzte reserviert waren. Am Ende der Reihe stand Trevor Lucas' roter Ferrari Mondial mit der Kühlerhaube zur Straße. Beim Anblick seines personalisierten Nummernschilds schüttelte ich den Kopf. So ein Angeber. Ich eilte die Stufen hinauf und durch die Vorhalle auf die Aufzüge zu.
Kris Jerold, die Empfangssekretärin, sagte, Kathy mache gerade Visite. »Es dauert noch eine knappe Stunde«, meinte sie und fingerte an ihren goldenen Ohrringen herum. »Ich richte ihr aus, daß Sie da waren.«
»Sie haben etwas an Ihren Haaren verändert.«
»Das nennt man lachsfarben.«
»Ist mir gleich aufgefallen. Es hat was.«
»Danke.«
»Wie geht es ihr?«
»Dr. Singleton?«
»Ja. Oder sprechen wir von jemand anderem?«
»Ganz gut.«
»Gut?«
Sie biß sich auf die Lippe. »Nun ja, vielleicht ist ›gut‹ nicht das richtige Wort. Sie ist ... aber ich habe im Moment zuviel zu tun, um mich zu unterhalten.«
Trevor Lucas kam heraus. Er machte ein paar Schritte, erkannte mich und blieb stehen.
Ich warf Kris einen Blick zu. »Offenbar geht es ihr doch nicht so gut.« Ich näherte mich dem Empfangstisch. »Ach, sieh mal einer an, der Messerstecher«, begrüßte mich Lucas. »Wußten Sie, daß das ein Anzug von Brioni war? Viertausend Dollar.«
Sein jetziger wirkte mindestens genauso teuer. Ich betrachtete seine goldene Gürtelschließe mit dem Monogramm und seine Slipper aus Krokodilleder. »Ich wette, Sie verfügen inzwischen über eine umfangreiche Garderobe.«
»So hat eben jeder seine Schwächen.«
Kris bündelte ein paar Papiere, entschuldigte sich und verschwand auf dem Gang.
Ich bemerkte tiefe, gerötete Kratzer unter Lucas' rechtem Ohr, die bis hinunter zu seinem geknöpften Kragen reichten. Sonst sah er aus wie der Inbegriff der Vollkommenheit. »Sind Sie überfallen worden?« fragte ich und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Er betastete die Verletzungen. »Über mangelnde Leidenschaft kann man sich bei Ihrer Kleinen nicht beklagen. Wahrscheinlich kennen Sie diese Seite an ihr noch gar nicht. Aber dieses Thema haben wir beide ja schon gestern erörtert.«
»Ich weiß nur noch, daß Sie abgehauen sind.«
»Jetzt bin ich hier.«
Ich wollte mich schon auf ihn stürzen, als Kathy in der Tür erschien. So wütend hatte ich sie noch nie erlebt. Als Lucas bemerkte, daß ich ihm über die Schulter blickte, drehte er sich zu ihr um und trat dann zur Seite, so daß wir drei dastanden wie die Scheitelpunkte eines Dreiecks. »Warum erzählst du Frank nicht, warum du mich gekratzt hast?« forderte er sie grinsend auf.
»Ich habe dich nicht angefaßt«, zischte Kathy.
»Ich habe dich eifersüchtig gemacht, richtig?«
»Eifersüchtig auf was? Du hast sie nicht mehr alle.«
»Sag die Wahrheit, Maus.«
Kathy sah mich an, und ein trauriger Blick trat in ihre Augen. »Bitte, schick ihn weg«, flehte sie. Am liebsten hätte ich sie weiter provoziert, aber ich bemerkte, daß ihr eine Träne die Wange hinunterrollte. »Warum verschwinden Sie nicht einfach?« wandte ich mich deswegen halbherzig an Lucas.
»Sag es ihm. Sag ihm, wie wütend ich dich gemacht habe. Er kennt dich kaum.«
Nun weinte sie richtig.
Lucas schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell bei ihr die Stimmungen wechseln.« Dann sah er mich wieder an. »Wie deuten Sie das? Im einen Augenblick eine betrogene Frau und im nächsten ein hilfloses Kind.« Kathy wandte den Kopf. Die eine Seite ihres Gesichts war rot und geschwollen.
Ich biß die Zähne zusammen. »Hat er dich geschlagen?« fragte ich.
»Das ist egal«, schluchzte sie.
Ich starrte Lucas an. »Hauen Sie ab.«
»Wollen Sie ihr das so leicht durchgehen lassen? Sie spielt das schwache Weibchen, und das Problem ist erledigt? Verlangen Sie nicht einmal eine Erklärung, was ich von ihr wollte? Was wir beide da drinnen gemacht haben?« Er wies mit dem Kopf auf ihr Büro.
Ich zögerte.
»Es liegt ganz bei Ihnen«, meinte er nach einer Weile. »Soll ich bleiben oder gehen?«
»Ich habe Sie aufgefordert zu verschwinden, und das war mein voller Ernst.«
Er warf einen Blick auf Kathy. »Irgendwann wird sie Ihnen schon alles beichten.« Er strebte auf den Aufzug zu. Ich ging zu Kathy und strich ihr sanft übers Gesicht. Obwohl ich sie mit Lucas ertappt hatte, wollte ich ihr nah sein. Doch ich wußte nicht, wie ich das anstellen sollte.
»Bist du fertig mit ihm?« fragte ich.
»Ich werde ihn niemals wiedersehen.«
»Das habe ich schon mal gehört.«
Sie drehte das Gesicht weg. »Laß mich ruhig allein, wenn du willst.«
»Ich will aber nicht.«
Ein wenig versöhnlicher nahm sie meine Hand.
»Ich möchte nur verstehen, was passiert ist. Mit dir. Zwischen uns.«
»Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, daß du dich erst mit deinem eigenen Problem befaßt. Du weißt, daß ich keinen anderen Mann will, doch solange du dieses Zeug nimmst, ist es, als wärst du gar nicht richtig da.« Ich nickte. »Ich war fest entschlossen, ins McLean zu gehen.«
»Und ...«
»Es hat sich herausgestellt, daß ich recht hatte. Hancock hat den falschen Mann eingesperrt. Es hat ein weiterer Mord stattgefunden.«
»Was soll das heißen?«
»Gestern nacht wurde wieder eine Frau verstümmelt.«
»Bitte sag, daß sie nicht hier im Krankenhaus gearbeitet hat.«
»Hat sie nicht. Sie war Tänzerin im Lynx Club.«
»Eine Stripperin?«
»Ja, eine Stripperin.«
»So was Perverses hätte Sarah nie getan. Wo liegt also der Zusammenhang?«
Ich versuchte, es diplomatisch auszudrücken. »Die Wunden waren sehr ähnlich wie die von Sarah.« Sie schloß die Augen.
»Hancock will, daß ich den Fall übernehme.«
Sie ließ meine Hand los. »Aber das ändert nichts daran, daß du eine Drogentherapie brauchst.«
»Richtig. Wenn das hier vorbei ist.«
»Es wird nie vorbei sein. Du findest immer einen Grund, dich weiter zuzukoksen, Frank. Und ich glaube nicht, daß du diesen Fall wegen Sarah, mir oder Emma Hancock übernimmst. Du schiebst uns nur vor, um deine Sucht zu rechtfertigen.«
»Ich darf mich nicht drücken.«
Kathy verdrehte die Augen. »Dann bleib mir vom Leibe. Okay?« Sie ging in ihr Büro und wollte schon die Tür schließen. Ich stellte den Fuß dazwischen.
Ihr Gesicht wirkte wie versteinert. Keine Trauer. Keine Wut. »Ich werde nicht untätig mitansehen, wie du dich kaputtmachst. Wenn du nicht verschwindest, rufe ich den Sicherheitsdienst.«
»Was?«
Ihr Atem wurde schneller. »Hau ab, bevor ich die Beherrschung verliere.«
Ich wußte, daß sie das ernst meinte. »In Ordnung.« Ich zog den Fuß weg. »Aber vergiß nicht ...« Sie knallte mir die Tür vor der Nase zu.