16
Eine kalte Schweißschicht, zu dünn, um sie mit den Fingern zu ertasten, bedeckte mein Gesicht und meinen Hals. Im Arbeitszimmer stank es nach Bourbon und Erbrochenem. Den Telephonhörer am Ohr, wartete ich darauf, daß Kathy sich meldete, die ich gerade im Stonehill Hospital hatte anpiepsen lassen. Ich wußte, daß sie die Telephonistin nach dem Namen des Anrufers fragen und sich dann weigern konnte, das Gespräch anzunehmen. Aber ein siebter Sinn sagte mir, daß sie mit mir reden wollte, ja, es regelrecht brauchte. Kurz darauf war die Telephonistin wieder am Apparat.
»Sie nimmt nicht ab, Doktor Clevenger. Möchten Sie es weiter ... Ach, da ist sie ja. Einen Moment bitte.« Nun standen mir Schweißtropfen auf der Stirn, und ich wischte sie mit dem Ärmel weg. In mir wühlten Trauer, Haß und Mitleid, und ich wußte nicht, ob es mir gelingen würde, mich zu beherrschen. Doch es mußte sein. »Ich verbinde«, flötete die Telephonistin.
Es klickte in der Leitung, das Besetztzeichen war zu hören, dann ... Schweigen.
»Kathy?«
»Was ist?« entgegnete sie tonlos.
Ich schaffte es nicht, ruhig zu atmen.
»Hast du mir was zu sagen?« Sie ließ mir keine Zeit für eine Antwort. »Tschüs.«
»Warte!« Ich beschloß, ihr meine Erregung zu erklären, um ihr keine Gelegenheit zu Interpretationen zu geben. Allerdings wollte ich sie im ungewissen darüber lassen, ob ich bereits von Rachels Tod erfahren hatte. »Mir geht es ziemlich dreckig. Meine Hände zittern, und mein Herz klopft wie verrückt.«
»Klingt, als hättest du zuviel Koks erwischt. Trink doch noch einen.«
»Ich hab das Zeug nicht angerührt.«
»Dann liegt es vielleicht an deinem anstrengenden Liebesleben. Das hält der stärkste Mann nicht aus.«
»Nein. Ich ... ich habe Angst.«
»Öfter mal was Neues.«
»Ich ertrage den Gedanken nicht, daß du nicht mehr bei mir bist.«
Schweigen.
»Kathy?«
»Gestern nacht bist du ganz gut ohne mich zurechtgekommen.«
Ich wußte, daß ich die Verteidigungsmechanismen, die Kathy sich als erwachsene Frau zugelegt hatte, nur auf eine Weise durchbrechen konnte: Ich mußte mitten in ihre ursprüngliche, kindliche Wut und ihre Sehnsüchte hineinstoßen. Der Brief an ihren Vater kam mir in den Sinn, und ich gab ihr die Antwort, die sie sich vermutlich von ihm erhofft hatte. »Ich habe die Heimlichkeiten satt«, meinte ich. »Ich bitte dich, mir noch eine Chance zu geben. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Dann verrate mir eines: Warum hast du mich betrogen? Sie war jünger als ich. War sie auch besser ?«
»Sie war wie ein Kind. Sie wußte nicht, was sie tat.«
»0 doch. Schließlich war sie kein Baby mehr. Wenigstens nicht mehr als die anderen.« Kathys Stimme klang nun weniger schneidend, ihr Ton erinnerte eher an ein schmollendes kleines Mädchen. »Die haben versucht, mir etwas wegzunehmen.«
Mir traten die Tränen in die Augen, aber ich zwang mich weiterzumachen. »Sie bedeutet mir nichts. Du bist die einzige Frau, mit der ich ins Bett will.«
»Ich habe das Haus verwüstet.«
»Du warst nicht ganz bei Verstand.«
»Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, so wütend war ich.« Ihre Stimme verlor sich. »Ich habe alles kaputtgemacht.«
»Wir räumen zusammen auf.«
»Wirst du sie nicht vermissen?«
Weder an Kathys Tonfall noch an ihrer Ausdrucksweise konnte ich erkennen, ob sie sich in der Gegenwart oder in der Vergangenheit befand – ob sie von Blaire oder von Rachel sprach. »Nein«, sagte ich. »Ich werde sie nicht vermissen.«
»Aber ich.«
Ich schloß die Augen. »Hör zu, Kathy. Warum fahren wir nicht einfach weg? Nach Plum Island, zu dem Hotel am Strand, wo wir unsere erste gemeinsame Nacht verbracht haben. Waltons' Ocean Front. Weißt du noch?« Offenbar weinte sie. »Kathy?«
»Ja?«
»Waltons' Ocean Front. Treffen wir uns dort. Wir könnten noch mal von vorn anfangen.«
»Das geht nicht. Ich habe heute nacht vier Entbindungen und komme wahrscheinlich erst morgen abend hier raus.«
»Dann eben morgen. Treffen wir uns gleich nach der Arbeit.«
»Und du wirst mich nicht versetzen?« Ihre Stimme klang wieder gereizt.
»Ehrenwort.«
»Wehe, wenn du mich sitzen läßt wie bestellt und nicht abgeholt.« Sie legte auf.
Es dauerte fast drei Stunden, bis ich das Haus einigermaßen in Ordnung gebracht hatte. Ich versuchte, nicht an Rachel zu denken, doch immer wieder schnürte es mir urplötzlich die Brust zu. Mir wurde übel, und ich mußte mich setzen, wenn mich die Erinnerung an sie überkam.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit klingelte das Telephon. Ich stürzte hin. »Clevenger«, keuchte ich. »Die Gestapo hat mir erlaubt, noch einen letzten Anruf zu tätigen.«
Ich erkannte Trevor Lucas' Stimme.
»Wären Sie so nett, mich zu besuchen?«
»Warum sollte ich?«
»Damit ich Ihnen die Wahrheit erzählen kann.«
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, können Sie es genauso gut jetzt tun.«
»Lieber nicht. Sie müssen schon persönlich herkommen.«
Mir fiel ein, vor wie vielen Dingen ich die Augen verschlossen hatte. »Ich bin sofort bei Ihnen«, antwortete ich. Er legte auf.
Ich stieg ins Auto und fuhr zum Revier. Emma Hancock war nicht da. Tobias Lucey bewachte die Zellen, doch da mein Ansehen bei der Polizei wieder gestiegen war, ließ er mich anstandslos zu Lucas.
»Am besten verabschieden Sie sich gleich von ihm. Er wird morgen früh nach MCI Concord verlegt«, verkündete Lucey und öffnete die Stahltür. »Die Grand Jury hat das Verfahren gegen ihn eröffnet. Vorsätzlicher Mord in drei Fällen.«
»Wer vertritt die Anklage ?«
»Red Donovan, der neue Bezirksstaatsanwalt, übernimmt den Fall selbst. Heutzutage ist ein dreifacher Mord zwar keine große Sache mehr, aber wenn der Täter ein Arzt ist ... nach der Geschichte könnte man glatt einen Film drehen.«
»Wen hat sich Lucas als Anwalt genommen?«
»Er hat sich selbst vertreten, wie er gesagt hat. Und er hat nicht einen einzigen Zeugen aufgerufen.« Lucey schüttelte den Kopf. »Der Mann glaubt wohl, er hätte es mit einem harmlosen Blechschaden zu tun.«
»Darüber würde er sich wahrscheinlich viel mehr aufregen«, meinte ich.
Ich ging den Flur entlang zu Lucas' Zelle. Die anderen Zellen waren leer, und ich hörte ihn leise summen, bevor ich ihn sah. Wieder saß er im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen auf dem Boden und meditierte. Ich blieb stehen und musterte sein verbeultes, zerschrammtes Gesicht. Plötzlich öffnete er die Augen und erwiderte meinen Blick. »Tut mir leid«, sagte er.
»Was tut Ihnen leid? Wovon reden Sie?«
»Von Ihrer Tänzerin. Der flachbrüstigen mit den roten Haaren.« Ich knirschte mit den Zähnen.
»Das vierte Opfer«, fuhr er fort. »Auf der Fahrt ins Gefängnis habe ich im Radio von ihrer Feuerbestattung gehört.« Er runzelte die Stirn. »Sie sehen zum Fürchten aus. Hoffentlich hat sie Ihnen nicht zu viel bedeutet.«
»Sie haben drei Opfer auf dem Gewissen«, antwortete ich mit schwacher Stimme. »Vielleicht haben Sie der Grand Jury nicht richtig zugehört.«
»Nein, die haben mir nicht zugehört. Ich habe gesagt, daß ich unschuldig bin, und ich hätte es auch beweisen können. Aber das hat noch Zeit.«
»Warum warten, wenn Sie unschuldig sind?«
»Warum? Weil man mir unrecht getan und mich schrecklicher Gräueltaten beschuldigt hat, die ich nicht begangen habe. Ein schwerwiegender Irrtum, der richtiggestellt werden muß.«
»Denken Sie, es kümmert jemanden, wenn Sie sechs Monate lang im Hochsicherheitsgefängnis meditieren, anstatt Fettpolster abzusaugen?«
Er kicherte, allerdings ein wenig gekünstelt. »Natürlich nicht. Ich bin unwichtig. Futter für die Boulevardpresse. Doch die Anzahl der Leichen wird sie interessieren. Ich habe noch Dutzende von Geliebten, und Sie halten sich ja wahrscheinlich auch ein paar Pferdchen. Schwer zu sagen, wen Kathy sich als nächstes aussucht.«
Ich erstarrte. Er wußte es.
»Ich habe Ihnen bereits erklärt, daß nicht ich Ihr Problem bin. Aber Sie wollten ja nicht auf mich hören.« Mir wurde flau im Magen. »Sie trauen Kathy allen Ernstes zu, jemanden umzubringen«, stieß ich hervor. »Bei Sarah war ich mir nicht sicher. Aber als Sie mir von Monique erzählten, gab es für mich keinen Zweifel mehr. Das dachte ich wenigstens. Deshalb habe ich ein kleines Experiment veranstaltet.«
»Ein Experiment?«
»Ich habe Kathy das Monster angerufen und ihr erzählt, daß ich mit Wembley ein intimes Verhältnis hätte.« Er hielt inne. »Das stimmte natürlich nicht, doch anscheinend habe ich sehr überzeugend gewirkt. Wie Kathy weiß, setze ich meine Operationen normalerweise so an, daß ich um halb acht fertig bin. Mit Wembleys Rolex auf dem Armaturenbrett hat sie versucht, mir ein Alibi zu verschaffen. Wirklich rührend. Ich habe ja bereits erwähnt, daß sie mich tatsächlich liebt. Bedauerlicherweise hat sie anscheinend angefangen, ihre Konkurrentinnen aus dem Weg zu räumen, nachdem ich mit ihr Schluß gemacht hatte.«
»Wann war das?«
»Kurz vor Sarahs Ermordung. Offenbar wird Kathy hauptsächlich von Eifersucht getrieben. Wahrscheinlich kommt das noch daher, daß ihr Vater sie verführt hat. Jack.« Er lächelte. »Es muß ganz schön mühsam gewesen sein, es dem Alten zu besorgen. Sie wissen ja, daß er sie Maus genannt hat. ›Sei still wie ein Mäuschen‹, sagte er immer, bevor er es mir ihr getrieben hat. Hübsche Geschichte, oder?«
»Sie hat erwähnt, daß Sie ihr auch von meiner Tänzerin erzählt haben.«
»Das war Ihr Fehler. Kathy ist euch beiden nach Chelsea gefolgt. Ich habe ihr lediglich bestätigt, daß Sie auf die Kleine stehen. Nach dem zu schließen, was mit ihr passiert ist, liebt Kathy Sie anscheinend auch.«
»Sie haben sie einfach weitermorden lassen.« Vor Entsetzen drehte es mir fast den Magen um. »Sie haben sie dazu animiert.«
»Daraus können Sie mir keinen Vorwurf machen. Die Versuchung war einfach zu groß. Sie zu vögeln und dabei zu wissen, was sie getan hat, war himmlisch.« Mit einem verträumten Seufzer blickte er zur Decke und sah mich dann wieder an.
Wie gerne hätte ich ihn auf der Stelle kaltgemacht. Es wäre ganz leicht gewesen – nur ein kräftiger Tritt gegen das Nasenbein. Ich fixierte den Punkt zwischen seinen Augen.
Er legte den Kopf schief. »Seien Sie nicht ungerecht, Frank. Wir sind uns sehr ähnlich. Ich wette, es hat Ihnen auch Spaß mit ihr gemacht, wenn sie gerade jemanden ermordet hatte. Auch wenn Sie es damals noch nicht wußten.« Ich hob meinen Fuß ein Stückchen und spannte die Wade an. Dann hielt ich inne. Ein rascher Tod wäre zu gnädig gewesen. Es war besser, ihn im Gefängnis verrotten zu lassen. Ich kräuselte die Lippen. »Nein, Sie irren sich. Wir haben überhaupt nichts gemeinsam.«
»Wie schade. Wir hätten Freunde werden können, wenn ich freikomme.«
»Wenn.« Ich trat einen Schritt zurück.
»Wie bitte?«
»Wenn Sie jemals freikommen. Davor müssen Sie noch einen Mordprozeß hinter sich bringen. Und es wird keine weitere Leiche geben, mit der Sie Ihre Verteidigung untermauern können.«
Er sah mich entgeistert an. »Ich habe den Verdacht, daß hier die Tatsachen verdreht werden. Vielleicht sollte ich meine Geschichte doch so bald wie möglich erzählen.«
»Niemand interessiert sich für Ihre Geschichte. Sie blödes Arschloch«, stieß ich hervor. »Ich halte Sie für schuldig. Emma Hancock, unsere zukünftige Bürgermeisterin, sieht das genauso. Und der neue Bezirksstaatsanwalt will sich einen Namen machen.«
»Sie würden doch nicht tatenlos zusehen, wie ich wegen Mordes verurteilt werde. Das verstieße gegen Ihre ethischen Grundsätze. Sie sind ein ehrlicher Mensch.«
»Ehrlich?« Ich umklammerte so fest die Gitterstäbe, daß sich meine Fäuste weiß verfärbten. »Ich wünsche mir ehrlich, daß Sie lebenslänglich in MCI Concord landen. Ich werde Sie ehrlich nach der Verurteilung besuchen und dann noch einmal, nachdem Ihr Revisionsantrag abgewiesen wurde. Ich will dabei sein, wenn Sie eines Tages endgültig kapieren, daß Sie dieses Drecksloch niemals wieder verlassen werden.«
Lucas' Gleichmut verflog. »Wo ist Kathy?« knurrte er.
»Kümmern Sie sich lieber um sich selbst. Wer weiß? Vielleicht ist der Bewährungsausschuß ja von Ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeindruckt und läßt Sie schon nach dreißig Jahren laufen.« Ich wandte mich zur Tür. »Frank!« rief Lucas.
Ich ging hinaus.
Als ich aus dem Gebäude kam, hielt Emma Hancock gerade am Straßenrand. Sie kurbelte das Beifahrerfenster herunter. »Was hat er gesagt?« fragte sie.
»Er behauptet steif und fest, wir wollten ihm was anhängen. Wir alle wären daran beteiligt: Sie, ich und ein halbes Dutzend Ärzte in Stonehill. Er hat sogar Kathy beschuldigt.«
Sie ließ die Fingernägel aneinander klicken. »Das soll doch nicht etwa heißen, daß er verrückt ist ...«
»Auf keinen Fall. Er kann Gut und Böse unterscheiden. Und er hat das Böse gewählt.«
»Na großartig. Bis morgen früh kann er reden, so viel er will. Er ist in Isolationshaft. Keine Anrufe, keine Besucher. Red Donovan möchte Komplikationen vermeiden. Morgen kommt er nach Concord in den Hochsicherheitstrakt. Dann sollen sich andere Leute mit ihm befassen.«
»Wunderbar.«
Lächelnd nickte sie einem vorbeigehenden Polizisten zu. »Ich habe erfahren, daß Sie mit der jungen Dame, die in Chelsea ermordet wurde, Kontakt hatten.«
Kontakt. »Na und?«
Hancock zuckte die Achseln. »Das bedeutet, daß zwischen Ihnen und dreien der Opfer, Sarah, Monique und dieser Rachel, eine Verbindung besteht.«
Diese Rachel. Die anonyme Ausdrucksweise versetzte mir einen Stich, aber ich verzog keine Miene. »Schön, dann besteht eben eine Verbindung zwischen mir und dreien der Opfer. Das trifft auch auf alle anderen Mitarbeiter des Stonehill Hospital zu, die ab und zu im Lynx Club waren. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Auf nichts Bestimmtes. Mir wäre es nur lieber, wenn Sie sich nicht ständig in kompromittierende Situationen begeben würden –ganz zu schweigen davon, daß es unmoralisch ist.« Sie sah mich eindringlich an. »Was ist denn mit Levitsky los? Warum beharrt er weiterhin darauf, daß es zwischen allen Morden einen Zusammenhang gibt ?«
»Er ist Statistiker. Und es verstößt gegen sein wissenschaftliches Weltbild, daß vier Morde im Umkreis von dreißig Kilometern nicht auf das Konto ein und desselben Täters gehen.«
»Wenn in Lynn noch ein Mord stattfindet, bin ich am Ende.«
»Mit dem Wahlkampf ?«
»Mit dem Wahlkampf und mit meinem Job. Der Stadtrat würde kurzen Prozeß mit mir machen – und zwar berechtigtermaßen. Aber wissen Sie was? Das spielt alles keine Rolle. Es ist nur wichtig, daß ich den Mann fasse, der Monique auf dem Gewissen hat. Heute bei der Beerdigung haben sie mich als Heldin gefeiert. Wenn der Mörder ...«
»Mein siebter Sinn sagt mir, daß Sie keine Angst vor einem weiteren Mord haben müssen. Und Ihnen geht es doch genauso. Vielleicht ist es das erstemal, daß wir beide einer Ansicht sind.«
Das schien sie zu beruhigen, aber sie bat mich, in der Nähe zu bleiben, falls noch etwas schiefging. Ich versprach es ihr. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihr von meinem Gastspiel in der Notaufnahme – und von Kathys Rolle in dieser Episode – zu erzählen. Doch dann beschloß ich, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
»Morgen mittag um zwölf ist die Beerdigung.«
»Von Monique? Sie haben eben gesagt ...«
»Von Rachel«, unterbrach sie mich. »Im Bestattungsinstitut Korff in Swampscott.« Sie hielt inne. »Ich wußte nicht, wie nahe Sie sich standen.«
Ich räusperte mich. »Danke, Emma. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.«
Ich verbrachte eine unruhige Nacht im Auto neben Kathys Volvo in der Garage des Stonehill Hospital. Ich wollte sichergehen, daß sie nicht versuchte, Lucas' Alibi mit einer fünften Leiche zu untermauern. Dann fuhr ich zu dem Bestattungsinstitut, einem riesigen Gebäude, das verloren zwischen drei Einkaufszentren stand.
Ich parkte auf der anderen Straßenseite und beobachtete die Wagen, die in den Parkplatz einbogen. Schwarzgekleidete Trauergäste strömten auf die riesigen, geschnitzten Türen zu. Ich fragte mich, ob Rachels Onkel auch dabei war. Mit zusammengebissenen Zähnen stellte ich mir vor, wie ich ihn mir schnappte, ihn hinaus auf den Gehweg schleppte und ihn in aller Seelenruhe zu Brei schlug. Doch dann schloß ich die Augen, und mir wurde klar, daß Rachel ihn nicht weggeschickt hätte. Sie hätte sich gefreut, wenn er sich mit ihr versöhnt hätte – und vielleicht auch mit sich selbst. Nach einer Minute startete ich den Rover. Von Korff bis zur Salem Station war es nur ein Katzensprung. Während der ganzen Fahrt sagte ich mir, daß ich ein Idiot war, weil ich der Vergangenheit hinterherjagte. Aber ich kehrte nicht um. Auf dem Bahnhof schlenderte ich die Bahnsteige entlang, auf der Suche nach etwas, das Erinnerungen in mir wachrufen würde. Erst nach über einer halben Stunde setzte ich mich auf eine Bank gegenüber von Gleis 4, wo ein Mosaik aus grünen und weißen Kacheln an der Wand prangte. Die Kacheln kamen mir bekannt vor. Ein paar Leute warteten auf den Zug, aber ich nahm sie kaum noch wahr, als ich auf die Gleise starrte. Furcht und Sehnsucht erfüllten mich. Wie gerne hätte ich mich an die Szene in allen Einzelheiten erinnert, so wie sie wirklich stattgefunden hatte. Doch manchmal ist der Verstand klüger als das Herz. Nur ein einziges Bild tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Ich sah das bartstoppelige Gesicht meines Vaters zwischen den Schienensträngen, und es wirkte so friedlich, wie ich es sonst niemals erlebt hatte. Und dann hallten die Worte in meinem Kopf wider, die eigentlich seine letzten hätten sein sollen: Es tut mir leid. Bitte verzeih mir. Das Rattern eines Zuges riß mich aus meinen Gedanken. Ich schlug die Augen auf und beobachtete, wie er näherkam. Und trotz des Lärms hörte ich wieder die Stimme meines Vaters. Ich wartete, bis die Fahrgäste eingestiegen waren, und blickte dem Zug nach.