14

Kurz nach drei Uhr nachts saßen wir auf der alten Kirchenbank in Rachels Wohnung vor den Glastüren, die auf die Dachterrasse führten. Hinter der Tobin Bridge in der Ferne schimmerten die Lichter von Boston. Ich nahm Rachels Hand, schob den Ärmel ihres Catsuits über den Ellenbogen und strich ihr über den Unterarm. Meine Nägel glitten über die vier vertikalen Narben, Spuren der Schnitte, die sie sich vor vielen Jahren zugefügt hatte. Sie betrachtete die Narben. »Neulich hast du mich gefragt, warum es mich nicht entsetzt, was die Menschen sich gegenseitig antun.«

Ich nickte.

»Falle ich auch unter die ärztliche Schweigepflicht, den Eid, den du abgelegt hast?«

»Ich glaube, unsere Beziehung sieht etwas anders aus als die zu meinen Patienten. Aber ich gebe dir mein Wort. Was du mir erzählst, bleibt unter uns.«

»Mein Onkel hat mich an seine Freunde verkauft.«

Einfach so.Mein Onkel hat mich an seine Freunde verkauft. Ich mußte mich zwingen, weiter mit den Nägeln über ihren Arm zu streichen.

»Ich war damals dreizehn. Meine Eltern hatten mich bei ihm gelassen, als sie für zwei Monate verreisen mußten.«

»Warum haben sie dich nicht mitgenommen?«

»Wegen der Schule. Sie waren bei General Electric in Lynn angestellt und sollten in New Jersey an einer Fortbildung oder so was teilnehmen. Ich war in der achten Klasse, und sie hielten es wohl für besser, wenn ich zu Hause blieb.«

»Aber es war nicht besser.«

»Nein.« Sie holte tief Luft. »Die ersten Wochen waren in Ordnung, aber dann wurde mein Onkel so ... so komisch. Er kam in mein Zimmer, wenn ich mich anzog, oder steckte den Kopf durch die Badezimmertür, wenn ich duschte. Immer hatte er eine faule Ausrede parat – er dachte, ich hätte ihn gerufen, oder er habe nicht gewußt, daß ich da drinnen war. Doch mir war klar, daß er log.«

»Hattest du Angst?«

»Das kam erst später.« Sie strich mit dem Finger über die Narben. »Er veranstaltete bei sich zu Hause Pokerabende für seine Arbeitskollegen. Jeden Dienstag kamen vier Mann.«

»Was haben sie beruflich gemacht?«

»Das habe ich vergessen. Warum?«

»Einfach so. Weil du dich an so viele Einzelheiten erinnerst.«

Sie rieb sich die Augen. »Irgendwas auf dem Bau. Wohnungsbau wahrscheinlich. Nein, ich glaube Straßen. Oder Brücken.« Ich sah zur Tobin Bridge, die sich über den Mystic River spannte. Irgendwo am Horizont entdeckt man immer Spuren der Vergangenheit.

»Wenn sie spielten, tranken sie Unmengen, und dann wurden sie laut. Ich konnte nicht schlafen. Deshalb las ich im Bett, bis sie wieder gingen. Aber eines Abends war ich erkältet und furchtbar müde. Obwohl es schon nach Mitternacht war, lachten und grölten sie. Ich ging in die Küche, wollte meinen Onkel fragen, ob sie nicht ruhiger sein könnten.« Sie blinzelte in die Dunkelheit. »Es herrschte ein schreckliches Chaos, überall lagen Bierflaschen herum. Und auf dem Tisch ein Haufen Geldscheine.«

Vor meinem inneren Auge sah ich Rachel, wie sie nackt auf dem Laufsteg im Lynx Club tanzte und Geldscheine vom Boden aufsammelte.

»Sie verstummten auf einen Schlag und glotzten mich an. Ich war im Nachthemd. Mein Onkel fragte mich, was los sei, doch das konnte ich ihm ja nicht vor all den Männern sagen. Deshalb erklärte ich, ich sei durstig, nahm mir ein Glas Wasser und ging wieder ins Bett.«

Ich nickte.

»Ein paar Minuten später öffnete er die Tür zu meinem Zimmer. Weil das Licht vom Flur hereinfiel, konnte ich sein Gesicht kaum sehen, doch sein Blick war anders als zuvor. Als würde er mich nicht kennen. Als sei ich eine Sache, kein Mensch.«

»Hat er was gesagt?«

»Er hat mich nur angesehen und ist dann wieder rausgegangen. Ich dachte, er sei böse auf mich, weil ich in die Küche gekommen war. Eigentlich verstand ich nicht, warum, es sei denn, er wollte verhindern, daß meine Eltern von der Sauferei und dem Pokerspielen erfuhren. Ich versuchte zu schlafen. Aber dann ging die Tür wieder auf.«

Ich umschloß ihre Hand.

»Es war einer der anderen Männer. Ein Dicker mit langen schwarzen Koteletten. Er kam auf mich zu. Als ich mich aufsetzte, blieb er stehen. Es schien ihm peinlich zu sein.« Sie verdrehte die Augen. »Ich dachte, er sei aus Versehen in mein Zimmer gekommen, und sagte ihm, die Toilette sei am anderen Ende des Flurs.«

Ich schwieg.

»Er stand da, als hätte er mich nicht gehört. Dann sah ich meinen Onkel in der Tür stehen. Und er ... äh ...« Ich ließ die Finger über ihren Arm gleiten.

»Er sagte: ›Nun mach schon, Jimmy! Schließlich hast du dafür bezahlt.‹«

Meine Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich habe versucht, mich zu wehren, aber er war einfach zu stark. Also habe ich mich nicht mehr gerührt.«

»Was hättest du sonst auch tun können?«

»Dann kam einer nach dem anderen. Sie stanken alle nach Bier. Zum Schluß stank das ganze Zimmer.« Ich kannte den Geruch aus dem Lynx Club. »Hat dein Onkel dich auch vergewaltigt?« fragte ich.

»Er hat zugesehen. Er war der Aufpasser.« Sie schluckte schwer. »Einer der Männer wollte mich mit einer Flasche bearbeiten. Mein Onkel hat ihm gesagt, das macht zehn Dollar extra.«

»Mit der ...«

»So ging das zwei Wochen ohne Pause.« Sie schüttelte den Kopf, dann zuckte sie die Achseln. »Und danach konnte mich nichts mehr überraschen.«

»Hast du es deinen Eltern erzählt?«

»Ja, ein paar Tage nach ihrer Rückkehr.«

»Und ...«

»Sie haben mir nicht geglaubt. Onkel Paul hatte sich bereits bei ihnen beklagt, ich hätte ihm keine Ruhe gelassen, grundlos in der Nacht geschrien. Außerdem hätte er mich erwischt, wie ich mit einem Jungen aus der Schule herumknutschte. Deshalb glaubten sie, ich hätte ein schlechtes Gewissen und bräuchte einen Sündenbock.« Sie strich sich über die Narben. »Irgendwann habe ich es dann so versucht.«

»Haben sie denn nicht dafür gesorgt, daß du Hilfe bekommst?«

»Sie brachten mich zu einem Psychiater.«

»Und hat der dir geglaubt?«

»Er hat mir Schlaftabletten verordnet. Vor allem aber suchte er bei mir ständig nach Anzeichen von Schizophrenie.« Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Wie furchtbar«, sagte ich. »Hat dir denn niemand zugehört?«

»Ich habe dann nicht mehr darüber geredet. Der Psychiater wollte mich schon einweisen lassen. Er hat mich auf Thorazin gesetzt. Als ich dann endlich den Mund gehalten habe, dachte er, mein Zustand hätte sich gebessert.«

»Wo ist dein Onkel jetzt?«

»In Orlando. In Rente.«

Ich seufzte laut. »Die Schweinehunde kommen meist ungeschoren davon.«

»Die hatten halt früher ihr Päckchen zu tragen. Der Mensch ist nicht von Natur aus schlecht. Mein Onkel und seine Freunde haben nur den Schmerz weitergegeben, den andere ihnen zugefügt haben.«

»Diese Leute tun dir leid?«

»Wenn es mir gutgeht. Wenn ich mich schlecht fühle, möchte ich sie aufspüren und für alles, was sie mir angetan haben, büßen lassen. Das ist der schwerste Teil am Gesundwerden.«

»Was?«

»Sich klarzumachen, daß es eigentlich niemanden gibt, den man hassen kann.«

»Und die Tanzerei? Du hast gemeint, das gehört auch zum Gesundwerden.«

»Ich bin dabei nackt, aber wie gesagt, keiner darf mich anrühren. Ich bewege mich so frei, wie ich möchte. Die einzige Möglichkeit, die den Männern bleibt, ist – wie heute imWäscheladen –, selbst Hand anzulegen.«

»Eine krasse Art, dich deiner Angst zu stellen.«

»Die Angst ist dabei wie verflogen. Du solltest es mal ausprobieren. Vielleicht kannst du dann nachts sogar schlafen.« Sie hob meine Hand an die Lippen und küßte sie. »Wovor hast du Angst?«

Ich brauchte einige Zeit, um darüber nachzudenken, und noch länger, bis ich soweit war, es auszusprechen. »Ich habe Angst vor dem Teil meiner Persönlichkeit, der sich an die Demütigungen in der Kindheit erinnert«, sagte ich. »Dem Teil, der die Schritte meines Vaters auf der Treppe hört und das blindwütige Klatschen seines Gürtels auf meinem Körper.«

»Du siehst aber gar nicht verängstigt aus. Eher wütend.«

Und dann fiel es mir wieder ein, ganz unspektakulär, wie es so oft bei tiefen Erkenntnissen geschieht. »Am meisten fürchte ich wohl den Teil in mir, der immer noch so voller Wut ist, daß ich meinen Vater umbringen könnte.« Sie schien sich zu entspannen. »Wie?« fragte sie.

»Was, wie?«

»Wie würdest du ihn umbringen?«

Ich kicherte verlegen wie ein kleiner Junge.

»Ich meine es ernst. Du kennst ja einige Mörder. Wie würdest du deinen Vater umbringen? Mit dem Messer? Mit einer Pistole?«

»Was weiß ich?« Ich mußte grinsen. »Und wie würdest du deinen Onkel umbringen?«

»Du willst also nicht als erster mit der Sprache rausrücken? Ist in Ordnung.« Sie schwieg einen Moment lang. »Ich würde ihn ans Bett ketten und vergiften. Dann würde ich dableiben, während es ihm immer dreckiger geht. In meiner Vorstellung hat er Kotze im Gesicht und in den Haaren, und aus seinen Augenwinkeln sickert Blut. Bevor er seinen letzten Atemzug tut, schneide ich ihm die Pulsadern auf.«

»Ich würde den Gürtel nehmen«, sagte ich. »Seinen Gürtel.« Ich

stellte mir vor, wie der Lederriemen seinen Hals zuschnürte.

Sie beugte sich vor und strich mit den Fingern über den Nacken.

»Hier.«

Ich nickte.

»Du würdest ihn zuziehen, bis dein Vater keine Luft mehr kriegt.«

Mein Herz schlug rascher.

»Auch noch, wenn er zusammensackt.«

Ich biß die Zähne zusammen. »Ich würde sogar weitermachen, wenn er mit den Händen seinen Hals umklammert, um sich zu befreien.« Fast wurde mir schwindlig. »Ich würde ihn durch die Gegend schleifen, bis er nur noch keucht. Dann würde ich den Gürtel lockern, damit er Luft bekommt. Aber nur ein paar Atemzüge lang, und dann ziehe ich den Riemen wieder zu.«

»Und du strangulierst ihn, bis er zu schreien versucht.«

»Das wäre mir egal.«

»Was ist, wenn er aufgibt? Wenn er sich hinsetzt und weint?«

»Das würde nichts ...« Plötzlich fiel mir ein, wie mein Vater nach seinem Besuch bei Dr. Henry Harris im Badezimmer geweint hatte. Ich schloß die Augen. »Ich würde ...«

»Sag es mir!«

»Ich würde ihn freilassen.« Es kam mir vor wie eine Niederlage. Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Ich auch.«

Ich sah sie an. »Deinen Onkel?«

Sie nickte.

Wider Willen mußte ich lächeln. »Was würde das ändern? Du hast ihn ja schon vergiftet.«

»Stimmt.« Sie lachte. »Ich würde einen Krankenwagen rufen. Oder ihm ein Gegengift geben.«

»Weil er geweint hat.«

Sie nickte. »Wenn man seinen eigenen Schmerz zulassen, ihn wirklich spüren kann, kann man andere nicht lange leiden sehen. Dazu müßte man ein Ungeheuer sein. Und ich habe mir geschworen, daß ich das nie werde.« Sie strich mir übers Haar. »Und du wirst das auch nicht.« Sie beugte sich vor und küßte mich.

Ich zog sie an mich, und unsere Lippen trafen sich. Sie nestelte an meinem Reißverschluß, und ich schob meine Hand zwischen ihre Beine, über die Oberschenkel, auf ihre feuchten Lippen. Dann drang ich mit den Fingern in sie ein. Sie seufzte, ließ sich zurück sinken und öffnete die Schenkel ein wenig. Ich schob ihren Rock hoch, und sie öffnete sich weiter. Ich kniete mich vor die Bank und küßte die weiche Wölbung zwischen Nabel und Scham. Dann hob ich sie auf und trug sie zum Bett. Sie sah mir zu, als ich mich langsam auszog. Sie wollte sich schon umdrehen, damit ich sie von hinten nehmen konnte, doch ich hielt sie zurück. Ich streichelte ihr übers Haar und fuhr die Linien ihres Gesichts nach. Und während wir uns ansahen, uns in die Augen schauten, nahm ich ihre Knie in die Hände und liebte sie, als sei es das erste Mal.

»Eines würde ich gern wissen«, fragte Rachel später. »Warum liegst du hier bei mir und nicht bei deiner Freundin?« Mit einem kurzen Räuspern machte ich mich auf eine Auseinandersetzung gefaßt.

Sie stützte sich auf den Ellenbogen. »Du wirkst nervös«, stellte sie lächelnd fest. »Ich wollte damit nicht sagen, daß das falsch ist. Ich wundere mich nur, denn schließlich ist sie Ärztin und so. Ihr beide müßt viel gemeinsam haben.«

»Das haben wir auch«, sprudelte es aus mir heraus. »Aber wir lieben uns nicht.« Ich hatte das Gefühl, mein Urteil abmildern zu müssen, doch ich wußte, es war die Wahrheit.

»Hat sie nichts dagegen, daß du hier bist?«

»0 doch. Sie ist furchtbar besitzergreifend. Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb wir einander nie wirklich nahgekommen sind. Obwohl wir zusammenwohnen.«

»Wie geht das?«

»Ich glaube, unsere Angst war zu groß.« Ich überlegte. »Keine Ahnung, wie es kommt, daß sich Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort öffnen. Obwohl es in meiner Praxis oft passiert, habe ich nie verstanden, warum.«

»Die Leute spüren, daß sie dir vertrauen können.«

»Aber nicht immer zu Recht.«

»Was soll das heißen?«

Ich erzählte ihr von Billy, vor allem von jenem letzten Telephongespräch, als er mir gesagt hatte, daß er mich brauchte. »So einen Anruf kriegen nicht viele Ärzte.« Sie ließ die Finger über mein Gesicht gleiten. »Er wollte sich von dir verabschieden. Nur wußte er nicht wie.«

Es schnürte mir die Kehle zu.

»Man kann nicht jeden retten.«

»Obwohl du offensichtlich diesen Anspruch hast.«

»Ich fange einfach bei mir selbst an.« Sie legte den Kopf auf meine Brust. »Das solltest du auch tun. Die Gefühle zulassen, denen du ausweichst.«

»Die gute Frau Doktor Lloyd.« Ich schloß die Augen.

»Eigentlich müßte ich dir ein Honorar berechnen« flüsterte sie.

Um sechs Uhr morgens weckten mich die Sonnenstrahlen. Als ich die schlafende Rachel betrachtete, meinte ich, ein Lächeln auf ihren Lippen zu sehen. Ich war glücklich. Ich kniete mich neben sie, vergrub den Kopf in ihrem Haar und atmete tief, als ob ich sie in mich einsaugen könnte. Dann sammelte ich meine Kleider auf, zog mich an und ging zur Tür.

»Frank?« Sie gähnte.

Ich kehrte zum Bett zurück, setzte mich auf den Rand und nahm ihre Hand, die sie unter der Decke hervorstreckte. »Wo willst du hin?« fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Nach Lynn.«

»Ist es noch nicht vorbei?«

»Nein.«

Für einige Sekunden döste sie ein; ihre Finger wurden schlaff, doch dann schlossen sie sich wieder fester um meine Hand. »Sieh dich vor.«

Ich wollte ihr sagen, daß ich sie liebte, doch mehr als einmal hatte ich diese Worte ausgesprochen, ohne sie ernst zu meinen. Sie hatten für mich an Wert verloren. So beugte ich mich nur vor und küßte sie auf die Stirn. Dann ging ich nach unten zum Rover.

Kurz darauf hatte ich Chelsea hinter mir gelassen. Ich fragte mich nicht, ob ich Rachel wiedersehen würde, denn das war einfach klar. Sie gehörte zu mir. Trotz meiner Müdigkeit, trotz meiner Sorgen, fühlte ich mich bei diesem Gedanken wie beflügelt. Zwar hatte ich unzählige Schläge eingesteckt, Unmengen Kokain geschnupft, mir Tragödien angehört und sie mitangesehen, und dennoch war ich offensichtlich noch nicht ganz am Ende. Noch konnte ein anderes Wesen durch das Labyrinth, in dem ich mich befand, zu mir vordringen. Und vielleicht würde ich so daraus entkommen können. Doch das Hochgefühl, in dem ich mich befand, währte nicht lange. Kaum hatte ich die Stadtgrenze zwischen Revere und Lynn überquert, als ich hinter mir eine Polizeisirene hörte. Ich sah in den Rückspiegel und entdeckte Malloy am Steuer eines Streifenwagens. Ich hielt an. Er kam wenige Meter hinter mir zum Stehen, stieg aus und spuckte auf den Boden. In der Hand hielt er einen rosa leuchtenden Bogen, den ich nur allzu gut kannte: das Formblatt, auf dem die Psychiater die Zwangseinweisung einer Person anordnen, die sich selbst oder anderen gefährlich werden könnte. Manchmal ließ die Polizei die Zwangseinweisung einleiten, damit ein Kleinkrimineller, den man für verrückt hielt, aus der Gefängniszelle in eine geschlossene Abteilung verlegt wurde. Ein Arzt mußte diese Verlegung mit seiner Unterschrift gutheißen. Ich überlegte mir, daß Malloy wohl zu faul gewesen war, den diensthabenden Psychiater des Stonehill Hospital aufzusuchen. Auf seinen stämmigen Beinen kam er auf mich zu, und ich ließ das Fenster herunter.

»Guten Morgen«, meinte er grinsend.

»Jetzt tauchen Sie schon zum zweiten mal in meinem Rückspiegel auf. Verfolgen Sie mich etwa?«

An gewisser Weise. Sie haben einen Kasten im Auto.«

»Einen was?«

»Einen Kasten. Das LoJack-Ortungssystem. Ich habe mir gedacht, ein so eleganter Schlitten wie Ihrer hat bestimmt einen Peilsender. Also brauchte ich mir bei der Zulassungsstelle lediglich Ihr Autokennzeichen geben zu lassen, und jetzt kann ich das Ortungssystem jederzeit von meinem Wagen aus aktivieren. Wenn Sie sich im Umkreis von fünfundsiebzig Kilometern befinden, sehe ich Ihren Standort auf der Karte.«

»Sie dürfen ein Auto doch nur verfolgen, wenn es als gestohlen gemeldet ist.«

»Im Ernst? Sie wollen mich wohl verkohlen.«

Ich starrte auf das Formular in seiner Hand. »Ich sollte dafür sorgen, daß Sie sich an den diensthabenden Arzt in der Notaufnahme wenden müssen«, sagte ich.

»Dafür?« Er ließ den Bogen rascheln.

»Nein. Weil Sie beide ein tolles Paar abgeben würden.« Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich dafür.«

»Es ist bereits unterschrieben«, erklärte er. »Wir haben es auch nicht angefordert. Es stammt von einem gewissen Dr. Pearson aus Boston und wurde per Boten aufs Revier gebracht. Ein paar andere Städte haben es auch erhalten.«

»Pearson?« Das erste mal hatte ich Pearsons Unterschrift auf einem Brief aus seinem Ferienhaus in Cape Cod gesehen, in dem er mich drängte, meine Therapie fortzusetzen. Jetzt fürchtete ich, daß Lucas Pearson und das Programm für Ärzte in Not benutzen wollte, um der Strafverfolgung zu entgehen, sich der Fürsorge des Gesundheitssystems zu unterstellen und sich für unzurechnungsfähig erklären zu lassen.

»Sie möchten sicher einen Blick darauf werfen.« Malloy hielt mir den Bogen vor die Nase.

Ich starrte auf das Feld, das den Namen des Patienten enthielt, doch wo ich Lucas' Namen zu finden fürchtete, stand mein eigener. »Was, zum Teufel ...«

»Offensichtlich bin ich nicht der einzige, der glaubt, daß Sie Hilfe brauchen.«

Ein paar Zeilen darunter hatte Pearson die Begründung für die Zwangseinweisung aufgeführt: Patient sprach von Selbstmordabsichten. Mehrere Suizidversuche in jüngster Zeit. Mißbrauch illegaler Drogen in der Vergangenheit. Akute Paranoia.

Malloy faltete den Bogen zusammen und steckte ihn in seine Hemdtasche. »Wir müssen den Rover hier stehenlassen. Sie dürfen nicht fahren. Sonst steuern Sie die Kiste womöglich noch an einen Baum.«

»Ich fahre mit Ihnen nirgendwohin. Wo ist Emma Hancock?«

»Sie hat heute frei. Morgen wird Monique beerdigt. Und wenn sie jetzt hier neben mir im Streifenwagen säße, würde das auch nichts ändern, denn sie darf in dieses Verfahren nicht eingreifen. Gesetz ist Gesetz. Wir kriegen die Anordnung und suchen Sie. Basta!«

Ich wollte das automatische Fenster schließen, doch Malloy steckte seine unbehaarten Arme in den Zwischenraum. Als der Motor durchdrehte, nahm ich den Finger vom Knopf.

»Ich muß Sie ins Krankenhaus bringen. Wie ich das anstelle, bleibt mir überlassen.«

Kurz erwog ich, aufs Gaspedal zu treten, doch ich wußte, daß er recht hatte. Um mich einzufangen, konnte er so viele Streifenwagen anfordern, wie er brauchte, und eine Verfolgungsjagd erschien mir sinnlos. »Hören Sie«, sagte ich, »tun Sie doch einfach so, als hätten Sie mich nicht gefunden. Lassen Sie mir ein paar Stunden, um die Sache zu klären. Das hier ist entweder ein schlechter Scherz oder noch was viel Schlimmeres.« Ich wies auf das Mobiltelephon. »Vielleicht erwische ich ja Pearson persönlich.«

»Laut dem Formular sind Sie im Begriff, sich was anzutun.« Achselzuckend blickte er die Straße entlang. »Persönlich finde ich die Idee ja gar nicht so schlecht. Wenn Sie beispielsweise meine Knarre nehmen und sich in den Mund stecken würden, könnte ich nichts dagegen tun.« Er öffnete den Lederriemen, mit dem seine Dienstwaffe im Holster gesichert war.

»Jetzt machen Sie schon wieder einen Fehler. Emma wird das gar nicht gefallen.«

»Ich tue nur meine Pflicht, und niemand kann mir etwas anhaben. Aber wissen Sie was? Ich nehme jede Disziplinarmaßnahme in Kauf, um Sie in der Klapsmühle schmoren zu sehen.«

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wer Ted Pearson dazu gebracht hatte, meine Einweisung anzuordnen, doch wenn ich neben Malloy in meinem Auto hocken blieb, würde ich das sicher nicht herausfinden. Also stieg ich aus dem Rover und ging zum Streifenwagen.

»Nach hinten«, bellte er.

»Warum?«

»Weil ich das so will.«

Ich zwinkerte ihm zu. »Das braucht Ihnen doch nicht peinlich zu sein«, sagte ich. Ich kletterte auf den Rücksitz, und wir ließen den Rover hinter uns. Wohin es ging, wußte ich, aber warum, war mir ein Rätsel.

Nels Clarke, der Allgemeinarzt, der in der Notaufnahme arbeitete, schaute weg, als er mich mit Malloy hereinkommen sah. Wir gingen zum psychiatrischen Untersuchungsraum hinter der Schwesternstation.

Elijah Randolph, ein beleibter schwarzer Pfleger von etwa dreißig Jahren, öffnete die Stahltür. Mit seinen Hängebacken, dem Backenbart und dem Overall sah er aus wie die Comicfigur Brutus. Wir hatten schon in der Notaufnahme zusammengearbeitet. »Hab mich heute extra für Sie feingemacht, Doc«, sagte er grinsend. »Als Schwarzer hat man nicht oft die Gelegenheit, einen weißen Arzt bei seiner Einweisung zu begrüßen.«

»Dann viel Spaß dabei.« An der Schwelle stutzte ich, denn mein Blick war auf das Rollbett mit vier Lederriemen gefallen, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Unzählige Male hatte ich meine Patienten in diesem Raum aufgesucht, doch nun, da ich wußte, daß die Tür hinter mir ins Schloß fallen würde, zögerte ich. Ohne zu wissen warum – oder vielleicht, weil er mit der Psychiatrie auf Kriegsfuß stand –, wandte ich mich zu Malloy um.

»Ihr Mundwerk hat Ihnen doch schon in ganz anderen Situationen geholfen«, sagte er fast freundlich. »Warum also nicht auch hier?«

»Danke. Ich werde mein Bestes tun.« Dann holte ich noch einmal tief Luft und betrat den Raum.

Elijah schloß die Tür hinter mir. »Dieser Bulle gehört geschlachtet. Den erträgt man nur als Ochsen am Spieß.« Er setzte sich auf einen Stahlhocker.

»Eben habe ich zum erstenmal gemerkt, daß tatsächlich ein Mensch in ihm steckt.« Ich lehnte mich gegen das Rollbett. »Wissen Sie, warum man mich eingewiesen hat?«

»Es heißt, Sie sind verrückt.«

»Das weiß ich.«

»Wir alle wissen das. Warum sonst werden die Durchgeknallten hier drinnen mucksmäuschenstill, wenn Sie reinkommen? Man erzählt sich hier schon seit Jahren, daß Sie nicht ganz richtig im Kopf sind.«

»Gut, aber wer behauptet das jetzt auf dem Formblatt?«

Mit einem Blick durch das Sichtfenster überprüfte er, was sich in der Schwesternstation tat. Von dort aus konnte man mit Knopfdruck eine Gegensprechanlage zum Untersuchungsraum aktivieren. Doch in der Nähe der Konsole war niemand zu sehen. Elijah holte den Blutdruckmesser und legte mir die Nylonmanschette um den Arm. »Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Tratsch verbreiten.«

»Natürlich nicht.«

Er kicherte, so daß sein Fett wabbelte. »Die Frauen verarschen uns seit Adam und Eva und der Geschichte mit dem Apfelkuchen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er legte sein Stethoskop an. »So sollte das in der Bibel stehen: Mit dem Apfelkuchen fing das ganze Elend an.«

»Welche Frauen?«

»Wie? Sprechen Sie lauter!« Er hielt mir die Muschel des Stethoskops vors Gesicht wie ein Mikrophon. »Warum sagen Sie ›die Frauen‹? Was haben Frauen damit zu tun, daß ich eingesperrt werde?« fragte ich. Er hob warnend den Finger, dann pumpte er mit dem Gummiball die Blutdruckmanschette auf.

»Wollen Sie's mir nicht sagen?«

»Pssst.« Er starrte nach unten auf die Skala. Die Quecksilbersäule stieg. Als sie etwa16o erreicht hatte, hörte er zu pumpen auf und öffnete ein Ventil, um die Luft langsam entweichen zu lassen. Bei 101 legte er es vollständig um. »Ein wenig zu hoch. Systolisch und diastolisch«, sagte er. »Sind Sie etwa nervös?«

Ich funkelte ihn wütend an.

Prüfend sah er zur Glasscheibe. Eine Schwester beugte sich über die Konsole. Elijah riß mir die Manschette vom Arm und zog sich die Stethoskophörer aus den Ohren. Dann holte er ein elektronisches Thermometer aus seiner Tasche. »Sagen Sie: ›Ahhhh‹!«

»Muß das sein?«

»Ahhh!«

Ich öffnete den Mund, und er schob mir das Thermometer hinein.

Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, daß die Schwester wieder fortgegangen war. »Es heißt, Ihre Frau und Ihre Mutter haben sich zusammengetan. Sind vor Gericht gegangen, haben erzählt, Sie nehmen Drogen, wollen sich umbringen und sind sowieso hoffnungslos im Arsch. Der Richter hat dann das Programm für Ärzte in Not eingeschaltet, und schwups war das Formblatt unterschrieben.« Er nahm mir das Thermometer aus dem Mund und las die Digitalanzeige ab. »Das ist jedenfalls normal an Ihnen. 36,5, wie im Bilderbuch.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Sie sagen, daß Kathy und meine Mutter dafür verantwortlich sind?«

»Ich stand in der Nähe, als Nelson mit diesem Großkotz von Psychiater aus Boston telephoniert hat. Sie haben beraten, ob man Sie von hier aus in den Entzug einweisen soll.«

Der ärztlich angeordnete Entzug dauerte einen Monat und wurde gewöhnlich im Bridgewater State Hospital durchgeführt, das eher einem Gefängnis ähnelte als einem Krankenhaus. »Ich bin runter von dem Zeug«, erklärte ich Elijah. »Sagen Sie Nelson, er soll mein Blut und meinen Urin untersuchen lassen. Ich bin clean.«

»Natürlich wird er meinen Expertenrat prompt befolgen«, erwiderte Elijah. »Erklären Sie ihm das besser selbst. Ich werde ihn holen.« Er ging zur Tür, wandte sich aber dann noch einmal um. » Tut mir leid, ich muß Sie einschließen.« Ich nickte. Die Tür fiel zu, und ich hörte, wie das Schloß einrastete. Ich beobachtete das Geschehen in der Notaufnahme, vor allem Nels Clarke, der immer wieder zu neuen Patienten eilte. Etwa eine Viertelstunde später verließ er eines der mit Vorhängen abgeteilten Kämmerchen, streifte sich die Gummihandschuhe ab und kam auf meine Tür zu. Ich hörte Schlüsselrasseln.

»Er ist brav wie ein Lamm, Dr. Clarke«, sagte Elijah. »Ich warte draußen.«

Nels betrat den Raum. Er blieb in der Nähe der Tür. »Du siehst wütend aus«, stellte er fest.

»Ich? Warum sollte ich wütend sein, Nels?«

»Ich habe das Formblatt nicht unterschrieben.«

»Das weiß ich. Es war Ted Pearson.«

»Ich würde dir gern helfen.«

»Gut. Dann erzähle mir erst einmal, warum ich hier eingesperrt bin. Wer zum Teufel steckt dahinter?« Er nickte. »Hast du das Gefühl, man hat sich gegen dich verschworen?«

Offensichtlich hatte Nels einiges von mir gelernt. Ich holte tief Luft. »Nein. Ich finde von allen Seiten nur Unterstützung. Freie Fahrt und wundervolle Unterbringung. Kreuze also in deiner Liste bei Paranoia bitte das Nein-Kästchen an. Die nächsten beiden Fragen beziehen sich auf Stimmen und Visionen. Also los, fang schon an!« Er räusperte sich. »Das ist für uns beide keine angenehme Situation.«

»Für uns beide? Soll ich dir vielleicht noch seelischen Beistand leisten? Ich bin derjenige, der gegen seinen Willen hierhergezerrt wurde.«

»Elijah hat dir doch bestimmt schon alles erzählt. Er stand neben mir, als der Anruf von Ted Pearson kam.« Ich sah ihn durchdringend an. »Kathy und meine Mutter.«

»Von wem die Informationen stammen, ist vertraulich. Ich darf es weder bestätigen noch bestreiten.«

»Nels, überleg doch mal! Du weißt, daß Kathy und ich Probleme haben. Sie ist nicht unparteiisch, wenn sie meine Psyche beurteilt. Und meine Mutter freut sich über jede Gelegenheit, mir eins auszuwischen.«

Er seufzte laut auf. »Gut, nehmen wir mal an, die beiden haben den Ball ins Rollen gebracht. Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun, wenn eine gute Freundin und eine Verwandte behaupten, dein Zustand sei kritisch? Sollen wir es ignorieren? Überleg mal, Frank! Zumindest müssen wir nachprüfen, ob sie recht haben, ehe wir die Sache fallenlassen.« Er schwieg einen Augenblick. »Schließlich hast du da diese Schnitte am Handgelenk.«

Ich zog meinen Ärmel hoch und hielt den Arm ins Licht. »Das stammt von dem Vorfall mit William Westmoreland in der Gefängniszelle. Ich mußte ihn durch irgendwas daran hindern, daß er sich die Zunge abbeißt. Aber das habe ich dir doch erzählt, oder?«

»William ... ja, ich erinnere mich dunkel. Besonders ausführlich war dein Bericht nicht. Damals habe ich dir geglaubt.«

»Das kannst du auch jetzt noch. Frage Malloy! Er war dabei und hat es gesehen.«

»Vielleicht werde ich das.« Er blickte zu Boden. »Außerdem behaupten sie, du schnupfst Kokain. Große Mengen Kokain.«

»Ich habe geschnupft, in der Vergangenheitsform. Aber das ist jetzt vorbei. Du kannst mich untersuchen lassen. Kein Alkohol. Kein Kokain. Nichts dergleichen.«

Er sah mich wieder an. »Man hat Pearson berichtet, du wärst aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen.«

»Wie bitte?«

»Du wärst angeturnt gewesen, hättest gebrüllt, du wolltest nicht mehr leben, und wärst aus dem Fenster gehüpft, ehe dich jemand aufhalten konnte. Aufgeschlagen wärst du mit der rechten Seite.«

»Meine ...«

»Kannst du mal dein Hemd hochziehen?«

»Nels, das ist doch albern!«

Er starrte auf meine rechte Körperseite.

»Offensichtlich habe ich Kathy stärker verletzt, als ich dachte. Das ist ein Komplott.«

»Du hast also das Gefühl ...«

»Herrgott noch mal, Nels!« Hinter meinen Schläfen pochte es. Er tat einen Schritt auf die Tür zu.

Ich zwang mich zur Ruhe. »Wenn du unbedingt Analytiker spielen willst, solltest du nicht jeden Satz mit: ›Du hast das Gefühl‹ anfangen. Bring mal ein bißchen Abwechslung rein und versuch es mit: ›Hab ich richtig verstanden?‹, oder: ›Das heißt also‹.« Ich atmete ein paarmal tief durch. »Gut, ich will es dir leicht machen. Halten wir folgendes fest: Ich bin nicht paranoid, höre keine Stimmen, habe keine Visionen, rieche kein brennendes Fleisch, und über meine Eier krabbeln auch keine Spinnen. Ich bin weder gewalttätig noch selbstmordgefährdet. Wir sind in Lynn im Stonehill Hospital; es ist Donnerstag morgen, und der Präsident der Vereinigten Staaten heißt Bill Clinton. Und du bist dasselbe Arschloch wie immer.«

»Du kannst mich ruhig beleidigen. Aber eine körperliche Untersuchung muß ich in jedem Fall durchführen. Mach die Brust frei.«

Ich zog mir das Jeanshemd aus der Hose.

Nels zuckte zusammen.

Ich sah nach unten. Ein blau, schwarz und gelb gescheckter Bluterguß spannte sich über die Rippen, die beim Aufprall mit Trevor Lucas' Ferrari in Mitleidenschaft gezogen worden waren. »Das stammt von Lucas«, erklärte ich. »Er hat mich angefahren.«

»Lucas sitzt im Gefängnis.«

»Ich weiß. Schließlich bin ich daran nicht unbeteiligt. Bevor er festgenommen wurde, hatten wir eine Auseinandersetzung.«

»Nun gut, jetzt hör mal zu. Laß uns ...«

»Jetzt fängst du schon wieder an zu salbadern. Ich habe dir doch schon gesagt, Kathy will es mir heimzahlen, weil ... weshalb weiß ich noch nicht genau. Aber das mit dem Bluterguß hat sie bestimmt von Lucas erfahren.«

»Die Trennung von Kathy muß schlimm für dich sein.«

Es gibt kaum etwas Gefährlicheres als unangebrachtes Mitgefühl. »Nels«, setzte ich an, um Fassung bemüht. »Bleib lieber bei deinen Halsentzündungen. Du hast dich geirrt, wenn du glaubst, ich drehe durch. Weißt du, woher ich gerade komme?«

»Nein?«

»Gott sei Dank. Dann kann mich also noch nicht jeder mit dem LoJack-System orten.«

»Womit?«

»Vergiß es.«

Voller Sorge sah er mich an.

»Ich habe die Nacht bei einer Frau verbracht. Sie ist eine wunderschöne Tänzerin aus dem Lynx Club, mit einem tollen Arsch und langen Beinen und einem guten Herzen. Als wir uns gestern nacht geliebt haben, war ich so glücklich, daß ich keinen Gedanken an Kathy verschwendet habe. Es ging mir gut wie selten in meinem Leben.« Kaum hatte ich die letzten Worte ausgesprochen, fürchtete ich, ich könnte zu euphorisch klingen – Diagnose manisch-depressiv. »Tja ... bringen wir die körperliche Untersuchung und den von dir vorgeschlagenen Blut- und Toxintest hinter uns, und warten wir auf Pearson. Ohne Unterschrift eines Psychiaters kann ich dich nicht entlassen, selbst wenn ich es wollte.«

»Pearson kommt hierher?« Wie peinlich, daß er mich in dieser Lage antreffen würde, besonders da er mir so etwas prophezeit hatte.

»Wenn ein Arzt eingewiesen wird, muß er von einem Psychiater untersucht werden. Und Pearson macht das immer selbst.«

»Dann hätte ich mich mit dir ja gar nicht herumzuplagen brauchen!« Ich schloß die Augen. »Wann will er kommen?«

»Schon bald.«

Nels führte die körperliche Untersuchung durch, nahm mir Blut ab und ließ sich eine Urinprobe geben. Ich legte mich auf das Rollbett, konnte jedoch nicht schlafen. Elijah brachte mir Kekse und ein paar Ausgaben der Zeitschrift People. Ich las einen langen Artikel über Scheidungen unter Prominenten wie Julia Roberts und Lyle Lovett. In einer älteren Ausgabe war das Photo einer Botschaft abgedruckt, die Michael Jackson an den Rest der Welt gerichtet hatte. Darin bat er die Öffentlichkeit um Verständnis, denn schließlich gebe er schon seit langem sein Herzblut – eine offensichtliche Anspielung auf Christus. Das wäre doch was: Jesus kehrt zurück als schwarzer Pop-Sänger, der sein Selbstbewußtsein mit Schönheitsoperationen aufrichtet und sich mit nackten Knaben vergnügt. Und unser Herr mit den Handschuhen erzählt seine Story dem Fernsehen, während man mich als Verrückten einsperrt. Das muß man sich mal vorstellen.