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Freitag, 10:37

Durch das Sichtfenster beobachtete ich, wie Ted Pearson sich im Schwesternzimmer meldete. Seit unserer letzten Begegnung vor einigen Monaten hatte er sich überhaupt nicht verändert. Sein silbergraues Haar war ordentlich gekämmt, und er trug, elegant wie immer, eine anthrazitfarbene Hose, ein Hemd mit weißgrauen Nadelstreifen und eine rote Fliege. Mit seinen dunkelblauen Augen sah er sich gelassen im Raum um. Nachdem er etwas unterschrieben und einige Papiere durchgeblättert hatte, kam er auf meine Tür zu. Auf der Schwelle verbeugte er sich leicht in Richtung Elijah. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.

Pearson betrachtete Decke und Wände, nickte nachdenklich und setzte sich schließlich auf den Hocker aus Edelstahl. Die Hände ineinander verschränkt, musterte er mich. »Also ... «, sagte er endlich.

Ich spürte, wie ich mich entspannte, eine Wirkung, die Pearson schon immer auf mich gehabt hat. Ich ließ die Schultern sinken und verschränkte ebenfalls die Hände.

Pearson stellte das Hörgerät in seinem linken Ohr richtig ein. Es war neu. »Berufsrisiko«, meinte er. »Wir überfordern unsere Ohren, indem wir uns ständig die Geschichten anderer Leute anhören.«

»Und Sie machen den Job schon länger als ich.«

»Seit etwa vierzig Jahren.« Er war mit seinem Hörgerät fertig. »Ich glaube, ich habe Ihnen noch gar nicht erzählt, daß ich in den Sechzigern eine kurze Zeit hier gearbeitet habe. Damals nannte man den Laden Lynns Lügnerclub.«

»Hier wird noch immer gelogen, daß sich die Balken biegen.«

Mit einem Zwinkern drehte er sich zum Sichtfenster um.

»Die Notaufnahme ist inzwischen etwa vier- oder fünfmal so groß.«

Ich hatte keine besondere Lust, in Erinnerungen zu schwelgen. »Sie haben meine Zwangseinweisung unterschrieben«, sagte ich ruhig.

Er wandte sich mir zu und schürzte die Lippen. »Mehr als das. Ich habe sie ausgestellt.«

»Warum?«

»Richter Stahl hat mir mitgeteilt, daß Menschen aus Ihrem Freundeskreis und Ihrer Familie sich große Sorgen um Sie machen. Außerdem habe ich persönlich mit diesen Leuten gesprochen.«

»Lassen Sie mich erst mal etwas klarstellen: Ich bin nicht selbstmordgefährdet. Daß ich aus dem Fenster gesprungen sein soll, ist schlichtweg lächerlich. Und von den Drogen bin ich los. Offenbar haben Kathy und meine Mutter Ihnen Märchen aufgetischt.«

»Vielleicht«, räumte er ein und sah mich forschend an. »Allerdings war für mich offensichtlich, daß beide keine Ahnung haben, warum es Ihnen eigentlich schlechtgeht. Sicher stimmen Sie mir zu, daß das etwas zu bedeuten hat.« Er schwieg eine Weile. »Die beiden wollen nicht, daß Ihnen etwas zustößt. Sie brauchen Sie, und Sie erfüllen für sie eine Funktion. Trotzdem zeigt keine von ihnen auch nur das geringste Interesse daran, ob Sie ein glückliches Leben führen.« Ich atmete tief durch. »Und was hat das mit meiner Zwangseinweisung zu tun?«

»Ich war nicht sicher, ob Ihnen selbst noch etwas am Leben liegt.«

»Keine Angst, das tut es.«

»Es freut mich, das zu hören.« Er nickte und spielte an seinem Manschettenknopf herum, einem goldenen Quadrat mit einer eingelegten Spirale aus Lapislazuli. »Wie haben Sie sich das mit dem Kokain weiter vorgestellt? Freud fand es übrigens ziemlich unbefriedigend.«

»Ich habe vor zwei Tagen aufgehört. Ich bin ...«

»... bestenfalls ganz am Anfang.« Er lächelte. Einige Sekunden vergingen. Dann wurde seine Miene ernst. »Frank, ich werde jetzt etwas tun, das ich noch nie zuvor getan habe.«

Mir wurde ziemlich mulmig. »Was haben Sie vor ?«

»Gegen das Arztgeheimnis zu verstoßen.«

Ich wartete. Ich wußte nicht, worauf er hinauswollte.

»Ich habe Ihren Vater hier in dieser Klinik behandelt. Mehr als einmal.«

»Meinen Vater ? Sie waren sein Arzt?«

»Ja. Aber da wäre noch etwas Wichtigeres: Ich erkenne ihn in Ihnen wieder.«

Ich schwieg.

»Meistens kam er hereingetorkelt und tobte, er werde sich in der Salem Station vor den Zug werfen. Er war betrunken. Immer dieselbe Geschichte.«

»Mein Großvater war Lokführer bei der alten Boston-and-Maine Eisenbahngesellschaft. Die Salem Station war seine Dienststelle.«

»Aha. Davon hat Ihr Vater nie etwas gesagt. Schade.«

»Er hätte sich nie einem anderen Menschen anvertraut. Nicht einmal Ihnen. Niemandem. Das war nicht seine Art.«

»Es muß schwer gewesen sein, ihn zu lieben.«

Es schnürte mir die Kehle zu, so daß ich kein Wort herausbrachte. »Sie waren dabei, in jener Nacht, als er sich tatsächlich auf die Schienen gelegt hat.«

»Was? Wann soll das gewesen sein? Ich kann mich nicht erinnern.«

»Sie waren acht Jahre alt. Kein Wunder, daß Sie dieses Erlebnis verdrängt haben.«

»Was ist geschehen?«

»Ihr Vater war wieder einmal betrunken. Er ist von einem menschenleeren Bahnsteig gesprungen und hat sich auf die Schienen gelegt.« Er hielt inne. »Da ich jetzt weiß, daß Ihr Großvater Eisenbahner war, tippe ich auf einen symbolischen Akt. Wahrscheinlich hat er mit diesem Mann die Hölle durchgemacht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber er hätte sich statt eines Bahnhofs auch jeden anderen x-beliebigen Ort aussuchen können. Er wollte einfach nur schlafen. Für immer. Sein Schmerz hatte ihn zermürbt.« Pearson blickte zu Boden, nickte und sah mich an. »Und obwohl Sie erst acht Jahre alt waren und ihn sicher schon damals gehaßt haben, haben Sie ihn dennoch genug geliebt, um etwas Bemerkenswertes zu tun.«

Ich stellte mir vor, wie mein Vater bewußtlos auf den Gleisen lag, doch das Bild war sofort wieder verschwunden. »Sie sind hinuntergeklettert und haben versucht, ihn raufzuziehen. Dabei haben Sie sein Hemd zerrissen. Sie sind gestolpert, haben sich die Knie aufgeschlagen und sich mit einer Glasscherbe schwer am Daumen verletzt.« Ich musterte meinen linken Daumen. Seit ich denken konnte, hatte ich dort eine gezackte Narbe, die vom ersten Knöchel bis zum Handballen verlief. Woher sie stammte, wußte ich nicht, und ich hatte auch nie danach gefragt. »Und als Sie ihn nicht raufziehen konnten, haben Sie um Hilfe geschrien. Ein Reinigungsmann von der Nachtschicht hat Sie beide gefunden und gerettet. Dann hat die Polizei Sie hierher in die Notaufnahme gebracht.«

»Und Sie waren da?«

»Richtig. Und jetzt sind wir beide wieder hier.«

Ich bekam eine Gänsehaut.

»Ich sage Ihnen jetzt dasselbe wie damals in jener Nacht Ihrem Vater«, fuhr Pearson leise fort. »Ich kann Sie nicht daran hindern, sich kaputtzumachen. Das kann niemand, denn letztendlich liegt diese Entscheidung allein bei Ihnen.« Er stand auf und reichte mir die Hand.

Ich ergriff sie. Sie fühlte sich warm und weich an. »Wie geht es nun weiter ?« wollte ich wissen.

»Gute Frage.« Wieder hielt er inne. »Es wäre mir immer noch eine Ehre, Ihnen bei der Suche nach der Antwort helfen zu können.«

Ich sah zu, wie Pearson ein paar Worte mit Nels wechselte. Da ständig Leute vorbeikamen und die Sicht versperrten und mir außerdem die Tränen in den Augen standen, konnte ich nicht feststellen, was zwischen den beiden ablief. Schließlich schüttelten sie einander die Hand, und Pearson verließ den Raum.

Kurz darauf betrat Nels mein Zimmer. »Ich muß dich noch mal fragen: Besteht wirklich keine Möglichkeit, daß du dir was antust?«

»Absolut keine.«

»Null Prozent Wahrscheinlichkeit ?«

»Null.«

»In Ordnung.«

»War es das? Darf ich gehen?«

»Du bist ein freier Mann. Pears sagt, wir können dich nicht festhalten. Dein Urin- und dein Bluttest waren negativ, und du behauptest, daß du nicht vorhast, dich umzubringen. Also wäre alles erledigt.« Er zog eine Karte aus der Tasche seines Laborkittels. »Ich soll dir das hier geben.«

Ich nahm die Karte. Darauf stand Ted Pearsons Name in schlichten schwarzen Buchstaben und darunter seine Telephonnummer. Ich drehte die Karte um. Auf die Rückseite hatte er ein Rilke-Zitat geschrieben: Jeder Schrecken braucht unsere Liebe.

Ich steckte die Karte ein.

»Noch sauer?« fragte Nels.

»Wird von Tag zu Tag besser«, antwortete ich.

Als ich in den Empfangsbereich kam, sah ich Elijah, der mit der Rezeptionistin flirtete, einer hübschen Blondine namens Jackie. Ich ging zu ihnen hinüber.

»Wenn das kein Grund zur Freude ist! Eines schönen Tages werden wir hoffentlich alle unsere Freiheit bekommen«, begrüßte mich Elijah mit dröhnender Stimme.

»Hallo, Frank«, sagte Jackie.

»Hallo.« Ich nickte ihr zu.

Sie legte den Kopf schief und musterte mich. »Wie schaffen Sie es nur immer wieder, sich in Schwierigkeiten zu bringen?« Elijah blickte zwischen uns hin und her. »Soll ich den Empfang übernehmen, damit ihr beiden euch in ein Behandlungszimmer zurückziehen könnt?«

Jackie kicherte.

Ich legte Elijah die Hand auf die breite Schulter. »Danke, daß Sie mir da drinnen geholfen haben. War wirklich nett von Ihnen.«

»Gern geschehen.«

»Da wäre noch was.«

»Schießen Sie los.«

Ich griff in die Jackentasche, holte mein Taschenmesser heraus und klappte es auf. »Sie haben mich nicht durchsucht, bevor Sie mich eingesperrt haben. Diesmal war es egal, aber der nächste Typ könnte Ihnen ein Auge ausstechen. Oder Ihnen sonst was Wichtiges abschneiden.« Ich warf einen vielsagenden Blick auf die Wölbung zwischen seinen Beinen. »Nur ein Tip, weil Sie sich solche Mühe gemacht haben.«

»Danke, werd ich mir merken.«

Ich stieß spielerisch mit dem Messer nach seinem Arm.

Er sah mich zweifelnd an. »Sind Sie wirklich sicher, daß Sie nicht doch entwischt sind?«

»Mit knapper Not.«

Wir schüttelten uns die Hand.

»Wo wollen sie jetzt hin?« fragte er.

»Rauf in die Gynäkologie.«

Er kicherte. »Und ausgerechnet Sie sagen mir, ich soll besser aufpassen.«

Kathy war nicht in ihrem Büro. Kris, ihre Sekretärin, informierte mich, sie sei zu spät gekommen und sofort in den Kreißsaal gegangen. Ich fuhr mit dem Personalaufzug zwei Stockwerke höher in den Aufenthaltsraum der Ärzte. Niemand war da, aber Kathys schwarze Ledertasche stand vor ihrem Spind. Hinter einer Doppeltür lag der Beobachtungsraum, von dem aus man den Kreißsaal im Blick hatte. Da kein Licht brannte, tastete ich mich an den Sitzen am Mittelgang entlang bis nach vorne zu der schräg zulaufenden Glasscheibe.

Offenbar war das Ärzteteam mit einem schwierigen Fall beschäftigt. Normalerweise döste der Anästhesist auf seinem Stuhl vor sich hin, doch heute stand er da und überprüfte die Ventile. Die OP-Schwester legte hektisch verschiedene Instrumente auf einem Tablett neben der Patientin aus. Kathy, die zwischen den Beinen der Frau gestanden hatte, trat nun zur Seite.

Ich betrachtete den nackten Unterleib der Bewußtlosen und dann Kathy, die ihr den Bauch mit Betadine einrieb. Die rubinrote Flüssigkeit breitete sich aus und rann der Frau zwischen den Schenkeln hinab. Als Psychotherapeut hatte ich mich in meinem Element gefühlt, wenn ich mich bemühte, den Heilungsprozeß voranzutreiben. Geduldig hatte ich monate- oder gar jahrelang die Wahrheit aus meinen Patienten herausgelockt. Meine Behandlungsziele waren subjektiv, die Genesung war häufig Ansichtssache. Kathys Arbeit hingegen hatte etwas Eindeutiges: Sie half, neues Leben zu gebären, wenn der Zeitpunkt der Entbindung da war, und setzte dazu alle nötigen Mittel ein. Bereitete es ihr deshalb keine Probleme, sich derart heftig in mein Leben einzumischen?

Der Anästhesist arbeitete nun schneller. Seine OP-Maske wölbte sich, als er ängstliche Worte hervorstieß. Ich dachte wieder an Kathys Schwester, die bei dem Brand umgekommen war, der auch das Zuhause der Familie zerstört hatte. Gab es ein Drama, das sich besser mit der Szene vergleichen ließ, deren Zeuge ich nun wurde? Ein Kind schwebte in Gefahr, war wahrscheinlich im Begriff zu ersticken. Das Kind wardrinnen und mußte raus. Nur daß Kathy diesmal über das Wissen und die Geistesgegenwart verfügte, es zu retten.

Ohne zu zögern, nahm sie das Skalpell vom Instrumententablett und machte unterhalb des Nabels der Frau einen gut zwanzig Zentimeter langen, diagonalen Schnitt. Nachdem sie die darunterliegenden Gewebeschichten durchtrennt hatte, griff sie mit beiden Händen in die Öffnung. Als sie sie kurz darauf wieder herauszog, zappelte ein blutverschmiertes, schreiendes Baby darin.

Ich ging die Stufen hinauf und kehrte in den Aufenthaltsraum zurück, um auf Kathy zu warten. Es dauerte nicht lang, bis sie hereinkam. Als sie mich auf der Bank vor ihrem Spind entdeckte, erstarrte sie.

Achselzuckend stand ich auf. »Ich bin in der Notaufnahme untersucht und für zurechnungsfähig erklärt worden.«

»Ärzte sind nicht unfehlbar.«

»Gilt das auch für dich?«

»Klar. Aber nicht in deinem Fall.«

»Hat Trevor dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?«

»Er hat zur Zeit wichtigere Sorgen. Schließlich droht ihm lebenslänglich.«

Sie wollte an mir vorbei, um ihre Sachen zu holen. Ich packte sie am Arm.

»Laß mich los!« Vergeblich versuchte sie sich zu befreien. Dann holte sie tief Luft und schloß die Augen. »Du hast doch nicht gedacht, daß ich untätig zusehe, wie du dich mit deiner kleinen Nutte amüsierst.«

»Wie bitte?«

»Hast du wirklich geglaubt, ich lasse dir diesenMist noch einmal durchgehen? Bin ich nicht schon genug gedemütigt worden?«

»Du hast es also nur aus Eifersucht getan?«

»Ich würde es eher Erniedrigung nennen.«

»Und du hast mich zwangseinweisen lassen, um es mir heimzuzahlen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Kapierst du es denn immer noch nicht?« stieß sie hervor. »Du bist vollkommen durchgeknallt. Man muß dich einsperren, um dich vor dir selbst zu schützen.«

»Nein, das kapier ich wirklich nicht.«

Kopfschüttelnd wandte sie sich ab. »Es spielt auch gar keine Rolle mehr.« Sie drängte sich an mir vorbei zu ihrem Spind. Ich ging zum Aufzug und drückte den ABWÄRTS-Knopf. Die Tür öffnete sich. Bevor ich eintrat, drehte ich mich noch einmal um. Kathy wandte mir weiter den Rücken zu. »Du kannst deine Sachen jederzeit bei mir abholen«, meinte ich. »Und gib mir den Schlüssel zurück.«

Ich ließ mich von einem Taxi zum Rover bringen und fuhr heim nach Marblehead. Ich brauchte ein wenig Ruhe, um meine Gedanken zu ordnen. Dutzende von Menschen hatte ich schon dazu gedrängt, ihre Angehörigen per Gerichtsbeschluß in die Entzugsklinik einweisen zu lassen. Und etwas in mir wollte immer noch glauben, daß Kathy die Zwangseinweisung aus lauter Sorge um mich eingeleitet hatte, auch wenn es ein Schritt in die falsche Richtung gewesen war. Allerdings ließ sich diese Deutung ihrer Motive nur schwer mit der abgrundtiefen Eifersucht vereinbaren, die ich in ihrem Gesicht gelesen hatte. Ich mußte sie beim Wort nehmen: Sie war in ihrer Wut zum Gericht gelaufen, um mich kleinzukriegen.

Ich holte eine Marlboro aus dem Handschuhfach, zündete sie an, nahm einen tiefen Zug und behielt den Rauch so lange wie möglich in der Lunge.

Warum also scheute ich noch immer davor zurück, ihre Sachen zu packen? Die Antwort darauf war dieselbe, die ich meinen Patienten gegeben hatte, wenn sie sich fragten, warum sie von einer zerstörerischen Beziehung einfach nicht loskamen: Als Kind war ich nicht geliebt, sondern unterdrückt worden. Ich war, wie einer meiner Professoren es formuliert hatte, an einem vertrauten Ort ein Fremder geblieben. Kein Wunder, daß Kathy und meine Mutter sich miteinander verbündet hatten.

Doch ich hatte ebenfalls meinen Teil zu dieser Misere beigetragen. Schließlich wußte ich, daß ein Mädchen, das sein Zuhause und seine kleine Schwester verliert, eine Todesangst vor jeglicher Form von Unordnung entwickeln kann. Außerdem war mir klar, daß eine Tragödie dieses Ausmaßes möglicherweise zu dem Wunsch führte, den Lebenspartner ganz und gar zu besitzen. Dennoch hatte ich Kathy nie wirklich Sicherheit vermittelt. Und ich hatte mich nie gründlich genug mit ihrer Vergangenheit beschäftigt, um ihr zu helfen, ihre Ängste zu überwinden. Weit gefehlt – ich hatte sie festgehalten, wenn sie einen Wutanfall bekam, und sie gebändigt, bis ihr Gefühlsausbruch verebbte. Die Wahrheit war, daß Kathy und ich einander nie das gegeben hatten, was Rachel mir gab. Sie hatte mir die Chance eröffnet, mich der Trauer und dem Zorn in meinem Herzen zu stellen und sie dadurch zu lindern. Warum bekam man diese Art von Unterstützung nur so selten?

Ich zog noch einmal kräftig an meiner Zigarette und ging vom Gas, als ich das neue Schild an der Ortsgrenze von Lynn passierte. LYNN. STADT DER SIEGER, stand darauf. Ich lächelte.Dieser Slogan gehörte zu der Kampagne der Stadtentwicklungskommission, die Lynn aufmöbeln wollte. Wir, die wir in diesen heruntergekommenen Straßen aufgewachsen waren, wußten, wie der Spruch richtig lauten mußte: Lynn, Stadt des Verfalls, die jedem Menschen ihren Stempel aufdrückte.

Ich warf die Kippe aus dem Fenster, bog in die Atlantic Avenue ein und fuhr dann nach rechts in die Preston Beach Road. Eine Weile blieb ich in der Auffahrt im Auto sitzen. Irgend etwas stimmte nicht, obwohl ich nicht gleich begriff, was es war. Doch als ich weiter zu meinem Haus hinüberblickte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Die Eingangstür stand einen Spalt weit offen. In der letzten Nacht hatte ich nicht zu Hause geschlafen, und ich konnte mich nur noch dunkel daran erinnern, daß ich mit Levitsky weggefahren war, um Emma Hancock zu suchen. Vielleicht hatte ich die Tür ja nicht richtig zugemacht. Schließlich war es schon öfter passiert, daß der Wind vom Meer her sie wieder aufgedrückt hatte. Aber ganz wohl war mir immer noch nicht. Ich tastete zwischen den Sitzen nach dem mit Fell überzogenen Griff meines Jagdmessers, doch es war nicht da. Also stieg ich aus und kauerte mich hinter das Auto, ohne dabei das Haus aus den Augen zu lassen. Wieder griff ich unter den Sitz. Nichts. Ich untersuchte die Fußmatten. Kein Glück. Wahrscheinlich hatte sich ein Langfinger den Rover vorgenommen, nachdem ich ihn am Straßenrand geparkt hatte, und den einzigen Gegenstand geklaut, der nicht festgeschraubt war. Möglicherweise war Malloy auch zurückgekommen, um alle Waffen zu beschlagnahmen, mit denen ich mich hätte umbringen können – oder ihn. Ich stand auf. Mein Taschenmesser hatte ich zwar noch, aber damit konnte ich den Einbrecher höchstens von einem eingewachsenen Fingernagel befreien.

Ich öffnete vorsichtig den Kofferraum und holte den Kreuzschlüssel heraus. Dann ging ich den gepflasterten Weg zu meiner Tür hinauf, wobei ich absichtlich so laut wie möglich mit den Füßen schlurfte. Falls sich jemand im Haus befand, der gerade die Bilder von den Wänden nahm, wollte ich ihm die Gelegenheit geben zu verschwinden. Gegen Diebstahl war ich ja versichert und sah deshalb keinen Grund, warum er und ich unser Leben aufs Spiel setzen sollten. Ich läutete dreimal und rief laut »Hallo!« Keine Antwort. Also ging ich hinein.

Drinnen herrschte Verwüstung. Ein Bein des umgestürzten Couchtisches war abgebrochen. Die Vorhänge waren zum Großteil heruntergezerrt worden, und Kathys Sammlung bunter Glasherzen lag in tausend Scherben neben der Wand. Kleine Dellen im Putz zeigten, wo sie aufgeprallt waren. Die Ölgemälde hingen noch, aber jemand hatte mein Lieblingsbild – die untergehende Titanic – aufgeschlitzt. Als ich mich weiter vortastete, bemerkte ich, daß eines der Polster des Sofas zerschnitten war. Das Telephon stand mit herausgerissener Schnur auf dem Boden. Wie erstarrt lauschte ich, ob sich oben etwas regte. Doch ich hörte nur das ferne Tosen der Brandung.

Aber etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Das hier war nicht das Werk eines Fremden. Offenbar hatte Kathy wieder einen ihrer Wutanfälle gehabt, und ich war nicht dagewesen, um sie zu bremsen. Wahrscheinlich war sie nachts zurückgekehrt, um mit mir zu reden. Ich stellte mir vor, wie sie auf mich gewartet hatte und von Stunde zu Stunde zorniger geworden war, bis sie schließlich begriff, daß ich nicht mehr nach Hause kommen würde. Und dann ... Ich legte den Kreuzschlüssel aufs Sofa und ging nach oben.

Ich hatte gehofft, Kathy hätte ihre Zerstörungswut aufs Erdgeschoß beschränkt, aber auf dem Treppenabsatz im ersten Stock wurde ich eines Besseren belehrt. Zerschmetterte Vasen lagen im Flur. Eine Collage aus welken Blumen und Wasserflecken prangte an den Wänden und auf dem orientalischen Läufer.

Im Schlafzimmer sah es noch schlimmer aus als im Wohnzimmer. Die Eichenkommode war umgestürzt, der Spiegel am Schminktisch war zerbrochen. An der Tür bückte ich mich und hob ein mit Spitzen besetztes Kissen aus weißem Satin auf, das ich Kathy zum Valentinstag geschenkt hatte. Es roch versengt. Als ich es umdrehte, stellte ich fest, daß die eingestickten Worte SÜSSE TRÄUME, ICH LIEBE DICH weggebrannt worden waren. Vielleicht hatte sie es angezündet, ins Zimmer geworfen und gehofft, das ganze Haus würde in Flammen aufgehen.

Das Arbeitszimmer wirkte einigermaßen unversehrt. Nur Kathys Trixie-Beldon-Bücher lagen auf dem Boden verstreut. Die Hausbar im Art-déco-Stil stand offen, einer der verchromten Cognacschwenker fehlte. Ich entdeckte ihn auf dem Beistelltisch neben dem Ohrensessel und schnupperte daran. Er roch nach Gin. Kathy trank nur sehr selten Alkohol. Vielleicht waren ja ein paar kräftige Schlucke der Auslöser für ihren Tobsuchtsanfall gewesen. Auf dem Sessel lag der erste Band ihrer Trixie-Sammlung. Der Buchrücken war eingerissen, und als ich das Buch zur Hand nahm, öffnete es sich ganz von allein bei Kapitel 19. Ich fing an zu lesen:

Trixie rieb sich wieder die Augen. Ein weißer Nebel waberte um das Dach der Villa, aber als Trixie näher hinsah, war er verschwunden. Doch bei einem neuerlichen Windstoß aus dem Tal stieg an einer Seite des Hauses ein fahl schimmerndes Gebilde auf ...

Wie ein Gespenst, dachte sie mit einem ängstlichen Kichern. Wahrscheinlich liegt es nur am Mondlicht und daran, daß ich so müde bin. Sie wollte schon wieder zu Bett gehen, als es ihr einfiel und ihr Herz einen Satz machte ...

»Das ist kein Gespenst!« schrie sie und eilte zurück zum Fenster. »Sondern Rauch ... Die Villa brennt!« Ich schüttelte den Kopf. Angesichts des verkohlten Kissens und Kathys Lektüre konnte ich wirklich von Glück reden, daß das Haus noch stand. Ich fragte mich, wo sie gewesen war, als sie die Nerven verloren hatte – nicht körperlich, sondern psychisch. Hatte sie sich als erwachsene Frau, als Ärztin gefühlt, die ihr Leben im Griff hatte? Oder als Zwölfjährige, die hilflos mitansehen mußte, wie die Flammen ihre Schwester verschlangen?

Ich hob ein paar der Bücher auf und stellte sie zurück ins Regal. Als ich mich wieder bückte, entdeckte ich ein zerknittertes Stück Papier am Fuß der Stehlampe und griff danach. Es war ein Blatt aus einem Schulheft mit rosafarbener Linierung, wie die Mädchen sie in meiner Schulzeit benutzt hatten. Die Handschrift wirkte ebenfalls kindlich – große, schräge Buchstaben mit Herzchen anstelle von I-Punkten und eine Unmenge Ausrufezeichen. Am gelblichen Falz erkannte ich, daß das Blatt vor langer Zeit zusammengefaltet worden war, vielleicht damit es in den Umschlag eines der Bücher paßte. Der Text lautete:

Daddy

Ich dachte, daß Du mich liebst! Aber Du liebst Blaire mehr als mich! Ich habe gesehen, wie Du heute nacht in ihr Zimmer gegangen bist. Ich habe lange überlegt, was der Grund sein könnte. Liegt es daran, daß ich jetzt meine Tage habe? Ich kann nichts dagegen tun! Es ist nicht meine Schuld! Warum werde ich dafür bestraft?

Ich hasse sie!

Bitte, gib mir noch eine Chance.

In Liebe.

Maus (weißt du noch?)

PS: Blaire kann kein Geheimnis für sich behalten!

Meine Hand zitterte. Ich sank in den Ohrensessel, legte das Blatt Papier auf den Beistelltisch und starrte durchs Fenster. Insgesamt hatte ich kaum zwölf Stunden mit Jack Singleton, Kathys Vater, verbracht. Er war ein recht gutaussehender, wenn auch etwas schmächtiger Mann, der in der Textilbranche ein Vermögen verdient hatte. Er stellte den dichtgewebten Stoff her, mit dem man Mäntel, Hosenbünde und manchmal auch Hemdkragen füttert. Ich hatte gewitzelt, daß man wohl nur in unserem großartigen Land mit einer Sache, an die der Verbraucher keinen Gedanken verschwendete – falls er überhaupt jemals davon gehört hatte –, reich werden konnte. Er hatte darüber gelacht, allerdings etwas gezwungen. Doch ich war froh gewesen, da er nur selten lachte. Vor unserer ersten Begegnung hatte Kathy mich gewarnt, er habe den Tod seiner jüngeren Tochter nie verwunden. Dies schien zu erklären, warum er Kathy so abweisend behandelte. Manche Eltern verhätscheln nach dem Tod eines Geschwisters das überlebende Kind. Andere ziehen sich zurück, als befürchteten sie einen weiteren Verlust, wenn sie ihre Liebe offen zeigen würden.

Aber der wirkliche Hintergrund dieses Wechselspiels zwischen Nähe und Distanz war mir entgangen. Jack Singleton hatte seine Töchter auf die intimste Weise mißbraucht, die überhaupt möglich war. Vielleicht war er nicht sicher, ob Kathy sich an diese traumatische Erfahrung erinnerte oder sie verdrängt hatte. Und offenbar lag ihm auch nicht sehr viel daran, das herauszufinden.

Ich schenkte mir einen Scotch ein und schlenderte ziellos durch die Zimmer. Am liebsten hätte ich Kathy angepiepst und ihr gesagt, daß ich sie verstand und daß ich mich ihr nun seltsamerweise näher fühlte als je zuvor.

Kurz darauf läutete das Telephon. Da ich schon immer davon überzeugt gewesen bin, daß Menschen auf verschiedenen Wegen zum selben Punkt gelangen können, rannte ich ins Schlafzimmer, hob ab und hoffte, daß sie am Apparat sein würde. »Frank«, meldete ich mich.

»Gut, daß ich dich erreiche«, entgegnete Paulson Levitsky. Sein Tonfall war ernst.

»Was ist denn passiert?«

»Eine ganze Menge.«

Ich stellte mein Glas weg. »Schieß los.«

»Die vierte Leiche wurde eingeliefert. Vor etwa einer Stunde.«

»Oh, Gott, nein!« Mein Herz klopfte. »Männlich oder weiblich?«

»Weiblich.«

Ich holte tief Luft. »Dieselbe Vorgehensweise ?«

»Nicht ganz. Außerdem ist die Leiche teilweise verkohlt. Aber die Brüste fehlen, und die Scham wurde rasiert.«

»Wissen wir, wer sie ist?«

»Wieder eine Tänzerin.«

»Auch aus dem Lynx Club?«

»Sie hat dort gearbeitet. Gewohnt hat sie in Chelsea. Wegen der laufenden Ermittlungen habe ich sie auf den Tisch gekriegt.« Alles verschwamm mir vor den Augen, und meine Beine fühlten sich auf einmal bleischwer an. »Wo in Chelsea?«

»Irgendwo am Hafen, glaube ich. Die Feuerwehr hat sie gefunden, als es ihr endlich gelang, ins Gebäude einzudringen. Die gesamte obere Etage brannte. Wahrscheinlich hatte unser Täter keine Lust mehr, die Leichenteile zu vergraben.«

Mir war, als würde ich gleich ohnmächtig werden. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich ans Bett. »Weißt du ihren Namen?«

»Lloyd.«

»Rachel Lloyd?«

»Richtig. Rachel Lloyd. Kennst du etwa jede Stripperin in diesem Laden?«

»Ich war ...«

»... großzügig mit den Trinkgeldern; kann ich mir denken. Hör mal, da wäre noch etwas Es war nicht dieselbe Waffe. Diesmal hat er eine längere Klinge benutzt.«

»Wie kommst du darauf ?«

»Ich kann an den Schnittstellen keine Gewebeschichten feststellen. Diesmal haben wir es mit glatten, etwa fünfzehn Zentimeter langen Einschnitten zu tun. Außerdem gibt es keine fibrösen Gewebeveränderungen an den Wundrändern. Allerdings muß ich eine Menge sekundärer Faktoren in Betracht ziehen – zum Beispiel Verflüssigung durch die Hitze. Aber ich würde sagen, wenn sie Brustimplantate hatte, hat sie sich diese erst vor kurzem einsetzen lassen.« Er hielt inne. »Bist du noch dran?«

»Sie hatte keine Implantate.«

»Ach, beinahe hätte ich's vergessen – du hast ja ein pornographisches Gedächtnis. War sie rasiert?«

»Nicht völlig.«

»Was für Klamotten hat sie getragen?«

»Warum?«

»Ich habe auf der Haut in der Nähe der Wunden ein paar borstige Haare gefunden. Tierhaare. Hatte sie einen Pelzmantel oder so was?«

Ich mußte an den Griff meines Jagdmessers denken. »Ich weiß nicht mehr.«

»Das hätte ich mir gleich denken können. Du erinnerst dich nur an das, was du siehst, nachdem sie sich ausgezogen haben.«

»Was sagt die Hancock dazu?«

»Die Frau Bürgermeisterin beharrt darauf, daß dieser Mord nichts mit den anderen zu tun hat. Zuwenig Übereinstimmungen, meint sie. Und Malloy hat bereits einen Blick in Lucas' Unterlagen geworfen. Die Lloyd war nicht bei ihm Patientin. All das paßt natürlich großartig in Hancocks Pläne, was ihre politische Karriere betrifft. Bald haben wir Wahlen, und sie kann sich damit brüsten, daß sie den Psychopathen von Lynn geschnappt hat. Auf die Stimmen aus Chelsea ist sie nicht angewiesen.«

»Was hältst du davon?«

»Ich denke, es ist derselbe Täter. Alle vier Leichen weisen Verstümmelungen an den Geschlechtsorganen auf. Drei der Opfer waren Lucas' Patientinnen, und zwei von ihnen haben im gleichen Laden gearbeitet. Wenn du mich fragst, handelt es sich um einen sehr beschränkten Personenkreis.« Er holte tief Luft. »Natürlich ist es möglich – wenn auch nicht sehr wahrscheinlich –, daß Lucas die ersten beiden umgebracht hat und ein phantasiebegabter Verrückter in seine Fußstapfen getreten ist. Das würde auch erklären, warum es immer wieder Abweichungen gibt.«

»Okay.«

»Was ist okay?«

Alles um mich herum schien in einen Dunstschleier gehüllt. »Ich rufe dich an, wenn ich etwas rauskriege.« Meine Stimme hörte sich wie die eines Fremden an.

»Du klingst aber nicht gut. Hast du was? Du nimmst doch nicht etwa wieder dieses Teufelszeug? Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um dir das Hirn zuzunebeln.«

»Nein, nein, ich bin völlig klar im Kopf.« Ich legte auf.

Dann saß ich da und schaukelte langsam hin und her. Wie gerne hätte ich geweint, aber ich konnte es nicht, was die Leere in mir noch schlimmer machte. Tot. Das war das Gefühl, das Menschen dazu bringt, sich selbst zu verstümmeln, um das schwarze Vakuum der Seele mit dicker, roter Flüssigkeit zu füllen. Ich ging zur Hausbar, nahm eine verchromte Flasche und kippte einen ordentlichen Schluck des Inhalts herunter, der sich als Bourbon entpuppte. Dann schleuderte ich die Flasche gegen die Wand. Ich ekelte mich vor mir selbst, weil ich meine Trauer betäuben wollte. Da ich mich noch immer nicht besser fühlte, packte ich die Bar mit beiden Händen und kippte das ganze Ding um. Flaschen und Gläser fielen krachend zu Boden. Ein halbes Dutzend Alkoholbäche rann ineinander und versickerte schließlich in den bunten Farben des Perserteppichs. Mein Magen rebellierte gegen den Bourbon; ich kauerte mich hin und erbrach mich, sank auf die Seite und landete mit dem Gesicht in einer Pfütze, die wie ein scheußlich schmeckendes Medikament roch. Eine Glasscherbe lag in meiner Reichweite. Einen Moment lang erwog ich, sie zu benutzen, aber dann dachte ich plötzlich nur noch daran, wie friedlich Rachel heute morgen im Bett gelegen hatte.

Ich konzentrierte mich ganz fest auf sie und stellte mir vor, wie ich ihr sagte, daß ich sie liebe.