KAPITEL 29

Melanies Stimme kam stockend, wie unter einem inneren Zwang. Nie zuvor hatte sie ihre gesamte Geschichte einer Menschenseele anvertraut – und wahrscheinlich würde sie es auch nie wieder tun.

 

Doch nun, da sie sich einmal dazu durchgerungen hatte, erzählte sie Xylos von ihrem Großvater, bei dem Sofia und sie den größten Teil ihrer Kindheit verbracht hatten, und der sie abgöttisch geliebt hatte. Erzählte von dem Autounfall, zu dem es gekommen war, als sie wegen einer Katze auf der Straße warnend geschrieen hatte. Davon, dass sie und Sofia unverletzt geblieben waren, während der vordere Teil des Wagens und ihr Großvater völlig zerstört wurden, von der Erbschaft, die die Zwillinge gemacht hatten, und die ihre Eltern als Vormund verwalten sollten.

 

„Wir waren noch unter Schock, Sofia und ich. Doch um uns wieder in den Alltag einzuleben, hatten Mama und Papa uns zu Freunden geschickt.“

 

Melanie sah Xylos an, und in ihren Augen las der Vampir einen Schmerz, der seinem gleichkam. „Wir hatten weg sein sollen – aus dem Weg.“ Sie sah zu Boden, als könnte sie ihre Seelenqualen nur in Worte fassen, wenn sie es für sich tat. „Aber ich hatte etwas vergessen und bin mit dem Fahrrad noch einmal umgekehrt. Ein Umzugswagen stand vor dem Haus, jedes Zimmer war hell erleuchtet.“

 

Xylos ließ sich von Melanies Worten und ihrem Rückblick zurückführen an den Ort ihrer Kindheit. Der Klang ihrer inzwischen erwachsenen Stimme sog ihn auf und riss ihn sanft und beharrlich in ihre Erinnerung.

 

*** Er sah das kleine blonde Mädchen mit dem hübschen Pferdeschwanz durch die Eingangstür treten, die leere Eingangshalle mit den hellen Flecken an der Wand. Dort, wo vor wenigen Stunden noch Bilder gehangen hatten. Hörte ihre Schritte auf dem Fußboden, während sie fassungslos in die Räume schaute, die keine Möbel, keine Spur ihres bisherigen Lebens mehr enthielten.

 

Er sah ihre Mutter – sie erinnerte ihn mit ihren kaltherzigen, perfekten Gesichtszügen an eine modernere Variante Helenas – und ihre Ignoranz. Sie straften ihre Tochter mit völliger Missachtung. So, als sei sie gar nicht da, sondern ebenfalls bei dem Unfall gestorben.

 

Langsam sah er das Erlöschen der Hoffnung auf Melanies Gesicht. Ahnte, dass sie erst verwirrt gewesen war und dann gedacht hatte, dass ihre Eltern mit ihnen zusammen einen Neuanfang starten wollten. Für Sekunden schien der Schmerz so groß, dass die Kindergestalt unter ihm zu zerbrechen drohte.

 

Dann straffte sich die kleine Gestalt und schritt langsam die Treppe hinauf. Er ahnte, dass sie ihr Zimmer suchte. Es war noch da – alles stand an seinem Platz.

 

Xylos Herz frohlockte, als er das kleine Reich sah, welches Sofia und Melanie für sich und einander geschaffen hatten. Es steckte so voll Leben und Liebe, dass er einen Einblick von den Mädchen bekam, die die beiden einmal gewesen waren.

 

Melanie blieb vor ihrem kleinen Spiegeltisch stehen und sah hinein.

 

Ihre kleine Hand legte sich auf die Spiegelfläche, er konnte beinahe die Kühle spüren und den Handabdruck sehen, den ihre Berührung hinterließ. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Der Schlag in den Spiegel überraschte ihn ebenso wie der kleine Schnitt in den Unterarm, den sie sich zufügte.

 

„Ich lebe noch!“ Die Erleichterung in ihren Worten war greifbar.

 

„Mama, Mama!“ Er sah zu, wie das kleine Mädchen aus seinem Zimmer stürmte, wieder nach unten. „Ich lebe noch! Ich bin gar nicht tot!“

 

Als er begriff, was Melanie zu ihrem Verhalten animiert haben musste, die schreckliche Idee doch gestorben zu sein – nur noch ein Geist – weinte der Mann, der er einmal gewesen war, um das kleine, verzweifelte Mädchen.

 

Doch Melanies Mutter reagierte nicht, schien die Anwesenheit ihrer Tochter immer noch nicht zu bemerken, oder sie war ihr egal. Total egal.

 

„Mami?“ Die kleine Melanie baute sich vor der älteren Frau auf. „Mami! Ich bin hier, direkt vor dir, ich bin am Leben!“

 

Doch Melanies Mutter ignorierte ihr Fleisch und Blut weiterhin, ebenso wie ihr Ehemann, der kurz darauf aus einem der Zimmer kam. Die Mutter drehte sich zu ihm und sah durch ihre Tochter hindurch. „Jetzt können wir ein neues Leben anfangen. Und wir werden neue Kinder bekommen. Schöne, intelligente Kinder!“ Die Mutter gab ein fröhliches Lachen von sich, das weder zu dem Anlass passte, noch zu der Tatsache, dass ihre schöne und intelligente Tochter direkt vor ihr stand.

 

„Mama?“ Melanie weinte inzwischen. Der Schnitt hatte nicht wehgetan, aber diese Unsicherheit tat weh. Dieses nicht begreifen können.

 

„Ja! Schön sollten sie sein und intelligent!“ Ihr Vater nahm ihre Mutter in den Arm und fuhr mit der Hand über ihren Bauch, der eine ganz leichte Wölbung aufzuweisen schien.

 

„Was meinst du, werden es Zwillinge?“

 

„Hoffentlich werden es schöne Kinder!“

 

„Mama?“ Melanie trat einen Schritt näher, doch noch immer schienen ihre Eltern sie nicht zu beachten.

 

Melanie sah sich ihre Hand noch einmal an. Der rote Schnitt war immer noch deutlich zu sehen. Sie kam zu einer Entscheidung, als sie begriff, dass ihre Eltern absichtlich mit ihr spielten.

 

„Ich bin da! Ihr seht mich! Ich weiß, dass ihr mich seht und hört!“, schrie sie.

 

Als Antwort lachte ihre Mutter, und es klang sehr glücklich und gehässig. So, als hätte sie sich schon lange auf diesen Tag gefreut. „Ich kann es kaum abwarten, neu zu beginnen. Neue Kinder, neues Leben, neues Glück!“

 

Melanie sackte in sich zusammen, die Hand, die sie ausgestreckt hatte, um ihre Mutter zu berühren oder zu schlagen, verharrte reglos in der Luft, während sie zu Boden glitt. Sollten Mütter ihre Kinder nicht lieben? Hatte sie bisher nicht immer geglaubt, ihre Mutter sei glücklich mit ihnen?

 

„Jetzt, wo mein Vater tot ist …“, ihre Mutter beendete ihren Satz nicht. Deswegen waren sie so oft bei ihrem Großvater gewesen? Weil ihre Eltern sie nicht mochten?

 

Melanie versuchte in den Gesichtern der beiden Erwachsenen zu lesen, die sich zum Gehen umwandten. Plötzlich zögerte ihre Mutter und sah sich verwirrt um, als habe sie etwas vergessen.

 

„Mama?“ Melanies Stimme klang schwach. Sie schien nicht mehr die Kraft zu haben, zu protestieren oder daran festzuhalten, dass sie noch lebte. Ein Wesen, welches um Anerkennung kämpfte, um die simple Tatsache seiner Existenz. Jennifer Schreiner Honigblut

 

„Oh, die Vögel!“ Ihre Mutter hetzte an Melanie vorbei, ohne von ihrer Tochter Notiz zu nehmen. Holte den Käfig mit den Kanarienvögeln, der in der Küche gestanden hatte, und nahm ihn mit sich.

 

Sie warf nicht einmal einen letzten Blick auf ihre Tochter, die auf dem kalten Holzfußboden saß und zusah, wie ihre Welt in Scherben zerbarst – die Vergangenheit bedeutungslos wurde.

 

Xylos konnte den Schmerz in den Augen des Kindes sehen, und dass sich die Worte ihrer Mutter auf einer tieferen Ebene in ihr festgesetzt hatten, ohne das sie es merkte.

 

„Ich lebe noch!“, flüsterte Melanie und starrte auf die Blutspur, die die Scherbe auf ihrem Arm hinterlassen hatte.

 

*** Die junge Vampirin beendete ihre Erzählung, und ihr Schweigen holte Xylos zurück ins Hier und Jetzt. „Wie lange …?“

 

„Die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag.“ Der Blick, mit dem sie ihn ansah, war ebenso verzweifelt wie in der vorangegangenen Szene. Der Schmerz ebenso frisch.

 

„Ich habe geglaubt, ich sei tot! Irgendwann habe ich es geglaubt!“

 

Melanie ließ zu, dass Xylos sie in die Arme nahm und sie festhielt, während sie sich an ihn schmiegte. „Jahre später hat mein Therapeut mir erzählt, dass meine Mutter an einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung litt. Er hatte herausgefunden, dass sie oft in der Psychiatrie gewesen war. Ihre seltsamen Überzeugungen waren nie von langer Dauer. Und mein Vater hat stets alles getan, um sie zu beruhigen und ihr zu helfen – ohne Rücksicht auf Verluste. Doch diese Erklärung kam Jahre zu spät. Ich habe sie nicht einmal wirklich verstanden. Bis du mich in einen Vampir verwandelt hast. Ich bin für sie tot gewesen, in diesem Moment hat sie wirklich gedacht, ich sei tot und bei dem Unfall gestorben … ebenso, wie ich es geglaubt habe.“

 

Er wusste, was sie meinte, konnte in ihrer gestammelten Erklärung beinahe sehen, wie die Welt in dieser Nacht für sie die Konturen verlor, die Farben erloschen und das Leben selbst verblasste. Sekunden tickten, wurden zu Minuten, wurden zu Stunden, und das Gefühl des Verlorenseins und sich in der Welt zu verlieren war das einzig Reale.

 

„Da war nichts mehr, nur noch das Gefühl, nicht mehr zu leben, nur noch aus Kummer zu bestehen.“ Melanie sah auf, als Xylos ihr zärtlich über die Haare strich. „Wäre Fia nicht gekommen, ich wäre dort gestorben.“

 

Xylos nickte. Er wusste nur zu gut, was es bedeutete, wenn die, die einen lieben sollten, einem das Herz brechen. Von manchen Wunden erholte man sich nie.

 

Er selbst hatte sich nie erholt. Er zog Melanie an sich, damit sie die Tränen in seinen Augen nicht sehen konnte. Er war ein Wrack, er hatte es nur nie bemerkt. Hatte sich für stark gehalten und mächtig, aber er hatte nur verdrängt.

 

„Du lebst noch!“, flüsterte er in ihre Haare.

 

Melanie begann glucksend zu lachen. Bis sie schließlich laut prustete. „Nicht wirklich!“

 

Als sie Xylos aufgewühlten Blick sah, wurde sie wieder ernster.

 

„Ich habe nie wirklich versucht mich umzubringen!“, verteidigte sich Melanie. „Ich wollte nur sichergehen, dass ich real bin. Dass ich noch irgendetwas empfinden kann, etwas außerhalb des Kummers.“ Jennifer Schreiner Honigblut

 

„Hast du es Sofia jemals gesagt?“ Xylos Blick war voller Bewunderung. Sie hatte es überlebt. Seine Melanie hatte es überlebt. Obwohl sie noch so jung gewesen war, so schutzlos und allein.

 

Die Vampirin sah an ihm vorbei in die Vergangenheit. „Nein, nie!“ Ihre Stimme war tonlos.

 

„Warum?“ Er dachte daran, wie viel Kummer sie sich vielleicht hätte ersparen können, wie viel an ihr vorübergegangen wäre, wenn sie nicht nach Hause zurückgegangen wäre.

 

„Ich wollte nicht, dass sie es weiß und sich so fühlt wie ich. Niemand sollte sich so fühlen wie ich, ungewollt und ungeliebt.“

 

Xylos wünschte sich, er könnte ihr mit seiner Umarmung mehr geben, als das vage Gefühl, dass er für sie da war. Er wollte sie beschützen, sie und ihr Herz in Sicherheit bringen. – Das ist so ziemlich das Dümmste, was du je gewollt hast!, dachte er. Aber der Wunsch blieb bestehen.

 

„Was ist mit deinen Eltern geschehen?“ Wenn er nur an die kleine Melanie dachte, wie sie sich irgendwann auf den Fußboden zusammengekauert und gedacht hatte, sie sei vielleicht wirklich tot, wollte er zum Mörder werden. Persönlichkeitsstörung und gefühlskalt helfender Ehemann und Vater hin oder her.

 

„Sie sind kurz nach der Abfahrt von zu Hause überfallen worden. Raubmord. Sofias und mein Erbe, Geld, Wertpapiere, Schmuck und Möbel für immer verschwunden.” Melanie schwieg einen Moment lang, und Xylos glaubte ihre Schuldgefühle beinahe sehen zu können. Sie hatte ihren Eltern an diesem Abend den Tod gewünscht und sich doch stets ihres Wunsches und seiner Erfüllung geschämt. Wie viel schlimmer mussten diese Schuldgefühle geworden sein, als sie von der Erkrankung ihrer Mutter erfahren hatte?

 

„Wenn sie nicht gestorben wären, hätte Mama sich wieder gefangen und wäre zurückgekommen. Sie hätten sich entschuldigt … und uns geliebt … alles wäre wieder gut geworden, und vielleicht hätte ich es eines Tages verstanden. Verstanden, dass es nicht ihre Schuld war oder meine.“

 

„Trotzdem gut!”, meinte Xylos, und sein Tonfall sagte ihr, dass er nicht das Erbe meinte.

 

Xylos wusste, dass er wütend aussah, selbst die kleinen Härchen auf seinem Arm erschienen verärgert. Melanies Eltern hatten es verdient, zumindest ihr Vater, denn eine kurze Erklärung von ihm hätte seine Tochter beruhigen können. Helena hatte es verdient. Denn die Schmerzen blieben den Hinterbliebenen, den Überlebenden des Kummers erhalten.

 

Auf einer sehr tiefen Ebene ihrer Persönlichkeit hatte Melanie immer noch nicht verkraftet, was ihre Eltern ihr angetan hatten, glaubte immer noch, dass, wäre sie nur ein bisschen hübscher gewesen, ein wenig netter und intelligenter, ihre Eltern geblieben wären. Er wusste es besser.

 

Sie war hübsch, wunderschön. Äußerlich und innerlich, war es wert, ihr zu vertrauen und sie zu lieben. Dieses Wissen legte er in den Kuss, den er ihr gab, ein Kuss wie ein sanftes Versprechen. Sanfter und ernster als all die Küsse, als all der Sex zuvor.

 

Melanie bedauerte, dass der Kuss enden musste, wusste, dass Xylos weggehen würde, und ihnen ein neuer, kurzer Abschied bevorstand.

 

„Diese Wohnung und dein Verstecken ist zu deiner Sicherheit!“, betonte er. Jennifer Schreiner Honigblut

 

„Ich weiß!“ Melanie wusste es wirklich und akzeptierte seine Entscheidung. Sie wusste, dass er nie wieder eine Frau lieben würde, es vielleicht nicht einmal konnte.

 

Der Vampir küsste sie noch einmal, ein verzweifelter Kuss, als wäre er derjenige, der sich nur durch Körperkontakt daran erinnern konnte, wie es war zu leben und geliebt zu werden. Während ihrer Erzählung hatte Melanie alle Illusionen verloren. Sie hatte sich längst in ihn verliebt.

 

Sie lebte und liebte.

 

Als der Callboy ihre Hände nahm, dachte sie kurz daran, dass er sie wieder fesseln würde, sich durch Sex seiner Macht über sie versichern, doch er überraschte sie, indem er ihr etwas in die Hand drückte.

 

Melanie starrte den Schlüssel noch an, als Xylos schon lange weg war. Jennifer Schreiner Honigblut