KAPITEL 5

Xylos fühlte sich elendig, als er die leere Mansion betrat. Bei seinem letzten Besuch hatte Morna noch gelebt, hatte ihre Arme um ihn geschmiegt und versucht, ihn zu verführen – und es geschafft.

 

Morna hatte es immer geschafft. Sie war eine der wenigen Schönheiten, denen er nie hatte widerstehen können. Und obwohl er sie inbrünstig gehasst hatte, ging ihm ihr Tod ans Herz.

 

Von Anfang an hatte der Callboy Magnus Plan durchschaut und die Notwendigkeit eingesehen, die Hexe zu töten. Doch dass er nicht dabei gewesen war, als Morna starb, nicht gesehen hatte, wie ihre schönen Augen brachen, und das Leben für immer ihren Körper verließ, sorgte dafür, dass er sich wie ein Verräter fühlte.

 

Seitdem hatte er alles getan, um ihrer Schwester zu helfen, um den Wahnsinn von der Königin fernzuhalten. Unwillkürlich fing sein Hals an zu schmerzen, sobald Xylos daran dachte. Wie oft hatte er die Königin in den ersten verzweifelten Nächten genährt, wie oft ihren dunklen Wünschen nachgegeben?

 

Jedes Mal, wenn er zu Maeve ging, jedes Mal, wenn er ihr sein Blut gab, hatte er gewünscht, dass sie es beenden würde. Dass sie mit ihm dasselbe tat wie mit den goldenen Jünglingen, die sie verehrte, liebte und tötete.

 

Doch jedes Mal wurde Xylos verschont. Er wusste warum.

 

Weil er sie liebte. Vom ersten Moment an, trotz – oder eher wegen - ihres Wahnsinns. Sie hatte geliebt und vertraut und dabei ebenso verloren wie er damals – bevor er ein Vampir wurde.

 

Hätte sie mich doch nur getötet, dachte er verbittert. Dann wäre es niemals so weit gekommen. Keine Qualen, kein Bedauern, kein Verrat.

 

„Endlich!“ Hasdrubals Stimme riss Xylos aus seinen Gedanken. Ob seines Selbstmitleides hatte er den alten Vampir nicht kommen hören. Doch auch der Alte wirkte fahrig und angespannt. „Wie war es?“

 

„Eine Katastrophe!“, gestand Xylos.

 

„War Edward rechtzeitig da?“

 

„Sonst wäre ich nicht hier!“

 

Hasdrubal nickte, als habe er es geahnt. Er fasste seine Ahnung zusammen: „Gorgias?“

 

„Nein!“ Xylos schüttelte vehement den Kopf. „Die Alten!“

 

Hasdrubal verzog die Lippen. Er selbst war einer Der Alten und mochte es nicht, mit dem Rest von ihnen in einen Topf geworfen zu werden. „Es gibt genug Alte, die nicht rebellieren.“

 

„Ja, dich und die Schatten!“, lachte Xylos. Das Geräusch klang ebenso wenig fröhlich wie seine Frage: „Wieso habt ihr Ed hinter mir hergeschickt? Habt ihr kein Vertrauen?“

 

„Es gab zwei Anschläge auf die Königin!“, erwiderte der alte Vampir.

 

„Die Jungen?“, provozierte Xylos Hasdrubal mit einem fiesen Lächeln.

 

„Die Alten!“ Hasdrubal blieb ungerührt. Er schlug sich bereits zu lange mit Xylos herum, um sich von dessen Art aus der Deckung locken zu lassen. Außerdem hatte der Callboy recht. Gerade die älteren Vampire schienen den Respekt vor ihrer Herrscherin in dem Moment verloren zu haben, als sie nach dem Tod ihrer Schwester ihren Jennifer Schreiner Honigblut Wahnsinn einbüßte. Beinahe so, als hätten die Blutsauger erst jetzt begriffen, dass Maeve nur eine Frau war.

 

Für das „nur“ hatte die Königin Jahrhunderte lang selbst gesorgt. Durch die magischen Ketten und ihr Verbot, Vampirinnen zu erschaffen, hatte sie den Blutsaugern indirekt suggeriert, dass Frauen weniger wert waren als Männer. Minderwertig.

 

„Manchmal glaube ich, sie will sterben!“ Hasdrubals Stimme war ein Hauch. So leise, dass nur Xylos ihn hören konnte. Doch selbst während er dem Alten folgte, fragte sich der Vampircallboy, ob der Satz nur in seiner Fantasie entstanden war.

 

Das „Herein“ der Königin begrüßte sie Sekunden bevor sie die Tür erreichten. Ohne Anzuklopfen betraten sie den Raum, in dem sich nichts weiter befand als eine schwarze Ottomane, die in der Mitte des schattigen Zimmers stand und ein Spiegel, welcher an der Wand gegenüber der Tür hing.

 

Maeves Schönheit traf Xylos jedes Mal aufs Neue. Er hatte immer gewusst, dass sie attraktiv war, schrecklich schön, boshaft schön. Doch nun war sie verzweifelt schön. Als sei ein rothaariger Engel aus Versehen vom Himmel gefallen und fände nun den Weg nicht mehr zurück.

 

Die erschreckende Klarheit ihres Geistes verwirrte ihn, klagte ihn an. Jeder Blick von ihr schien sich tief in seine Seele zu bohren und ihn zu durchschauen. Und doch liebte sie ihn auf ihre Weise. Das Lächeln, welches sie ihm schenkte, kam von Herzen.

 

Trotzdem überlagerte es lediglich zwei andere Emotionen. Gefühle, die alle anderen Vampire weder sehen noch fühlen konnten, und von denen Xylos auch nur wusste, da die Verbindung zwischen ihm und Maeve von jeher auf einer anderen Ebene stattgefunden hatte.

 

Der Schmerz über den Verlust ihres Geliebten quälte selbst Xylos, wenn er Maeve ansah. Vor langer Zeit war auch die Königin die vampirische Form eines Ehebündnisses eingegangen. Und hatte bei Julius‘ Tod bitter bezahlt: Die offene Wunde, die in ihrer Seele blutete, hatte sie Jahrhunderte lang vergiftet, wahnsinnig gemacht und alles andere ausgeschlossen. Der tiefe Riss, den die Ermordung ihrer Schwester mit sich gebracht hatte, sorgte merkwürdigerweise dafür, dass das Gift und der Schmerz versickerten und abflossen. Er tat weh, aber er verdarb nicht.

 

Eine Bewegung lenkte Xylos Blick zur Seite. Der Vampircallboy hatte die Anwesenheit des jungen, unbekannten Blutsaugers schon seit Betreten des Gebäudes gespürt, doch ihn nicht wirklich angesehen, da der Junge mit Maeves Genehmigung im Halbschatten des Raumes herumlungerte und zur besseren Tarnung schwarze Kleidung trug.

 

Kein cooles, stylishes Schwarz, wie Xylos jetzt feststellte, sondern ein staubiges. Einen staubigen schwarzen Anzug von der Gattung: Dadrin-werden-Menschen-beerdigt. So, wie der Vampir aussah, war er der Beerdigte gewesen.

 

Trotz dieses ersten Eindrucks war der Blick des Jungen so vertrauensvoll, dass es Xylos beinahe schmerzte. Ohne Arglist oder Argwohn sah der junge Vampir in eine Welt, in der er nie Leid oder Entbehrung erfahren oder Betrug und Verrat kennengelernt hatte. Und so konnte Xylos, selbst ohne es zu wollen, in dem naiven jungen Mann lesen wie in einem offenen Buch.

 

Seit erst drei Jahren war der andere ein Vampir – und versuchte verzweifelt, sein altes Leben weiterzuleben: Er studierte immer noch Jura – jetzt als Fernstudium – und lebte in einer WG. Einer Vampir-WG?! Iiiikh! Bei der Vorstellung musste sich Xylos ein Jennifer Schreiner Honigblut Lachen verkneifen. Der Versuch war so skurril, dass er bei aller Verzweiflung noch komisch war – und so wenig von Erfolg belohnt. Eltern und Schwester hatten sich immer weiter von dem Jungen entfernt. So als ahnten sie die Unstimmigkeit in dessen Wesen und reagierten auf einen leisen, unbewussten Lebenserhaltungstrieb, einen tiefen Instinkt.

 

Der kindliche Neuvampir litt sehr unter dieser Zurückweisung und fragte sich, ob seine Entscheidung für ein Vampirdasein ein Fehler gewesen war.

 

Ist das echt eine Frage? Xylos schüttelte den Kopf. Freiwillig unsterblich? Selber schuld!

 

„Andromedos!“, stellte sich der Junge vor. Andromedos? Bestimmt sein echter Name! Xylos grinste, und der Junge nahm das als Anlass, ihm seine Hand zu reichen. Xylos starrte auf sie wie auf einen Fremdkörper. Dann entschied er sich dafür, sie zu schütteln und sich ebenfalls vorzustellen.

 

„Xylos!“

 

Für einen Moment sah der Vampircallboy Ehrfurcht in den Augen des Jungen aufflackern und versuchte angestrengt, nicht dessen Empfindungen und Gedanken aufzuschnappen.

 

„Wer ist es dieses Mal?“, unterbrach Maeve. In ihrer Stimme schwang leises Amüsement mit, so als sei sie dankbar für die Abwechslung in ihrem Leben. Selbst wenn die Abwechslung in Form einer Rebellion auftauchte.

 

Wahrscheinlich ist sie es wirklich!, dachte Xylos.

 

„Meine Königin!“, Hasdrubal neigte den Kopf, wie um seinen Respekt auszudrücken und eine Einleitung in die schlechte Nachricht zu finden „Es werden von Nacht zu Nacht mehr Rebellen. Es scheint eine Vampirseuche zu sein, dir den Befehl zu verweigern.“

 

Maeve schenkte Hasdrubal ein sanftes Lächeln, um welches Xylos den alten Vampir beneidete. Er verkürzte den Einstieg: „In Prag haben sich zwei Vampire zusammengeschlossen und eine eigene Armee erschaffen, mit der sie die Herrschaft über Tschechien übernehmen wollten.“

 

Hasdrubal schnaubte verächtlich. „Sie waren noch sehr jung und wussten nicht um die Fähigkeiten, die nur das Alter oder ein alter Schöpfer einem Vampir verleihen kann.“ Sein Blick wurde nachdenklich. „Wenn es ein Ältester gewesen wäre …“

 

„Eben!“, bestätigte Xylos unterbrechend.

 

Xylos und Hasdrubal tauschten einen Blick, der zum ersten Mal gegenseitiges Verständnis ausdrückte. Wenn ein Ältester eine Armee erschaffen würde … Xylos ließ dieser Vorstellung einen Moment lang freien Lauf, bevor er seine Fantastereien wieder einfing, und selbst Maeve schien einen Moment zu überlegen und die Vorstellung einer fähigen Vampirarmee nicht zu genießen. Nur der junge Vampir wirkte verständnislos, hatte keine Ahnung davon, wozu ältere Vampire fähig sein konnten.

 

„Nemesis!“, verkürzte Xylos das ganze Ausmaß des Desasters auf einen Namen.

 

„Früher oder später verraten sie einen immer“, murmelte Maeve. Die Enttäuschung über den Verrat eines ihrer Vertrauten hatte sie tief getroffen, doch Xylos war sich nicht sicher, ob ihre Worte nicht in Wahrheit ihm und seinem Lebensmotto galten.

 

„Maeve, du solltest ihnen ihre Ketten lassen – und die Macht über Frauen“, meinte Hasdrubal. Sein Tonfall war sanft und beschwichtigend, so als hätten sie diese Diskussion schon länger geführt, als dem alten Vampir lieb war. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Trotzdem krümmte sich Xylos innerlich. Er hatte noch nie erlebt, dass der Alte anderer Meinung war als Maeve. Oder zumindest hatte er noch nie erlebt, dass Hasdrubal sie in einem solchen Fall offen aussprach. Wenn er es schon tat, was mochten dann die anderen Alten von Maeves Entscheidung halten?

 

Der Callboy hoffte, dass Hasdrubals Verhalten der Königin nicht auffiel, denn ihre Erinnerung an die Zeit ihres Wahnsinns war durchweg verschwommen und unklar. Viele Fakten und Entscheidungen hatten ihr nachträglich erklärt werden müssen. – Doch sie bemerkte es.

 

„Du meinst, die Ketten würden genügen, damit alle vergessen, dass meine Schwester tot ist und ich ohne eine Hexe an meiner Seite kaum noch genügend Einfluss und Macht besitze, um Gesetze durchzusetzen?“

 

„Es würde die meisten Vampire ablenken, ja!“, behauptete Hasdrubal. „Denn dadurch, dass du ausgerechnet jetzt darauf beharrst die Ketten zurückzufordern, stößt du sie mit der Nase auf die neue Situation. Darauf, dass es nicht in deiner Macht steht, neue Ketten für die neuen Vampire zu schaffen.“ Seine Stimme wurde schmeichelnd: „Viele Vampire würden weiterhin die Hierarchie mit dir an der Spitze verteidigen, wenn sie ihre Geliebten behalten dürften.“

 

„Ich habe gesehen, wie diese Vampire ihre Geliebten“, Xylos spie das Wort wie eine übel schmeckende Beleidigung aus, „behandeln! Die Frauen wären lieber tot, als in den Ketten gefangen!“ Der Callboy war wütend, und an Hasdrubals Reaktion erkannte er, dass der ältere Vampir es bemerkt hatte: „Als wäre DIR das nicht völlig egal, Mr. Lover-Lover!“

 

„Keine meiner Frauen hat je versucht sich umzubringen!“

 

„Nicht, solange sie noch bei dir war!“, vervollständigte Hasdrubal die Tatsache, als habe er sie direkt aus Xylos Gedanken gestohlen.

 

Maeve trat einen Schritt vor und legte Hasdrubal ihre Hand auf die Schulter. Der ältere Vampir nickte einlenkend, trat jedoch einen Schritt zurück, wodurch er die Hand der Königin abschüttelte.

 

Maeve wirkte über Hasdrubals Verhalten erschüttert, fing sich aber rasch: „So oder so hätten alle es bemerkt: Nehme ich ihnen die Ketten nicht, werden sich die neuen Vampire übervorteilt vorkommen, nehme ich sie ihnen, die Alten.“

 

„Die Alten sind gefährlicher!“, behauptete Hasdrubal.

 

„Willst du um deine Kette kämpfen?!“ Xylos war erstaunt darüber, wie empfindlich er auf Hasdrubals merkwürdiges Verhalten reagierte, und wie sehr seine eigene Stimme einer Herausforderung glich.

 

Bevor der alte Vampir auf die Bemerkung eingehen konnte, hatte Maeve bereits die leere Kette wie zum Beweis hochgehalten: „Nein, sie war ohnehin leer.“

 

Sie versucht alles, um die Spannung aus dem Gespräch zu nehmen, dachte Xylos und seufzte leise. Wenn ich Hasdrubal doch nur ein wenig sympathischer finden würde – ein wenig vertrauenswürdiger!

 

„Kann ich etwas tun, um zu helfen?“, erkundigte sich der junge Vampir liebenswürdig. Nur in seinen Unterton hatte sich ein wenig Frost geschlichen, und Xylos fragte sich, wobei der Junge helfen wollte: Hasdrubal und ihn in Schach zu halten oder bei der Aufgabe, den Rebellen Herr zu werden.

 

„Danke, Philip!“ Maeve wirkte ehrlich erleichtert. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Philip? Xylos konnte sehen, wie der Junge errötete und wiederholte leise den Namen. Philip gefiel ihm gleich viel besser als Andromedos.

 

Bei Xylos Namenswiederholung wurde das Erröten des Jungen noch viel tiefer, nahm die Ohren mit in Beschlag und zog sich über die Länge des Halses nach unten. Xylos fragte sich, wie weit die Röte wohl ging.

 

„Und du mein Freund?“, gab Hasdrubal die Herausforderung zurück. Sein Blick war lauernd, während sich auf sein Gesicht ein Lächeln mit scharfen Kanten schlich.

 

Xylos hob die schwere Tasche mit den eingesammelten Ketten und reichte sie Maeve. Hasdrubals Lächeln wuchs in die Breite, als Xylos seine Arme hob, um den Verschluss seiner eigenen Kette zu öffnen. Wenn sein Lächeln noch breiter wird, löst sich der Kiefer aus der Verankerung, dachte Xylos, war aber klug genug, seinen Gedanken nicht laut auszusprechen. Und da soll Sofia noch einmal sagen, ich wüsste nicht, wann ich meine vorlaute Klappe halten soll!

 

Der Callboy reichte Maeve ohne Bedauern sein Schmuckstück, welches mit den letzten fünf Eroberungen gefüllt war. Xylos konnte immer und überall willige Sterbliche und ihr Geld um sich scharen und benötigte keine Extra-Macht oder ExtraEinnahmen durch den Verkauf und Tausch seiner Frauenanhänger.

 

„Es bedeutet dir wirklich nichts, oder?!“ In Hasdrubals Stimme lag ein seltsames Zögern, das Xylos nicht deuten konnte.

 

„Nein!“

 

„Keine von ihnen?“, hakte der alte Vampir nach.

 

„Keine von ihnen!“ Xylos wunderte sich darüber, dass seine Stimme entschuldigend klang. Beinahe so, als rechtfertige er sich. Er ärgerte sich über dieses Gefühl, und aus dem Ärger heraus stellte er eine Frage: „Wieso ist deine Kette stets leer gewesen?“

 

„Weil alles andere Selbstbetrug gewesen wäre. Wenn man liebt, liebt man, ob mit Kette oder ohne.“

 

Normalerweise hätte Xylos über den Satz gelacht, doch bei Hasdrubals aufrichtigem Gesichtsausdruck blieb ihm das Lachen im Halse stecken, und als der Alte betrübt hinzufügte: „Aber die Liebe scheint mich nicht zu mögen.“, fühlte sich Xylos endgültig kindisch.

 

„Siehst du! Bedingungslose Liebe ist auch einer der Gründe, warum ich die Ketten zurückfordere“, meinte Maeve. „Entweder liebt man ganz oder gar nicht!“

 

Xylos lief ein Schauder über den Rücken. Aus Maeves Mund klang die allgemeine Lebensweisheit wie eine Prophezeiung. Schließlich wusste er, dass Maeve bereits einmal ganz geliebt hatte – und deswegen beinahe gestorben war.

 

„Ganz oder gar nicht!“, wiederholte Hasdrubal und sah die Königin an. Für Sekunden hatte Xylos das Gefühl, dass zwischen ihnen eine Kommunikation stattfand, die ihn ausschloss.

 

Als Hasdrubal schließlich zuerst wegsah, konnte Xylos den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht einschätzen. Ist er verbittert? Xylos hatte schon immer den Verdacht gehabt, dass der alte Vampir eine Schwäche für die Königin hatte. Doch nun wirkte Hasdrubal mit seinen glänzenden Spiegelaugen seltsam müde und ausgelaugt. Hat ihn schon der bloße Augenkontakt mit Maeve Kraft gekostet?

 

Xylos konnte beinahe zusehen, wie der alte Vampir sich zusammenriss und sein Wesen zusammenhielt. Der Eindruck der plötzlichen Müdigkeit verflog wie eine Einbildung. „Ich denke, den Vampiren die Ketten zu lassen, würde die ersten Jennifer Schreiner Honigblut Spannungen beseitigen und uns helfen, uns neu zu organisieren“, behauptete der Alte und kam wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.

 

„Und ich denke, dass jeder Tag, an dem die Frauen keine Gefangenen mehr sind, ein guter Tag ist“, meinte Xylos. Er brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass es sein Mund war, der die Worte gebildet hatte, und war ebenso überrascht wie die anderen drei.

 

Hasdrubal starrte den jüngeren Vampir an. Er wurde aus ihm einfach nie ganz schlau. Sobald er sich eine Meinung über Xylos Charakter gebildet hatte, tat der Callboy etwas, was alles änderte: Er verriet die Hexe, von der er abhängig zu sein schien, um einer anderen zu einem anderen Vampir zu verhelfen, obwohl er sie doch selbst besitzen wollte. Sonst egoistisch wie ein Gott gab er sich selbst auf, um die Königin zu nähren, und jetzt verzichtete er freiwillig auf das, was Hasdrubal als Xylos Religion eingestuft hatte.

 

Und die Königin? Die Königin war ein Problem für sich. Hatte er sie akzeptieren und lieben können als sie wahnsinnig war, brachten ihr klarer Blick und ihre Schönheit nun die Schmerzen zurück, die er all die Jahrhunderte verdrängt hatte. Den Verlust und die Schuldgefühle.

 

Er fühlte sich schwach und zerrissen, so, als kehrte sich das Alter gegen ihn, als saugte die Zeit nun an seiner Kraft und seiner Entschlossenheit. Die Schwäche machte ihn unsicher und ließ ihn sich wieder menschlich fühlen. Verletzlich und sterblich.

 

Die Schwäche erinnerte ihn daran, wie es früher gewesen war, obwohl er gedacht hatte, diese Gedanken und Empfindungen seien Vergangenheit. Nun waren sie wieder da, erinnerten ihn an sein Leben vor dem Tod. An die Kriege und Kämpfe, an Essen, Trinken und Liebe.

 

Hasdrubal schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden.

 

Es erinnerte ihn an noch etwas, doch diese Erinnerung versteckte sich hinter den Bildfragmenten seiner aufgezwungenen, politisch motivierten Ehefrau. Nicht greifbar blieb das Wissen vage, ließ sich nur vermuten und hinterließ einen Nachgeschmack von etwas Wichtigem, was nie hätte vergessen werden dürfen.

 

„Lasst ihr uns bitte allein?“ Die Bitte der Königin riss Hasdrubal aus seinen Gedanken.

 

Die Wut, die er mit einem Mal in sich spürte, war so heiß und verzehrend, dass sie ihn ablenkte und zu einer neuen Frage trieb: Bin ich wütend auf Maeve, weil sie mich aus ihrem Leben ausschließt, oder auf Xylos, weil er derjenige ist, dem die Königin traut?

 

Hasdrubal starrte den jüngeren Vampir an. Mitleid. Er blinzelte, als er endlich das Gefühl zuordnen konnte, das ihn jedes Mal überfiel, wenn er Xylos ansah. So sehr er die Meinungen und Lebenseinstellungen des Vampircallboys missbilligte, es war nicht Hass oder Verärgerung, was er empfand, es war Mitleid.

 

Wieso bin ich dann so wütend? Hasdrubals Blick glitt zurück zu Maeve. Die Königin lächelte. Ein Lächeln, welches Trauer und Verständnis zu gleichen Teilen enthielt und seine stumme Wut erneut anfachte.

 

„Kümmere dich bitte um die Vorbereitungen für die Sitzung“, Maeves wohlklingende Stimme versetzte seinen Körper in Schwingungen, die er längst vergessen geglaubt hatte – und auch diese Tatsache verärgerte ihn. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Xylos beobachtete, wie Hasdrubal und der junge Vampir Philip den Raum verließen und wartete, bis sie sich weit genug entfernt hatten, um den weiteren Verlauf des Gespräches nicht mehr hören zu können.

 

„Wieso die Ketten? Und wieso jetzt?“, erkundigte er sich sanft.

 

„Weil ich jetzt wieder ich selbst bin, und ich weiß, wie es sich anfühlt, nicht mehr Herr über sich selbst zu sein. Es wird keine gefangenen Sklavinnen mehr geben.“

 

„Was wird mit den Frauen geschehen?“ Xylos erinnerte sich an das Versprechen, welches er Gorgias gegeben hatte, und er hoffte, es halten zu können.

 

„Sie werden sich aussuchen dürfen, ob sie aus den Ketten wollen …“

 

„… um zu sterben?!“ Xylos sah Maeve mit großen Augen an.

 

„… oder erst einmal abwarten wollen. Eine andere Alternative kann ich ihnen nicht anbieten.“

 

„Doch!“, meinte Xylos. Sein Blick verhakte sich mit dem Maeves. Beide wussten, dass es einen dritten Weg gab, abseits von Tod oder dem verschwundenen Elixier der Hexe, welches die Frauen befreien und Vampire in Menschen verwandeln konnte. Wenn Joel es doch nur endlich finden würde!

 

„Sie in unsterbliche Vampire zu verwandeln, wäre verheerend.“ Maeves Blick richtete sich nach innen.

 

„Untote!“, korrigierte Xylos und versuchte ihren Gedanken zu folgen.

 

„Selbst wenn sich nicht allzu viele von ihnen rächen wollten … es wären einfach zu viele in viel zu kurzer Zeit. Eine viel größere und umfassendere Veränderung in der Vampirgesellschaft als alles jemals Geschehene!“

 

Xylos nickte. Nichts war schlimmer als die Rache einer gekränkten Frau. Selbst auf ihre Loyalität wegen der Befreiung durch die Königin durfte Maeve nicht hoffen, da sie selbst eine große Mitschuld daran trug, dass die Frauen überhaupt auf diese Art und Weise gefangen gehalten werden konnten.

 

Schließlich hatte Maeve das Gesetz erlassen, das weibliche Vampire verbot – und nur wegen dieses Gesetzes, welches ihre Zwillingsschwester Morna schützen sollte, hatte die Hexe die Ketten erschaffen, in denen die Frauen jetzt gefangen waren.

 

„Es muss eine andere Lösung geben“, meinte Xylos. Seine Hand glitt wie von selbst in seine Hosentasche und fand dort Gorgias Kette. Seine Finger schlossen sich um die Glieder des Schmuckstücks, als sei es realer als seine derzeitige Situation.

 

Ich kann sie nicht hergeben, nicht, wenn ich Wort halten will. Was soll ich Gorgias erzählen, wenn sich seine Frauen für den Tod entschieden? Er konnte es nicht riskieren, ihnen diese Option zu bieten.

 

„Ruf Edward und Sofia!“, befahl Maeve. Ihr musste plötzlich eine Idee gekommen sein, doch ihre Stimme klang ruhig, und auch in ihrem Gesicht konnte Xylos nicht lesen, was die Königin plante.

 

„Wieso?“ Im selben Moment, in dem er das Wort ausgesprochen hatte, hätte er sich am liebsten selbst getreten. Man widersprach seiner Königin nicht, und man fragte sie auch nicht nach ihren Gründen für einen Befehl. Trotzdem lächelte Maeve.

 

„Sie haben die Suppe eingebrockt, sie löffeln es aus!“, vereinfachte sie.

 

Xylos fühlte sich unter Maeves eindringlichem Blick unbehaglich. Er mochte Sofia wirklich. Deswegen wählte er auch nicht ihre Handynummer, sondern die von Edward. Edward würde vorsichtig sein und eine unterschwellige Warnung verstehen. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Mit wenigen Worten berichtete Xylos von der einberufenen Sitzung, zu der alle Schatten und die Ältesten eingeladen waren. Als er betonte, dass Edward – der ja ohnehin ob seines Amtes anwesend sein würde – auch Sofia mitbringen sollte, wurde der Magistrat in der Tat hellhörig.

 

Innerlich triumphierend legte Xylos auf.

 

„Du hättest ihn nicht extra warnen müssen!“, meinte Maeve. Ihre Stimme enthielt keinen Tadel, und ihr Gesicht war schön und undurchschaubar wie immer. Erst als sie ihn direkt ansah, konnte Xylos den Schmerz und das Misstrauen sehen, was die Jahrtausende sie gelehrt hatten. „Kann ich mich auf dich verlassen, Xylos?“

 

„Immer!“, behauptete er und wusste, dass es die Wahrheit war.

 

Die Königin spürte es ebenfalls. Trotzdem fragte sie mit einem traurigen Lächeln. „Wieso?“

 

Xylos wand sich innerlich unter ihrem prüfenden Blick. „Du kennst die Antwort!“, behauptete er. Beide kannten die Antwort – seit ihrer ersten Begegnung.

 

„Amüsier mich!“ In ihren Worten schwang eine Bitte mit. Lass mich wissen, dass mich wenigstens ein Mensch, ein Vampir, nicht hasst.

 

„Du hast mich geliebt und gerettet!“ Er lächelte sie an, wusste, dass er ihr nicht sofort gab, was sie wollte und sonst immer zu hören bekam.

 

„Ich habe jeden Mann geliebt, der so aussieht wie du“, ihre Stimme verklang leise, als sie sich an die unaussprechlichen Gräueltaten erinnerte, die sie getrieben hatte. Jahrhunderte lang, einmal im Jahr.

 

Heute wusste sie um die Bedeutung dieses Tages, damals waren ihr ihre Beweggründe egal gewesen. Triebhaft und animalisch hatte sie sich genommen, was sie begehrte, geliebt, was sie brauchte und getötet, was sie verraten hatte.

 

Einzig ihre Zwillingsschwester hatte die Wahrheit geahnt. Und noch heute wusste niemand außer ihm, Edward und Sofia, dass es jedes Mal Julius Todestag gewesen war. Der Tag, an dem die Hexe Maeves Seelenpartner in den Selbstmord getrieben hatte.

 

„Du magst all diese Männer irgendwie geliebt haben, aber du hast sie nie gerettet!“, meinte Xylos. Nur mich, mich hast du leben lassen.

 

„Ich habe dich nicht gerettet, ich habe dich verdammt!“ Maeve sah in den Spiegel, wie um sich zu vergewissern, dass sie dort ein Abbild sah und immer noch im Besitz einer Seele war.

 

Xylos lenkte ein. „Ich habe damals alles so gemeint, wie ich es gesagt habe.“ Der einzige Grund, warum sie mich gerettet und die anderen getötet hat.

 

„Ich weiß!“ Tränen traten in Maeves Augen. Immer noch fand Xylos es erschreckend, dass Vampire keine Blutstränen weinten, sondern ebenso salzige Flüssigkeit wie die Sterblichen. Es machte sie lebendiger – und verletzlicher.

 

Der Kloß in seinem Hals schwoll an. „Ich meine es heute noch genauso!“ Wahrheit.

 

„Ich weiß!“ Maeves Lächeln war schrecklich schön. Auf seltsame Art und Weise tröstete ihn dieses Lächeln. Sie war die einzige Frau, der er ihre Schönheit nie zum Vorwurf gemacht hatte – oder ihre Macht. Vielleicht, weil sie innerlich ebenso zerbrochen ist, wie du?, dachte sein Verstand, bevor sich sein Ego einmischte: Hei! Ich bin nicht zerbrochen! Zumindest nicht ganz.

 

Trotzdem erinnerte er sich an das Sehnen, welches ihn immer überkam, wenn er eine neue Frau kennenlernte. Es kam immer wieder, ungefragt und ungewollt, und dann übernahm die Realität. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Maeves Lächeln wuchs, wurde weniger verführerisch, unschuldiger. Sie wusste wirklich um die Wahrheit, hatte sie selbst durch ihren Wahnsinn hindurch gespürt und Xylos dafür geliebt. Doch obwohl sie immer sein Rettungsanker sein würde, würde sie ihn nie lieben können. Ihm nie die Liebe schenken, die er brauchte und nötig hätte. Auch wenn er es nicht wusste und nicht einmal an Liebe glaubte.

 

„Manchmal wünschte ich, es wäre anders.“ Er verstand, dass sie nicht nur die Liebe meinte, sondern auch das Schicksal. Ihres und seines.

 

*** Der Angriff kam unerwartet und aus dem Hinterhalt. In einem Augenblick waren Maeve und Xylos allein im Raum, im nächsten waren die anderen Vampire da. Getarnt durch einen der Armreifen, die die Hexe extra für die Schatten erschaffen hatte, hatten sie sich unter den Radar geschlichen und ihm und der Königin jede Fluchtmöglichkeit genommen. Noch bevor die beiden die Chance hatten, auch nur an Hilfe zu denken.

 

Der erste Hieb nach Xylos‘ Kopf war nur aus einem einzigen Grund nicht tödlich: Weil sich der Vampircallboy mit einem Sprung schützend vor Maeve katapultiert hatte und ihn die Klinge nur am Arm erwischte.

 

Doch die Königin blieb selbst reglos stehen, als sich die Vampire in zwei Gruppen teilten und sich in ihren Rücken zu schleichen begannen.

 

Xylos duckte sich unter einem zweiten Schlag hinweg und erwischte den Oberarm des Schwertführers. Mit einer einzigen Bewegung gelang es ihm, einen Vampir zu durchbohren und das Schwert an sich zu bringen, bevor ihn ein zweites Schwert von hinten, knapp unterhalb des Herzens durchbohrte. Für Sekunden konnte der Callboy die Klinge sehen, die aus seiner Kleidung herausragte, dann fiel er.

 

Noch während des Fallens versuchte er den Regenerationsprozess zu stoppen, denn er wusste, das Heilen würde zuviel Kraft kosten und Zeit, die er nicht hatte. Seine anderen Fähigkeiten mussten Maeve schützen. Feuer! Nichts tat sich.

 

Xylos versuchte seiner Königin ein Signal zu geben. Sie sollte fliehen, während er die Angreifer ablenkte. Doch immer noch hatte sich die Königin nicht bewegt. Selbst ihr Gesichtsausdruck war seltsam erleichtert und entspannt und blieb es auch, als der erste Vampir direkt auf sie zu sprang.

 

Er löste sich in Luft auf.

 

Xylos blinzelte und versuchte zu begreifen, wohin der Vampir verschwunden war. Er war und blieb weg, und auch die anderen Angreifer schienen nicht verstehen zu können, was geschehen war.

 

Selbst Maeve schien schockiert zu sein. Sie hatte nichts getan, um sich zu verteidigen, nichts, um den anderen Vampir zu töten.

 

Dieses Mal griffen mehrere Vampire gleichzeitig an. Obwohl sie Messer und Schwerter bei sich trugen, waren nur ihre Zähne wirklich einsatzbereit. Mit weit aufgerissenen Mündern und gebleckten Eckzähnen bewegten sie sich wie im Zeitraffer auf ihre Königin zu. Sie wollen sie aussaugen! und verschwanden direkt vor ihr. Unspektakulär und ohne Feuer, Rauch oder Asche. Sie waren einfach weg und blieben es auch.

 

Xylos hatte es nicht kommen sehen. Keine Auren, keine Kraftfelder und keine Farben einer vampiresken Macht. Jennifer Schreiner Honigblut

 

„Stopp!“ Maeves Stimme war leise, ein Befehl. Aber Xylos befürchtete, dass er nicht den restlichen Angreifern galt, sondern sich selbst, ihrem Körper. Denn immer noch wirkte Maeve beinahe erleichtert, froh darüber, getötet werden zu sollen.

 

Panik und Angst durchströmten Xylos, und es gelang ihm endlich, auf die Beine zu kommen, um sich vor Maeve zu stellen. Doch die Angreifer ignorierten ihn ebenso wie die Königin. Gespenstisch still hatten die Vampire nahezu synchron ihre Schwerter gezogen und stürzten wie auf ein unsichtbares Signal hin gemeinsam auf die Königin zu und verschwanden ab einem Radius von etwas über Schwertlänge. Jennifer Schreiner Honigblut