KAPITEL 8
Xylos tauchte wie ein Geist zwischen den finsteren Schatten auf, mehr ein Wesen aus der Mythologie als zuvor.Er lachte über seinen eigenen Eindruck, mit dem er sich in der Welt sah. Das tiefe, sinnliche Geräusch wurde von den Häusern und der menschenleeren Straße zurückgeworfen und grollte wie Donner vor dem Haus Nummer 22.
Magnus hatte sich wahrlich eine schöne Ecke zum Leben gesucht. – Immer und überall. Der Bergkamp war nur eine von vielen Adressen, die der Bruder der Königin neben Rom, Venedig, Paris, Berlin, Kreta und Kairo sein eigenen nannte. Selbst in Usbekistan, Bulgarien und im Jemen hatte er Grundbesitz.
Dagegen war das schmucke Mehrfamilienhaus geradezu klein und unbedeutend. Trotzdem wusste Xylos augenblicklich, dass Magnus dort war. Spürte seine Aura durch die Wände, aufgebracht und verwirrt. Eine gefährliche Mischung.
Für Sekunden spielte der Vampircallboy mit dem Gedanken, Hilfe anzufordern oder zumindest mit Maeve Rücksprache zu halten.
Dann erinnerte er sich daran, dass Magnus wartete. Der alte Vampir wusste, dass er gesucht wurde, und dass Xylos die Aufgabe erhalten würde, ihn zurückzubringen. Seufzend betätigte er die Türschelle.
Es öffnete niemand, aber der Gesuchte floh nicht, die Aura blieb, wo sie war, verfärbte sich nur ein wenig, wurde auf eine Art und Weise dunkler, wie Xylos sie noch nie gesehen hatte. Fluchend wandte er sich von der Vordertür ab und sprang über die herrliche schmiedeeiserne Tür zum Garten.
Der Garten war gepflegt, das Geräusch fließenden Wassers zeugte davon, dass hinter einer hohen Schilfmauer ein Gartenteich schlummerte. Ein Pool zeugte von Luxus. Selbst im kalten Deutschland schien Magnus nicht gewillt, auf einige Gepflogenheiten zu verzichten.
Xylos nahm die fünf Stufen der Terrasse mit einem einzigen Sprung und war durch die offen stehende Tür ins Innere eingedrungen, bevor ein eventueller zufälliger Zeuge mehr als eine schattenhafte Bewegung gesehen haben konnte.
„Xylos?“ Magnus Stimme klang kratzig, als wäre er eine alte Schallplatte mit einem Sprung, der sich durch jeden Ton zog, statt an der Oberfläche zu bleiben.
Ein kalter Schauder lief über Xylos Rücken und schien seine Körpertemperatur schlagartig um zwei Grad abzukühlen. Er verharrte reglos. Irgendetwas stimmt nicht, stimmt ganz und gar nicht! Es war nicht nur die Art, wie Magnus sprach, auch die Konsistenz der Luft, die Temperatur und der Geruch. Alles in ihm weigerte sich weiterzugehen, weiterzuforschen und schrie nach Diskretion und Flucht.
Xylos atmete zitternd ein. Der Geruch des Todes und das Versprechen bald einsetzender Verwesung schwangen in diesem einen Atemzug mit. Erbrochenes, Medikamente, Urin und Tränen. Die ausgestandenen Qualen, die wie eine farbliche Erinnerung in der Luft hingen und sich mit den Eindrücken und Gerüchen mischten, setzten verblasste Gedankenfragmente in Xylos frei. Dinge, an die er nicht denken wollte, an die er seit Jahrhunderten nicht mehr gedacht hatte, und die ihn an Folter und Tod erinnerten.
„Xylos, bitte!“ Das Flehen riss Xylos aus seiner Lähmung. Jennifer Schreiner Honigblut
„Magnus?“ Er bog um die Ecke, hinter der das Zimmer liegen musste, in welchem er schon von außen Magnus Anwesenheit gespürt hatte.
Leer. Erst dann fiel Xylos Blick auf den Boden, und mit einer einzigen Bewegung kniete er neben dem alten Vampir nieder. Seinem stolzen Freund, der niedergestreckt auf dem Boden lag und sich vor Schmerzen krümmte.
Voller Schrecken begriff Xylos, was das Verfärben der Aura wirklich bedeutete. Magnus starb! Unwiderruflich!
„Welche Macht …was …wer?“ Jeder seiner Gedanken richtete sich darauf, einen Täter zu fassen und Rache zu üben.
„Scht ...“, der Zeigefinger des Magnus legte sich auf Xylos Lippen, und der Callboy erkannte die Wahrheit. Verwirrt versuchte er sie mit seinem Verstand in Einklang zu bringen: Magnus war ein Mensch. Woran stirbt er?
„Gift!“, meinte Magnus, als hätte Xylos die Frage laut gestellt. Er klang so determiniert, dass es beinahe zum Lachen gewesen wäre.
„Aber warum …?“ Xylos konnte es nicht fassen. Konnte nicht fassen, dass ein Vampir freiwillig auf die Unsterblichkeit und die Macht verzichtete, nur um sich selbst umzubringen.
„Glaub mir! Hätte ich um die Schmerzen gewusst, hätte ich mir was Besseres ausgedacht!“ Magnus hustete, als ein Lachen aus seiner Kehle entkommen wollte.
Xylos schwieg, versuchte das Gehörte zu verdauen und sah sich in der Wohnung um. Er fand eine Tote im Bett liegend. Eine Frau, die zweifellos von großer Schönheit gewesen sein musste. Sie war älter als er sie bevorzugte und schien keinen einfachen Tod gehabt zu haben. Der Geruch von Medikamenten bezeugte, dass sie wie eine Löwin um ihr Leben und eine Zukunft gekämpft haben musste.
„Krebs!“, meinte Magnus. In Xylos Augen traten Tränen. Magnus starb für sie? Für diese Frau, weil er sie nicht hatte retten können?
„Ich verstehe nicht …“, … wie man für eine Frau sterben kann. Wie man für sie alles aufgibt. Wie man ohne sie nicht leben kann.
„Das wirst du irgendwann!“ Ein Lächeln schlich sich auf Magnus Züge. Magnus, der stets weit voraus plante und Dinge wusste, die anderen verborgen blieben.
„Ich habe ihr angeboten, sie zu einem Vampir zu machen, aber sie wollte nicht.“ Der Blick, den Magnus seiner toten Frau zuwarf, war voll Zärtlichkeit.
„Und deine Tochter?“
Magnus wirkte kurz überrascht, dann verzogen sich seine Gesichtszüge vor Qual. Sein ganzer Körper schien zu kontraktieren, die Muskeln ihm nicht mehr zu gehorchen.
Xylos konnte hören, wie das sterbliche Herz den Takt änderte, unregelmäßiger wurde.
„Schlüssel!“, das Wort war kaum noch zu hören. Magnus hustete abermals, versuchte seine Lunge zur Arbeit zu zwingen, noch einige Sekunden des Lebens herauszuschlagen. „Für Sofia! Nur Sofia!“
Seine Gesichtszüge entglitten, verloren jegliche Spannung, ein Beben durchlief seinen Körper, als alle Muskeln nacheinander erschlafften und ihre Tätigkeit einstellten. Jennifer Schreiner Honigblut