KAPITEL 6
Der Lärmpegel in dem großen Saal der Mansion war ohrenbetäubend, und der Aufruhr über die rasch einberufene Sitzung bildete gemeinsam mit den verschiedenen Gerüchen und Sprachen ein verwirrendes Kaleidoskop an Sinneseindrücken, die nur noch von den verschiedenen Auren und den mehr oder weniger freiliegenden Emotionen übertroffen wurden.Auren in den verschiedensten Schattierungen spiegelten Gemütslagen wieder, verfärbten und veränderten sich und vermischten sich mit denen anderer Vampire. Die wenigsten Vampire waren in der Lage eine Aura, die mehrfarbige Energieschicht, um einen Körper zu sehen.
Xylos wünschte sich im Moment nichts sehnlicher, als zu ihnen zu gehören und wenigstens von diesen Eindrücken verschont zu bleiben. Doch der Wunsch ging nicht in Erfüllung, sein Talent zwang ihn weiterhin dazu, nahezu ungefiltert Fragmente anderer Lebewesen – Todwesen? – aufzuschnappen. Den Trübsinn Philips, der Xylos dazu drängte, den jungen Vampir genauer unter die Lupe zu nehmen, ebenso wie die nahezu hysterisch übertriebene Fröhlichkeit, die von einigen der Ältesten ausging, und mit der sie ihre eigene Furcht zu überspielen suchten.
Trotz der Jahreszeit trugen nahezu alle gedeckte Farben, schwarz, dunkelblau, dunkelbraun und grau in allen Schattierungen bis hin zu dem Schwarz der Schatten. Ein Schwarz, welches so dunkel wirkte wie ein schwarzes Loch und jegliches Licht zu absorbieren schien.
Selbst von seinem leicht erhöhten Standpunkt aus wirkte die wabernde Masse der Vampire wie eine leicht modrige Masse, die vergessen hatte, sich aus dem Urschlamm zu erheben und am Leben und an den Jahreszeiten teilzunehmen.
Dem Geruch nach zu urteilen, der von manchen Vampiren ausging, lag Xylos mit diesem Gedanken nicht einmal sehr falsch. Einige schienen tatsächlich erst aus ihren Moderkuhlen geklettert zu sein, nachdem der Ruf der Königin sie ereicht hatte.
Xylos ließ seinen Blick schweifen. Wie mochte Maeve all diese Vampire erreicht haben? Sicher nicht mit dem Handy. Die meisten hatten selbst die Erfindung des Telefons noch nicht mitbekommen, und einige schienen Elektrizität nur vom Hörensagen zu kennen.
Xylos seufzte. Es gab also andere Vampirfähigkeiten, die er nicht besaß, und von denen er auch noch nichts gehört hatte. Zumindest war das die einzige Erklärung, die ihm einfiel.
Wenn wenigstens Edward, Sofia oder Maeve hier wären!, dachte er. So blieb ihm und allen anderen nichts anderes übrig als zu warten, bis die Königin die Sitzung eröffnete.
Und Warten war nicht gerade eine Stärke von Vampiren, egal ob alt oder jung, ob klassisch, verzweifelt oder lebenshungrig, auch wenn sie die Ewigkeit zur Verfügung hatten. Wieso waren alle bloß so ungeduldig, so zeitgeil? Xylos Blick schweifte zu Hasdrubal, der sich anmutig durch die Gruppen der Wartenden schob, hier und da anhielt und ein Schwätzchen hielt, um gleich darauf rastlos weiterzugehen. Vielleicht haben einige Vampire Angst, doch noch zu sterben, wenn sie still sind, sich nicht bewegen und gleichzeitig nichts sagen. So, als könne sich der Körper daran erinnern, dass er etwas vergessen hat. Xylos lächelte in sich hinein. Jennifer Schreiner Honigblut
Zum Glück redeten die Vampire im Moment noch hauptsächlich davon, was sie seit ihrem letzten Treffen getan hatten, von allgemeinen Schwierigkeiten, Plänen und von Geld. Geld, dachte Xylos spöttisch. Es ist schon erstaunlich, dass sich das nie geändert hat. Egal, in welchem Jahrhundert man geboren war, Zahlungsmittel waren immer eines der wichtigsten Gesprächsthemen – und Sex.
Er versuchte, die Gespräche anhand der Auren zu filtern, suchte in dem unübersichtlichen Stimmgewirr Dialoge zu den Neuigkeiten in der Vampirgesellschaft, schnappte Informationen, Vorschläge und Kritik auf, während sich die Verunsicherung über die gemeinsame Zukunft langsam in die Themen einschlich und aufkommende Wortgefechte lauter wurden.
Warum Vampire nicht die Welt beherrschen? Xylos wandte sich Charon zu und der Gruppe, die er soeben unbemerkt infiltriert hatte. Der Grund ist ganz einfach und lässt sich auf ein Wort beschränken: Vampire!
Sperrte man mehrere Vampire in einen Raum, benahmen sie sich wie Katzen in einem Sack. Sobald es ernsthaft langweilig wurde, würden sie einen Streit beginnen – egal worüber.
Wie viel schlimmer kann es noch werden?, fragte sich Xylos und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge. Vor lauter Vampiren konnte er nicht erkennen, wer es war; nur, dass die Ankunft mit einem großen Tohuwabohu und einigen verwirrten Auren verbunden war.
Bitte, keine Antworten!, dachte Xylos. Trotzdem setzte er sich neugierig in Bewegung, um den Ursprung der Aufregung zu entdecken. Und als er die langen, dunklen Locken in der Entfernung aufblitzen sah, wusste er, was genau der Ärger bedeutete. Der Ärger hatte einen Namen: Fee!
Und Gorgias war an ihrer Seite.
Xylos knurrte leise in sich hinein. Als er das verfluchte Weib in der Obhut des Vampirs gelassen hatte, hatte er damit gerechnet, sie endlich los zu sein. Doch wieder einmal war sie zurückgekommen wie ein Steh-Auf-Weibchen.
In dem lauten Stimmgewirr konnte der Callboy deutlich zwei Stimmungen ausmachen. Die eine war: Sakrileg. Die andere: Ficken. Er verzog die Lippen zu der Karikatur eines Lächelns. Primitiv! Irgendwie scheinen sich Menschen, sobald sie in Vampire verwandelt werden, zu drittklassigen animalischen Monstern zu werden. Freud hätte seine helle Freude daran!
„Bring dein Spielzeug zurück in den Karton!“, tönte es von Charon, der eine Gruppe Gleichgesinnter anführte, die Fee und den Rothaarigen umzingelt hatten.
„Und dich am besten auch!“, lachte ein Vampir, dessen Namen Xylos nicht einfiel.
Der rothaarige Clubbesitzer drehte sich suchend in der Menge um, ohne Fee loszulassen, die er schützend an der Hand hielt. Als er Xylos in der Menge entdeckte, lächelte er ihm erleichtert zu.
Charon folgte dem Blick und grinste höhnisch. „Na, Nachschub?“
Xylos ignorierte den Vampir und ging Gorgias entgegen, während die Vampire ihm eine Gasse bildeten.
„Er ist zu jung!“, behauptete der Namenlose anklagend, und einige der anderen nickten zustimmend. Jennifer Schreiner Honigblut
„Sie hat mich angerufen!“ Gorgias hielt zu seiner Verteidigung sein Handy in die Höhe. Das Stimmgewirr wurde noch lauter und so verworren, dass einzelne Sätze nicht mehr zu unterschieden waren.
„Hat sie!“, übertönte Hasdrubal den Lärm und bestätigte Gorgias Behauptung.
„Aber er ist zu jung!“, Charon zeigte anklagend auf das rothaarige Objekt seines Tadels.
„Die Königin wird ihre Gründe haben!“ Einige der klügeren Vampire wichen einen Schritt von Charon und seiner kleinen Gruppe ab. Wenn Gorgias auf der Seite der Königin stand, und Hasdrubal so klar Stellung bezog, wollten sie auf gar keinen Fall auf der anderen Seite sein.
„Aber die Sterbliche muss draußen warten!“, befahl Hasdrubal. Sein Blick streifte Xylos, und der Vampircallboy konnte deutlich in dessen Augen lesen: Sicher hast du es uns eingebrockt, also löffelst du es auch aus!
„Warum? Ich habe keine Geheimnisse vor ihr!“ Gorgias baute sich zu voller Größe auf, was immerhin optisch recht imposant war, denn er war gut einen Kopf größer als Hasdrubal. Trotzdem hielt der alte Vampir dem anklagenden Blick stand und ignorierte auch Xylos leises: „Das ist meistens der erste Fehler!“
„Ich werde nicht mit dir über meine Entscheidungen diskutieren!“, meinte der Alte.
„Aber die Königin!“ Gorgias Stimme klang herausfordernd.
„Wenn die Königin nicht anwesend ist, bin ich ihr Sprachrohr!“ Xylos zuckte innerlich zusammen ob dieser Halbwahrheit. Edward als Magistrat war das Sprachrohr der Königin. Nur wenn er und Joel – der Anführer der Schatten – nicht da waren, ging diese Funktion an Hasdrubal über.
„Xylos!“ Der Vampircallboy schreckte hoch, und sein Blick traf sich mit dem Hasdrubals. „Bring die Frau in einen der Gästeräume!“
Xylos nickte knapp; wütend darüber, dass der Alte es wagte, ihm nicht nur einen direkten Befehl zu erteilen, sondern es auch noch vor allen anderen Vampiren zu tun. Obwohl er wusste, dass es für Hasdrubals Positionsstärkung wichtig war, ärgerte es ihn, dass nun alle anderen Vampire dachten: Er legt sie flach. Der wütende und eifersüchtige Blick Gorgias fachte diese Vermutungen nur noch weiter an.
„Die Frau ist ein Gast und niemand wird sie anrühren!“, stellte Xylos aus diesem Grund klar. Es war ihm egal, was die anderen Vampire mit Fee anstellten, der Callboy wollte nur klarstellen, dass er nichts mit ihr tun würde.
Die Stille, die auf seine Worte in dem Saal einzog, und Fee und ihn auf ihren Weg nach draußen begleitete, war ohrenbetäubend. Selbst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, meinte Xylos noch die tödliche Wucht von Gorgias Blick in seinem Rücken zu fühlen.
*** „Das war sehr nett von dir!“, behauptete Fee und spielte mit einer ihrer langen Locken, die sie sich um den Finger gewickelt hatte und nun langsam und genüsslich loskringeln ließ.
„Was war sehr nett?“, fragte Xylos abgelenkt.
Fee zog eine Schnute, weil er ihren verspielten Flirt nicht bemerkte, sondern voranschritt. „Das ich ein Gast bin und so ...“ Nun ließ sie endgültig von ihrer Jennifer Schreiner Honigblut Haarsträhne ab. Es war schwer, jemanden zu verführen, wenn dessen Grundgeschwindigkeit schnell genug war, um einen zum Rennen zu bringen.
„Verdammt, Xylos!“, fluchte Fee und blieb stehen. Zu ihrer Freude tat der Callboy es ihr gleich. Kurz hatte sie befürchtet, er würde einfach weitergehen und sie dazu bringen, auf entwürdigende Art und Weise hinter ihm herzulaufen. Auf keinen Fall wollte sie sich in diesem riesigen Mausoleum verlaufen.
Doch er gönnte ihr eine Verschnaufpause und sah sie mit seinen merkwürdigen leeren Augen an. Wie immer konnte sie nicht einschätzen, was er dachte oder von ihr hielt.
„Bedeutet es dir irgendetwas, dass ich nicht mit dir hier bin, sondern mit Gorgias?!“, platzte es zu ihrer Überraschung aus ihr heraus.
„Du solltest überhaupt nicht hier sein!“, gab der Callboy zurück.
Fee ärgerte sich. Sie war überzeugt davon, dass Xylos sehr genau wusste, was sie hören wollte, trotzdem wich er einer Antwort einfach aus. Sie wollte Gewissheit, brauchte sie. Entweder er wollte sie, oder er wollte sie nicht. Wenn sie eine Entscheidung von ihm hatte, würde sie loslassen und endlich ein neues Leben beginnen können. Mit neuen Hoffnungen und einer neuen Möglichkeit auf Liebe.
„Du weißt, dass ich dich liebe und nicht ihn?!“
„Hm!“ Xylos setzte sich wieder in Bewegung, um nicht in die Versuchung zu kommen, ihr ihren hübschen Hals umzudrehen. Sie roch noch nach Gorgias, nach Sex mit ihm und nach seinem toten, lebensunfähigen Samen, und doch behauptete dieses Weib, sie würde ihn lieben. Und das Schlimmste war: Sie log dabei nicht einmal.
Sie liebte Xylos, und trotzdem war sie in der Lage, einem anderen Mann ihren Körper zu schenken, Lust für einen anderen Mann zu empfinden und notfalls auch mit ihm zusammen zu sein. Wenn das keine Lüge war, was dann?
Er stoppte und drehte sich langsam zu ihr um.
Fee wich einen Schritt zurück, als sie Xylos Gesichtsausdruck sah. Dieses Mal war es leicht, ihn zu deuten: Abscheu und Hass. Abgrundtiefer Hass.
„Gorgias riskiert alles: Seine Unsterblichkeit und sein Leben, um dich als seine Partnerin hierher zu bringen, und du dankst es ihm auf diese Weise?“ Xylos wohlklingende Stimme war nur mehr ein leises Zischen.
Fee spürte, wie sie ob der direkten Anklage unwillkürlich rot wurde. Sie hatte bisher nicht einen einzigen echten Gedanken an Gorgias oder seine Gefühle verschwendet. „Ich ...“
„Spar dir deine Erklärung!“ Xylos drehte ihr den Rücken zu, als könnte er ihren Anblick nicht länger ertragen. „Gorgias liebt dich, und er will dich – Gott allein weiß, warum!“
„Du bist eifersüchtig?“ Fee gab sich Mühe, keinen Jubel in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen.
Eifersüchtig? Xylos Finger schlossen sich so fest um Gorgias Kette, dass es schmerzte. Ja, auf gewisse Art und Weise war er das. Aber nicht auf Fee, oder darauf, dass Gorgias sie jetzt besaß. Xylos war eifersüchtig darauf, dass ein anderer Vampir Liebe empfinden konnte. Und er bedauerte den armen Narren zutiefst, denn an eine Frau wie Fee war Liebe mehr als verschwendet – der reinste Selbstbetrug.
Genauso gut konnte Gorgias sich mit Lichtschutzfaktor 30 eincremen und in die Sonne legen. Jennifer Schreiner Honigblut
Statt zu antworten und auf ihren Verdacht einzugehen, riss sich der Callboy zusammen und befahl lediglich: „Mach ihn glücklich!“
Mit dieser warnenden Aufforderung blieb Fee allein vor einer Tür zurück.
*** Als Xylos in den großen Saal zurückkam, hatte sich die Stimmung wieder gefangen. Hasdrubal stand neben Maeve und Gorgias. Die Königin musste Sekunden vor Xylos eingetroffen sein, um Nemesis als vogelfrei zu deklarieren, denn das Schweigen der Vampire war noch neu und unberührt.
Auf Maeves aufforderndes Nicken hin begann der Callboy zu erzählen. Er berichtete von den Vorfällen in Prag und ließ nichts aus. Und niemand unterbrach ihn, nicht ein einziges Mal, was eine völlige neue Erfahrung war.
Nachdem er seine Geschichte beendet hatte, sah er in besorgte und betrübte Gesichter.
Sofia hatte nur die letzten Sätze gehört und war erstaunt darüber, in welch klaren und knappen Worten Xylos von dem Aufruhr berichtete. Ihre Aufmerksamkeit glitt über die Anwesenden und wieder zu Xylos zurück, als dieser begann, über das neueste Attentat auf die Königin zu berichten.
Trotz seiner Worte kam sie nicht umhin, ihn zu bewundern. Er trug Schwarz, eine Farbe, die sein helles Haar in einem strahlenden Blond aufleuchten ließ und das Blau seiner Augen noch heller machte. Der schlichte Schnitt seines Rockes, die passende Weste und die eng anliegende Hose ließen ihn größer erscheinen und betonten seinen perfekten Körperbau. Er sah auf eine lässige Art elegant aus. Heute Abend war er ganz der Schwerenöter, der er vorgab zu sein.
Sofia bedauerte die Frauen, die ihm in die Hände fielen. Und ihn, wenn er endlich einmal an die Richtige geraten würde.
„Was ist, bereust du deine Entscheidung, mich zu nehmen?“, flüsterte Edward. Er beugte sich zu ihr und biss ihr spielerisch tadelnd ins Ohrläppchen.
„Jede Sekunde!“, flachste Sofia leise zurück.
Während Edward ihr immer noch wie ein grausamer Krieger aus längst vergessenen Zeiten erschien, war Xylos ein goldener Spitzbube, eine verlockende Versuchung, die ach so harmlos wirkte, aber mit gefährlichen Nebenwirkungen versehen war.
„Er ist süß!“, gab sie zu, als der Callboy seine Rede beendete. Nicht nur, um Edward zu ärgern.
Edwards Lachen war tief und melodiös. Es wirbelte ihren Unterleib durcheinander und floss wie träger Sirup in ihren Adern, bis ihre Nervenbahnen vibrierten.
„Lass ihn das bloß nicht hören, er bildet sich noch was darauf ein.“
„Ich bin mir sicher, er wird wütend!“ Sofia runzelte die Stirn, als sie darüber nachdachte, wie oft sie dieses eine Wort zu hören bekommen hatte. „Wer will schon süß sein oder niedlich?“
„Stimmt! Süß sind kleine Kätzchen!“ Xylos Stimme klang direkt hinter Sofia. Sie warf Edward einen tadelnden Blick zu. Er hatte sie nicht einmal gewarnt, als Xylos direkt hinter ihr stand.
„Ihr wisst, wie ich es hasse, wenn ihr euch ständig anschleicht!“, schimpfte sie. Jennifer Schreiner Honigblut
„Aber es macht einfach viel Spaß!“ Xylos warf Edward einen prüfenden Blick zu. Nur weil der Magistrat zurzeit auf offene Feindseligkeiten verzichtete, gab es für ihn keinen Grund, unvorsichtig zu werden.
Charon lenkte Xylos von seinen Gedanken ab.
„Deswegen musste ich aus Ägypten kommen?“, unterbrach der Vampir rüde Hasdrubals Vorschläge. „Um mir anzuhören, was wir alles machen könnten?“
Charon war ein Geschöpf von Nemesis. Und nur weil er bisher noch nicht bei den Rebellen war, verzichtete Xylos darauf, seiner ersten heißkalten Wut nachzugeben und ihn aus dem Fenster zu werfen.
Kurz bevor Gorgias mit Fee aufgetaucht war, hatte er sich anhören müssen, wie Charon die anderen Vampire mit Fragen und sanftem Nachhaken gegen Maeve aufbrachte, ohne sich selber als Verräter zu outen.
Aufgebracht drehte er sich zu den versammelten Vampiren um und nahm Hasdrubal und Maeve die Aufgabe ab, auf Charons anmaßende Frage zu antworten: „Sie ist die Königin und kann dich von jedem Ort der Welt zu sich zitieren, egal wann und warum. Wenn du diese Konditionen nicht magst, verschwinde und stirb.“ Bei Charons Anblick fügte er hinzu: „Noch einmal!“
Bevor ein anderer etwas sagen konnte, um seiner Empörung oder Zustimmung Luft zu machen, ergänzte er: „Jeder Einzelne von euch schuldet der Königin seine Loyalität. Sie hat jeden von euch vorgeführt bekommen und seiner Existenz als Vampir zugestimmt, als sie die Macht hatte, es zu ändern. Nun braucht sie euch, und ihr dankt es ihr auf diese hochmütige Art?“ Xylos starrte Charon an. Er war mindestens ebenso wütend wie der andere Vampir. Prima, dann können wir ja gemeinsam wütend sein.
„Meine Meinung zu äußern ist kein rebellischer Akt!”, behauptete Charon. Der bleiche Vampir schien genau zu wissen, warum Xylos wütend auf ihn war.
„Ja, und die Hölle ist auch nur eine Sauna!“, zitierte Edward einen Film, den er kurz zuvor mit Sofia gesehen hatte. Das Lächeln, welches er Charon schenkte, war furchteinflößend.
„Was ich sagen wollte“, unterbrach Hasdrubal das Zwischenspiel, „sorge dafür, dass sie dich fürchten, Maeve! Machiavelli hat es vor beinahe sechshundert Jahren gesagt, und es ist immer noch richtig: Jeder echte Herrscher sollte dafür sorgen, dass seine Leute ihn lieben. Aber wenn sie dich nicht lieben können oder wollen, musst du dafür sorgen, dass sie dich fürchten. Liebe ist besser, aber Furcht wird die Aufgabe ebenfalls erledigen!“
Die Vampire nickten zustimmend. Selbst Charon schien sich mit einer strengen und mächtigen Königin anfreunden zu können. Nur Maeve schien nicht zufrieden mit dieser Wendung. Offensichtlich hatte Hasdrubal seinen Vorschlag vorher nicht mit ihr abgestimmt.
Xylos sah den Alten an. Doch der trug denselben ruhigen und gefassten Gesichtsausdruck wie immer, nur seine Augen glänzten auf eine Art und Weise, die die Haare auf Xylos Armen zur Flucht bewegen wollten. Ist Wahnsinn ansteckend?
Xylos drehte sich zu Maeve, doch ihre Augen waren so klar wie zuvor. Oder kann man ihn einfach an jemand anderen abgeben?
Schon bevor die Königin den Mund öffnete, ahnte Xylos, dass ihm ihre Worte nicht gefallen würden: „Xylos, finde den Magnus. So kannst du Joel helfen, das Elixier zu finden, mit dem wir den Frauen ein menschliches Leben bieten werden!“ Jennifer Schreiner Honigblut
Sie hatte sich also dafür entschieden, ihre Entscheidung weiter durchzuboxen und ein Problem nach dem anderen anzugehen. Im Prinzip war Xylos ihrer Meinung, allerdings hätte er die Prioritäten anders geordnet.
Trotzdem nickte er. Vielleicht kann das Elixier auch gegen den einen oder anderen Vampir helfen? Ein diebisches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als er sich vorstellte, wie Nemesis und Charon als Menschen ihr Leben fristen mussten – und den Behörden erklären, wer sie waren und warum sie im menschlichen System nicht existierten.
„Er wird Magnus nicht finden!“, behauptete Hasdrubal. Sein unergründlicher Blick ruhte immer noch auf dem Callboy, der sich langsam unwohl fühlte.
„Es wird zu lange dauern, wenn Xylos alleine nach Magnus sucht!“ Der Einwand kam von Edward und enthielt eine Gewissheit, die Xylos wütend machte. Sicher hatte der Magistrat recht. Edward kannte Magnus wie kaum ein anderer, doch bisher hatte Xylos seine Suchen stets erfolgreich abgeschlossen, und auch der Bruder der Königin würde da keine Ausnahme werden. Egal, wie alt und gewitzt er war!
„Und wieso sollte Xylos alleine geschickt werden?“
Xylos drehte sich zu Styx. Für Sekunden wünschte er sich, einige Minuten allein mit dem anderen verbringen zu dürfen. Irgendwo, wo niemand Styx´ Schreie hören würde.
Der Freund Charons unterschätzte ihn. Etwas, was Xylos stets unterstützt hatte. Es war paradox, dass diese Tatsache, die er in all den Jahren gepflegt hatte, ihn nun störte. Immerhin war er ein Kind der Königin und den meisten Alten zumindest ebenbürtig – sie wussten es nur nicht und maßen ihn einzig an seinem Alter.
Außerdem war Styx ein Arschloch. Manche Vampire sind es von Natur aus, manche müssen sich anstrengen. Auf Styx trifft beides zu! Xylos lächelte den Sprecher süffisant an. Und dass er schon immer auf Seiten Nemesis stand, hat mit meiner Meinung gar nichts zu tun!, entlarvte sich Xylos selber und schwieg. Und da soll Sofia noch einmal sagen, ich hätte Vorurteile.
Charons geflüsterte Provokation gab den Ausschlag. Der Callboy konnte fühlen, wie er die Kontrolle über seine Wut verlor.
Xylos Augen begannen zu glühen, füllten sich mit hellblauem Feuer, und seine Menschlichkeit faltete sich zusammen, schien auf ein Minimum zu schrumpfen, und ließ ihn zu einem anderen Wesen mutieren. Der Effekt war erschreckend, noch immer war der Callboy wunderschön, noch immer perfekt. Doch nun war es eine tödliche Schönheit, die Art von Attraktivität, die einen schreiend davonlaufen ließ, einen besessen machte und in den Tod trieb, weil man sie nicht besitzen konnte.
Im Versuch, seine Wut umzulenken und sie nicht als tödliche Macht nach außen zu projizieren, konnte Xylos spüren, wie sie sich um ihn sammelte und ballte. Einflussreicher, als er es sich je geträumt hätte, und mit einer Vernichtungskraft ausgestattet, die der der Königin gleichkam.
Ein unsichtbarer Wind strich über seine Haut, knisterte in den kleinen Härchen seines Körpers, verbündete sich mit seiner Aura und ließ seine goldenen Haare wehen, während die Magie einen Schirm um ihn bildete und ihn sich einverleibte.
Er war wundervoll und schrecklich, von einer furchtbaren Schönheit, die einer Verkörperung eines Todesengels am nächsten kam.
“Ich werde Magnus finden. Bis dahin wird es keine Frau, kein Blut und keinen Sex für mich geben!” Selbst seine Stimme klang verändert, bedrohlich und determiniert. Jennifer Schreiner Honigblut
Schlagartig war Xylos wieder er selbst. Nur ein leises elektrisches Knistern zeugte davon, dass seine Haare und sein Körper immer noch aufgeladen waren, und die Magie in ihm auf der Lauer lag.
Xylos blinzelte, als er den Ausdruck auf den Gesichtern der anderen Vampire sah. Respekt mischte sich mit Furcht. Unglaube mit Begreifen. Sie alle waren Zeuge einer Macht gewesen, die nur wenige von ihnen besaßen – und eines Schwures, der gerade aus Xylos Mund unglaublich klang.
Keine Frauen und keinen Sex!, erinnerte er sich und verkrampfte sich innerlich. Jeder der Vampire wusste, was das bedeutete: Lust war die innerste Macht, die jeden Vampir antrieb, seine ureigene Magie. Bei dem einen war es Lust am Leben, beim anderen Lust auf Blut oder Macht. Bei ihm war es der Sex.
Ein enthaltsamer Vampir war lächerlich, gefährlich; er verzichtete auf seine Macht und seine Stärke – oder gewann neue.
Hauptsächlich deswegen war es nicht die Erkenntnis, dass Xylos wesentlich mächtiger war, als die meisten vermutet hatten, sondern der Schwur, der die anderen Vampire beeindruckte. Solange Xylos denken konnte, hatte kein Vampir einen Schwur wie diesen getan. Vor allem, weil jeder von ihnen wusste, wie schnell der körperliche und geistige Verfall gehen konnte, wenn man seinen Schwur nicht hielt.
Es war beinahe so, als sei die vampireigene Magie, die den Körper und die Seele weiterleben ließ, an den Schwur gebunden und – ob der Vampir es wollte oder nicht – die Magie hielt sich an die einmal gesprochenen Worte.
Hasdrubal war verwirrt. Schon wieder. Wieder hatte Xylos Hasdrubals Meinung über ihn über den Haufen geworfen. So langsam ging er ihm damit wirklich auf die Nerven. Immer, wenn er sich der Person Xylos sicher war, veränderte sich der Vampircallboy vor seinen Augen. Immerhin war ein lange gehegter Verdacht nun bestätigt: Xylos war ein Kind der Königin. Neben Edward das Einzige.
Doch was plant er? Hasdrubal ließ seinen Blick zu dem Pärchen gleiten. Edwards Absichten waren gut, Sofias waren gut. Und Xylos? Xylos Absichten waren wahrscheinlich gut.
Auf jeden Fall war der Schwur zur rechten Zeit gekommen. Selbst die ältesten Vampire waren beeindruckt. Nur wenige von ihnen hatten je einen Schwur von solchem Ausmaß ausgesprochen. Er selbst hatte es nur einmal getan und bereute es bis heute. Die Konsequenzen des Schwures reichten noch nach zweitausend Jahren in die Gegenwart.
Hasdrubal bezweifelte, dass Xylos schon die genauen Konsequenzen seiner Worte begriff. Aber vielleicht würde der Callboy mehr Glück haben. Trotz aller Missstimmungen wünschte Hasdrubal es ihm.
Er beobachtete, wie Maeve sich leicht vor Xylos verneigte. Er war sich sicher, dass sie keine Ahnung von den Konsequenzen hatte. Hatte sie doch den Schwur des Callboys ohne Gefühlsregungen als deutliches Statement für ihre Seite und ihre Entscheidung akzeptiert.
Voller Genugtuung verfolgte Hasdrubal die Abgabe der Ketten mit den Frauen. Selbst Charon und Styx trennten sich von ihnen ohne einen einzigen Kommentar. Ihre Blicke kehrten immer wieder zu Xylos zurück. Voll Respekt und Verunsicherung. Jennifer Schreiner Honigblut
Grünschnäbel! Sie hatten keine Ahnung von dem Schwur, schwammen nur auf der Welle und ahnten nur wegen der älteren Vampire, dass Xylos damit etwas Besonderes geleistet hatte.
Das Bedauern auf manchen Gesichtern mischte sich mit Erleichterung und Erwartung, während sich Vampir um Vampir von den magischen Ketten trennte und einer neuen, ungewissen Liebeszukunft entgegensah.
*** Sofia wusste selbst, dass sie ihn anstarrte, konnte es aber nicht ändern.
Zum ersten Mal hatte sie erlebt, dass Xylos Verantwortung übernahm. Und nicht einmal Verantwortung nur für sich, sondern gleich für alle. Wenn er schon etwas macht, dann 100 %, dachte Sofia und ertappte sich bei dem nicht jugendfreien Gedanken, dass das wahrscheinlich auch der Grund war, warum er als Callboy solchen Erfolg hatte.
Auch sonst wirkte er verändert. So, als sei etwas geschehen, was ihn aufgerüttelt hatte und seine schöne erfüllte und sexuell ausgelastete Seifenblase ins Schlingern gebracht hatte. Vielleicht wird er erwachsen?
Ihr Blick traf sich mit dem Hasdrubals. Auch er hatte sich verändert und schien mit dem Zustand der Königin nicht glücklich zu sein. Vielleicht, weil die anderen Alten sie mit Wahnsinn auch weiterhin als Herrscherin akzeptiert hätten? Doch Sofia wurde den Eindruck nicht los, dass es ein tiefergehendes Problem gab.
Ihr Blick ruhte auf der Stelle, an der für gewöhnlich Joel stand. Der ruhige, zuverlässige Joel, der seit Tagen schon auf der Suche nach dem Elixier war. Ist es nicht dieselbe Suche, auf die jetzt auch Xylos geschickt wird? Oder hat Magnus das Zeug nicht ständig bei sich?
Zu gerne hätte Sofia das Genie Magnus in die Hände bekommen, hatte sich schon einige Foltermethoden ausgedacht, um ihn dafür zu bestrafen, dass er sie zu seiner Spielfigur, zu seinem Trumpf gegen die Hexe gemacht hatte. Wahrscheinlich ist auch genau das der Grund, warum nicht Edward mit der Suche nach seinem langjährigen Freund betreut wurde.
Prüfend sah die Vampirin Edward an. Es schien ihm nichts auszumachen, dass er nicht mit der Suche betraut worden war. Im Gegenteil. Er wirkte erleichtert.
Sofia suchte ihre Verbindung, den Bund, und fand ihn in ihrem Herzen fest verankert. Er war immer noch so heiß wie am ersten Tag und ebenso verbindlich. Vorsichtig tastete Sofia sich an ihm vor – prüfend und zärtlich. Sie empfing nur Ausgeglichenheit auf Seiten Edwards.
Als er die Berührung in seinem Geiste spürte, blinzelte er Sofia beruhigend zu. Die Vampirin errötete, als sie seine anderen Gedanken auffing.
Erst nach Sekunden intensiver sexueller Vorstellungen gelang es ihr, sich wieder auf ihr eigentliches Anliegen zu konzentrieren. War nicht auch Xylos ein Freund des Magnus? Hatte Maeve ihn deswegen auserkoren? Damit ein Freund ihren Bruder zurückholte?
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als die Königin die erste der abgegebenen Ketten hochnahm. Das es sich hier um eine Demonstration ihrer Macht handelte, nicht um eine vollständige Neuordnung der Ketten-Gesellschaft, war allen klar, trotzdem war Jennifer Schreiner Honigblut die Stille im Saal durchdringender als der Lärm zuvor, und die Welt schien gespannt den Atem anzuhalten.
Die Gestalt der schlanken, rothaarigen Königin verschwamm, als würde sie unwirklich, schwebte zwischen zwei Welten, war nicht wirklich hier und nicht wirklich dort, während sie an beiden Orten zugleich war.
Ein Raunen und Staunen ging durch die Vampire, während die Königin, ganz ein ätherisch-durchscheinendes Wesen, sie mit wissenden Augen ansah und gleichzeitig den Frauen ihre Fragen, ihre Alternativen stellte und anbot.
Das Raunen wurde lauter, als eine Frau aus der Kette erschien, sich kurz in der Realität manifestierte und dann vor den Augen der versammelten Vampire verging. Es war, als alterte sie in einem Zeitraffer, der sich nur auf ihren Körper beschränkte. Sie war schon Staub, als die fassungslosen Vampire begriffen hatten, welche Schönheit ihnen für einen Sekundenbruchteil gezeigt und wieder genommen worden war.
Einer der Vampire gab einen Kummerlaut von sich, streckte seine Hand nach der Verflossenen aus, als könnte er sie halten, ihr etwas geben, damit sie blieb. Doch ihre Entscheidung war endgültig.
Die Tränen, die ihm übers Gesicht liefen, waren echt. Ebenso echt wie seine Aura, die in einem dumpfen Braun-Grau waberte und alles abblockte, was seine Freunde ihm anboten.
Gorgias Blick traf Xylos, als eine andere Frau aus einer anderen Kette den Freitod wählte. Nach Jahrhunderten der Unsterblichkeit schienen sie erfreut, endlich den Weg allen Lebens gehen zu dürfen. Als eine dritte Frau erschien, brach der Callboy den Blickkontakt zu dem jüngeren Vampir ab. Er kannte sie, hatte sie schon im Club gesehen. Sein Mund öffnete sich und flüsterte ihren Namen.
Als habe sie ihn gehört, drehte sie ihren Kopf zur Seite und sah ihn mit ihren junggebliebenen Augen in dem rasch alternden Gesicht an. Das vorwurfsfreie Lächeln, welches sie ihm schenkte, direkt bevor ihr Geist brach und ihre Seele freigab, gab den Ausschlag.
Der Vampircallboy starrte auf die Stelle, an der die Frau noch Sekunden zuvor gestanden hatte. Sie in der Kette zu sehen – ihren schönen, jungen Körper, den sie anscheinend oft und auf jede erdenkliche Art zu töten versucht hatte, war schlimm gewesen. Doch ihr Blick war verheerend.
Sie hat dich geliebt, dir auf gewisse Art vertraut, und du hast sie weitergereicht und ihr Leben zerstört! Xylos musste gegen die Tränen ankämpfen. Ich bin nicht besser als sie! Keinen Deut besser als die schönen Frauen!
Im Wissen beobachtet zu werden, kämpfte Xylos die Emotionen zurück, hielt seine Aura gefangen und sorgte dafür, dass sein Gesicht nichts von seinen Gedanken preisgab, die ihn erschütterten.
Gorgias konnte sehen, wie sich Xylos Gesicht verhärtete. Wo ist meine Kette? Wo sind die, die ich liebe? Sie waren nicht bei den Ketten gewesen, die die Königin nun besaß. Gorgias hätte sie zwischen hunderttausend Ketten; seine Lieben unter Millionen Frauen gefunden. Er hätte ihre offensichtliche Anwesenheit gespürt.
Hatte Xylos sie nicht abgegeben? Verbarg er das hinter seinem abweisenden Gesichtsausdruck? Ha! Dass ich nicht lache! Xylos der Enthaltsame! Wahrscheinlich schirmt er sie vor mir und der Königin ab und behält sie für sich. Jennifer Schreiner Honigblut
Gorgias Blick glitt über Xylos Gestalt und etwas in seinem Inneren verkrampfte sich. Oder sind sie schon tot? Haben sie sich aufgegeben geglaubt? Einer fremden Macht ausgeliefert? Niemals hätte Gorgias sie ausliefern dürfen, sie niemals ausgerechnet dem Callboy geben.
Bastard! Gram glühte durch seine Adern und verbrannte seine Nervenbahnen. Ich habe es ihnen versprochen!
Xylos Blick bohrte sich in seinen, und für Sekunden glaubte Gorgias, der andere habe ihn durchschaut, doch als er seine eigene, emotionale Mauer abklopfte, fand er sie fest und stabil. Seine Schuldgefühle sicher verstaut.
Fee! Bezaubernde Fee! Er blinzelte. Meine Fee! Wenigstens sie würde er in Sicherheit bringen!
Abrupt drehte sich Gorgias um und verließ den Raum, ohne dass einer der anderen ihn versuchte aufzuhalten. Sein Geruchssinn wies ihm den Weg zu seiner Geliebten.
Xylos registrierte Gorgias Abgang mit einem mentalen Schulterzucken. Jetzt, wo der junge Vampir nicht mehr Zeuge war, konnte er die Frauenkette abgeben.
Xylos Finger schlossen sich um die Stränge, die sich wie lebendig in seine Hand fügten. Trotzdem konnte er sich nicht überwinden, Gorgias Kette abzugeben. Die beinahe fühlbare Angst, die im Club von dem anderen Vampir ausgegangen war, und sein verzweifelter Blick, der vor wenigen Sekunden auf ihm geruht hatte, hielt Xylos davon ab. Er konnte den Frauen einfach noch nicht die Chance gestatten, in den Tod zu gehen. Vielleicht würde tatsächlich eine – oder alle – den Tod als Ausweg wählen, nur weil es noch keine Alternative gab.
Er hatte Gorgias ein Versprechen gegeben und würde es auch halten.
Vielleicht sollte ich es ihm wenigstens sagen, überlegte Xylos, der sich mit plötzlichen und neuerlichen Gewissensbissen konfrontiert sah. Hoffentlich werden die nicht zur Gewohnheit!, dachte er, während er Gorgias folgte.
*** Er kam zu spät! Er konnte es nicht nur an dem Atemrhythmus der Sterblichen hören, sondern wusste es ebenso instinktiv, wie er wusste, wann es Zeit war der Sonne auszuweichen und die Dunkelheit zu suchen.
Die Welle der Erregung traf ihn deswegen nicht unvorbereitet, nur unwillkommen und brachte seinen Plan durcheinander.
Fees kleine Lustgeräusche deckten sich mit denen, die sie im Club von sich gegeben hatte, als sie sich vor seinen Augen selbstbefriedigt hatte. Als hätte sie diese Töne geübt und prüfe nun, ob sie bei jedem Vampir die gewünschte Wirkung erzielten.
Manipulative Schönheit!, dachte Xylos angewidert. Wie er sie allesamt hasste!
Er schüttelte den Kopf, um das dumpfe Gefühl abzuschütteln, welches mit den Geräuschen, den Gerüchen und den Lustschwingungen einherging.
Soviel zu Gorgias Liebe zu seinen Frauen – oder Fees zu mir, dachte Xylos. Er wunderte sich darüber, dass er selbst in seinen eigenen Gedanken verbittert und abfällig klang.
*** Jennifer Schreiner Honigblut Fee wunderte sich, als Gorgias ohne Vorwarnung und ohne Laut wie ein Schatten neben ihr erschien. Er wirkte gehetzt, verlor diesen Ausdruck aber nahezu schlagartig, als er nach ihr griff.
Für Sekunden verspürte sie Panik, doch der Vampir hob sie lediglich hoch, setzte sie auf den Sitz einer Lustschaukel und schob ihren Rock nach oben.
Die Erleichterung war ein ebenso starkes Aphrodisiakum, wie die zuvor durchgestandene Angst und das Adrenalin, welches immer noch in ihren Adern tobte. Sex! Mit Sex kannte sie sich aus.
Sex gegen Liebe war die Währung, die sie nur zu gerne bereit war zu zahlen. Vor allem, da Gorgias Xylos in so gut wie nichts nachstand.
Bereitwillig hatte sie zugelassen, dass Gorgias ihre Beine spreizte und an ihrer Unterhose zog. Ihr Seidenslip zerriss geräuschvoll, und sie war schon bereit für den Vampir, bevor er dazu gekommen war, sich auszuziehen.
Sie staunte über das Geräusch, welches aus ihrem Mund entkam. Dass er sie nehmen wollte, gleich hier und jetzt und auf der Stelle, turnte sie wahnsinnig an. Die Tatsache, dass die anderen Vampire und auch Xylos sie würden hören können, war ihr nicht nur egal – nein, es heizte sie zusätzlich auf.
Dann war der Vampir in ihr. Er hatte nicht einmal gefragt, ob es ihr recht war, nicht einmal kontrolliert, ob sie feucht genug war, um ihn problemlos aufzunehmen. Er hatte es gewusst.
Fee versuchte sich gegen ihn zu stemmen, um ihn tiefer aufzunehmen und ihn dazu zu zwingen, ihr Tempo aufzunehmen. Doch Gorgias rückte ein wenig weg von ihr, hatte einen festen Stand, während sie in der Lustschaukel saß, durch ihren Schwerpunkt zum Stillhalten verdammt. Sie konnte nur nehmen, was er ihr gab, ohne selbst Kontrolle auszuüben.
Und auch das wusste Gorgias, wie sie seinem selbstgefälligen Lächeln entnehmen konnte. Fee schnappte empört nach Luft und öffnete den Mund, um zu protestieren. Doch genau diesen Moment nutzte Gorgias, um Fees Hände einzufangen und nach oben zu drücken.
Mit großen Augen beobachtete Fee, wie der Vampir die Fesseln der Schaukel öffnete und sie ihr um die Handgelenke schlang. Seine Bewegungen, mit denen er sie fesselte und an der Schaukel befestigte, waren beinahe liebevoll.
Nicht so jedoch die Bewegungen, mit denen er danach die Schaukel in Bewegung brachte und nach hinten und wieder nach vorne dirigierte. Alles ohne großen Kraftaufwand. Jedes Vor und Zurück brachte Gorgias tiefer in sie hinein, entlockte Fee ein eindringlicheres Seufzen und versetzte sie in höchste Verzückung.
Sein Penisschaft massierte ihre Vagina, drang mit einem schmatzenden Geräusch in die verräterische Feuchtigkeit und glitt wieder aus ihr hinaus, nur um kurz ihre Klitoris zu berühren, und einen konvulsivischen Schock nach dem anderen durch ihren Körper zu jagen.
Fee wollte ihn, jetzt! Wollte, dass er kam, wollte es beenden, wollte den Gipfel!
Doch Gorgias hielt die Schaukel unerbittlich lange von sich fern, sein Glied erwartungsfreudig hoch aufgerichtet. Fee wimmerte, hasste ihn dafür, liebte ihn dafür.
Kontrolle!, dachte sie, doch mit einem Mal erschien es ihr nicht mehr so wichtig, den Sex, das Spiel und die Liebe zu kontrollieren. Loslassen wurde eindringlicher, zu einem Versprechen. Jennifer Schreiner Honigblut
Gorgias beobachtete Fee. Wenn er eines von Xylos gelernt hatte, dann war es, eine Frau am Rand der Ekstase zu halten. Nur hier konnte man sich ihrer sicher sein!, hatte der Callboy stets behauptet, und zum ersten Mal befürchtete Gorgias, dass der ältere Vampir damit recht hatte.
Fees Gesicht war eine Mischung aus Anspannung, Leidenschaft und Verzweiflung. Kleine Schweißtropfen waren auf ihre Stirn getreten und folgten nun langsam der Schwerkraft. Ihr Mund war geöffnet, doch kein Ton war mehr aus ihm herausgekommen, seit Gorgias sich entschlossen hatte, ihr den Orgasmus zu verweigern. Und die Schönheit stand kurz vor der Ekstase, balancierte auf dem rot flammenden Rand, und einzig sein Nichtstun verhinderte, dass sie abstürzte.
Ihre Erregung brachte ihn an seinen eigenen Rand. Jeder Stoß konnte ihn explodieren lassen, ohne dass er es schon wollte. Reglos verharrten beide, ihre Blicke ineinander verhakt, in einem stummen Duell.
Gorgias gab nach, fasste die beiden Schaukelseiten mit festen Händen und drang wieder in Fee ein, härter dieses Mal, schneller.
Die ersten tiefen Konvulsionen schüttelten Fee, ihr Schrei war ein Schrei der Erleichterung, ein Schrei der Dankbarkeit, und als sie den Blickkontakt abbrach, schloss Gorgias die Augen. Ließ zu, dass er sich in ihr verlor. In ihrem Duft und in ihren Schenkeln.
Ihr gemeinsamer Orgasmus verwob sich, ließ ihre Existenz hell gleißen und durchzog jede Zelle ihres Körpers. Das Lustfeuerwerk beschränkte sich auf diese Helligkeit, hielt und gewann an Höhe, während ihr lang gezogener Schrei bis in den großen Saal klang, und Gorgias dumpfes Stöhnen von den Mauern absorbiert wurde.
*** Xylos klammerte sich an sein neu entdecktes Gewissen – den besseren Teil seines Wesens – wenn auch nur noch mit der Fingerkuppe. Er war zu wütend und zu enttäuscht, so dass er das zweite Liebespaar nicht einmal bemerkte, bevor er um die Ecke gebogen war und sie sah.
Kaum hast du den Schwur geleistet, schon gehen deine ersten Kräfte hops!
Der sanfte und kurze Kuss zwischen den beiden war beinahe mehr, als er ertragen konnte. Er zeugte von Liebe und Vertrauen und war um vieles erotischer als der Sex, den der Callboy soeben beobachtet hatte.
Der kurze Anflug von Neid verging, als sich Sofia aus Edwards Umarmung löste und ihn anlächelte.
„Hey Baby!“, begrüßte er sie. „Ich dachte, jetzt, wo ich offiziell zu den Guten gehöre, würdest du auf mich warten, statt dich dem erstbesten Vampir an den Hals zu schmeißen.“ Xylos´ Lachen zeigte Edward, dass er scherzte.
Edward verdrehte die Augen. Noch immer traute er Xylos nicht über den Weg, akzeptierte aber immerhin, dass Sofia ihn als Freund betrachtete.
„Ich war wirklich in Versuchung. Aber es gibt einen Trost.“ Sofia grinste schelmisch. „Deine Gute-Vampir-Medaille ist mit der Post zu dir unterwegs. Warum läufst du nicht schnell und siehst im Briefkasten nach?“
Edward unterbrach das Geplänkel und wurde ernst: „Sollen wir mitkommen?“
„Ihr habt den Boss gehört!“, widersprach Xylos. „Nur ein Vampir pro Auftrag.“ Jennifer Schreiner Honigblut
Sofia kicherte leise, reichte ihm aber einen Zettel.
„Was ist das?“
„Joel hat mir die letzte bekannte Adresse von Magnus gegeben.“
„Danke!“
„Viel Glück!“
Für Sekunden war Xylos versucht, nach einem Abschiedskuss zu fragen. Es wäre schön zu wissen, dass es für jemanden einen Unterschied darstellte, ob ich gehe und vielleicht für immer verschwinde. Er entschied sich dagegen. Wahrscheinlich hätte Edward ihm sonst doch noch den Kopf abgerissen. Jennifer Schreiner Honigblut