Kapitel 3
Das kommt alles nur davon, dachte ich, wenn man statt eines schmucken Damenpferdchens einen kleinen, braunen roussin reitet, fast eine Schindmähre, und keinen livrierten Lakai bei sich hat. Er hat mich für die Tochter eines hobereau gehalten, die zusammen mit den Tagelöhnern ihres Vaters Weizen drischt und mit Pfeil und Bogen auf Kaninchenjagd geht. Darum ist er so unhöflich gewesen. Der weiß doch gar nichts. Nein, ganz und gar nichts. Falls er wirklich so viel sehen kann, hätte er auch bemerkt, daß das Wappen meines Vaters sechzehn Felder hat, und hätte mir die Achtung entgegengebracht, die einem Menschen gebührt, dessen Stammbaum bis in die Zeit vor den Kreuzzügen zurückreicht. Schließlich bin ich zwei Jahre lang im Kloster Saint-Esprit erzogen worden, wo ich Italienisch, Musik, Sticken, Literatur und die Kunst der eleganten Konversation erlernt habe. Ich bin daran gewöhnt, in besseren Kreisen, mit erleuchteten, hehren Geistern zu verkehren. So wurde auch mein höheres, spirituelles Selbst herausgebildet, welches Personen mit einem schwerfälligen Geist einfach nicht begreifen können. Seine Grobheit ist offenkundig eine Marotte, die er sich zugelegt hat, weil er Unwissenden weismachen will, er könne aufgrund einer geheimen Macht Gedanken lesen und die Zukunft vorhersagen. Ein Scharlatan. Genau das ist er. Ein Scharlatan, dessen Geschäft das Einschüchtern von Menschen ist. Und was die Zukunft angeht, so erhebe ich mich einfach darüber, indem ich mich geistig höheren Dingen widme.
Die Straße war mir wohlbekannt, jede Biegung, jeder Baum und jeder Stein, und dabei war ich lange nicht auf ihr gereist. Früher waren wir jeden Sommer aus unserem Stadthaus innerhalb der Mauern aufs Gut gezogen und nach der Ernte wieder zurück, doch die Zeiten waren lange dahin, desgleichen das weitläufige alte Haus meines Großvaters in der Rue de Bourgogne. Doch der Anblick der sanft gewellten Matten, auf denen hier und da weiße Schafe weideten, der vertrauten Felder und Wäldchen weckte heftige und lange vergessene Erinnerungen, die an meiner Seele zerrten. Vor meinem inneren Auge erhob sich ein Haus – nicht unseres, doch Tante Paulines unweit des Domplatzes –, und darin sah ich wieder das Zimmer mit den Gobelins, in dem das Licht golden durch die Fenster fiel und auf dem hellen Silber einer muschelförmigen Schale funkelte. Die Schale, das wußte ich noch – so wenig trügt die Erinnerung –, ist voll kleiner Bonbons, die nach Fenchel schmecken.
»Na mach schon, nimm dir eins«, sagt die Tante meiner Erinnerung. Mir kommt sie wie eine Märchenkönigin vor. Unter der eckigen Leinenhaube lugen dunkelbraune Locken hervor, die von einem schimmernden grünen Seidennetz gehalten werden. Eine hohe Halbkrause umrahmt ihr Gesicht, und über ihrem Tageskleid trägt sie ein langes, fließendes, ärmelloses Überkleid aus Brokat. Sie ist schön; alles an ihr raschelt, funkelt und duftet nach getrockneten Rosen und Maiglöckchenessenz. Die hellroten Falten ihres Unterkleides mit dem breiten Saum faszinieren mich – auf der Oberseite schimmern sie nämlich in einer anderen Farbe als in den tieferen Lagen. Ein Zaubergewand. Ich greife in die Schale, und Mutter wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie ist wieder einmal schwanger, ihr Kleid aus dunkelgrauer Wolle ist verblichen, die Ellenbogen ihrer Überärmel sind abgewetzt. Ich bin sechs und die Älteste. Eine Magd hat meine kleine Schwester Laurette auf dem Arm, ein rundgesichtiges Kleinkind mit rosigen Wangen und goldenen Löckchen. Mutter hat Annibal, meinen vierjährigen Bruder, an der Hand. Auch er trägt noch Röcke und hat lange hellbraune Locken. Und Hamsterbäckchen, weil er sich den Mund mit Bonbons vollgestopft hat.
»Man sollte sie nicht verwöhnen«, meint Mutter.
»Sie sieht nicht aus wie die anderen«, sagt Tante Pauline.
»Sie ähnelt ihnen von Tag zu Tag weniger«, pflichtet ihr Mutter mit mattem Ausdruck bei. »Da sieh sie dir an. Sie hat sich selbst das Lesen beigebracht und läuft umher, statt wie gewöhnliche Kinder zu spielen – sie behauptet, daß sie Feen sucht. Was soll ich nur machen, Pauline?« Die Erwachsenen sagen so komische Sachen. Die Großen sind so langsam, so aufgeblasen und langweilig. Ich möchte, glaube ich, nie erwachsen werden.
»Hat er einen Verdacht?«
»Noch nicht.« Tante Pauline beugt sich im Stuhl vor. Der hat Beine, die wie Löwentatzen geschnitzt sind. Ich möchte unter dem Stuhl nachsehen, ob er da auch einen Löwenbauch hat, aber Tante Paulines Kleid ist zu bauschig.
»Gib sie mir«, sagt Tante Pauline mit funkelndem Blick. »Gib sie mir. Wozu ist mir dieser ganze Reichtum nutze? Ich bin unfruchtbar. Tausche einen Teil deines Reichtums gegen meinen.«
»Aber, mein Gatte – Hercule – sagt…«
»Ich kenne meinen Bruder. Für ihn sind Mädchen nur eine Last. Du hast einen Sohn und ein schönes kleines Mädchen, und die hier mag er nicht einmal. Monsieur Tournet würde es ihm gut vergelten…«
Daheim ein Unwetter. Eines von vielen. Ich verstecke mich unter dem Tisch.
»Und ich sage dir, diese Genugtuung gönne ich Pauline nicht!« Das Geräusch von Schlägen und Schluchzen über meinem Versteck. Der Deckel des Kessels, der im Küchenkamin hängt, hüpft und klappert unbeaufsichtigt. Blut von einem aufgeteilten Huhn tropft vor meiner Nasenspitze von der Tischplatte. Ein Paar schwere Stiefel stehen gleich hinter meinem Rocksaum. »Und du, du kommst da heraus, du kleine Ratte. Ich sag's ja, du wirst mit jedem Tag widernatürlicher. Du wirst noch einmal irre, und dann sperrt man dich für immer ein. Ich schließe dich in eine Truhe ein, und da kommst du nie mehr heraus, wenn du nicht mit diesem Unsinn aufhörst!« Eine große Hand langt unter den Tisch, ich rutsche in den tiefsten Winkel. »Was hat meine Schwester ihr gegeben? Ich weiß, daß sie ihr hinter meinem Rücken etwas gegeben hat…« Die großen Hände haben mich geschnappt und zerren mich hervor. Meine Füße berühren den Boden nicht mehr. »Ich schüttele es aus dir heraus, so wahr ich lebe…« Mein Kopf fliegt hin und her, mein Hals fühlt sich an, als ob er gleich bricht. Das geschenkte Taschentuch mit meinem Monogramm, in das ich ein paar Bonbons gewickelt habe, fällt aus seinem Versteck in meinem Ärmel und zu Boden. Die schweren Stiefel zertrampeln und zertreten die Bonbons auf den strohbedeckten Küchenfliesen zu klebrigem Matsch.
»Vater!« schreie ich auf, doch das scheint von weit her zu kommen, nicht aus meinem Mund.
»Ich erlaube nicht, daß dich dieses Weib verdirbt, laß dir das gesagt sein. Lieber sehe ich dich tot!«
»Hercule, nein, nicht die Reitpeitsche. Sie ist doch noch so klein…«
»Du – siehst – sie – niemals – wieder – ich – verbiete – es.« Die Schläge hageln im Rhythmus seiner schrecklichen Worte herunter. Was stimmt nicht mit mir? Warum liebt mich Vater nicht?
»Ich… ich will auch ganz artig sein…«, schluchze ich.
Doch jetzt bin ich erwachsen, und ich bin gar nicht artig, dachte ich, während ich beim langsamen Klipp-klapp der Hufe meiner kleinen Stute über diese Erinnerungen nachgrübelte. Denn ich war unterwegs zu Tante Pauline. Und ich hatte vor, ihr alles zu erzählen.
Es gab eine Zeit im Kloster, kurz nachdem ich mein feinsinniges, spirituelles Naturell entdeckt hatte, da wollte ich mein Leben Gott weihen. Doch leider kann man nicht ewig in Luftschlössern leben. Ein neuerlicher finanzieller Engpaß meines Vaters führte dazu, daß man meine zartbesaitete Seele gar roh aus ihrer wahren spirituellen Heimat riß und zu einer endgültigen Abmachung zwang, der zufolge ich endlich mit einem benachbarten Edelmann namens Thibauld Villasse, Monsieur de La Tourette, verbunden werden sollte. Als ich sechzehn Lenze zählte, hatte Monsieur Villasse zum ersten Mal um mich angehalten, doch damals hatte mein Vater noch ein größeres Vermögen und wies ihn wegen eines fehlenden uralten Stammbaums schnöde ab. Fürwahr, der Mann hatte überhaupt keine Wappenfelder, sondern lediglich ein großes, fragwürdiges Vermögen, das er durch Katzbuckeln bei einem königlichen Günstling, dem Maréchal St. André, und durch Kauf eines Salzmonopols erworben hatte. Seinem Titel fehlte das geheiligte Gütesiegel geadelter Tradition; mit einem Wort, er hatte seine Ländereien erst kurz nach meiner Geburt erstanden.
Wohlgemerkt, Monsieur Villasse wäre ohnedies nie für mich in Frage gekommen, weil er fast fünfzig und ganz verschrumpelt war und weil sich in seinem schütteren braunen Haar und seinem rötlichen Bart weiße Fäden zeigten. Und er hatte so einen Ausdruck in seinen kalten grünen Augen. Das Leben einer Braut Christi, auch wenn es noch so eingeschränkt war, erschien mir in der Tat wünschenswerter als der Bund mit einem solchen Mann. Aber – eine Demoiselle muß heiraten, wie es ihr Vater wünscht. Es ging dabei, glaube ich, um einen Weinberg, den mir mein Großvater mütterlicherseits als Mitgift vermacht hatte und der im Süden an Villasse' Ländereien grenzte, zu denen kein einziger Weinberg gehörte. Es hatte auch etwas mit verschiedenen Schuldverschreibungen zu tun, die dann null und nichtig wurden, während andere Anleihen verlängert wurden, wenn der Weinberg und meine Person (die man zu Monsieur Villasse' Ärger nicht voneinander trennen konnte) in seinen Besitz übergegangen wären. Doch ich habe noch nie behauptet, ich verstünde etwas von Geld. Dieses Thema schickt sich nicht für eine Dame, und eine Dame sollte sich tunlichst nicht darum kümmern.
Und dennoch zwingt uns Geld, auch wenn es noch so vulgär ist, daß wir uns mit ihm beschäftigen. Man stelle sich beispielsweise mein Erstaunen vor, als ich – begleitet von berittenen Bediensteten – meinem geliebten Saint-Esprit den Rücken kehren mußte und ich, als wir in Richtung unseres ländlichen Herrenhauses in La Roque-aux-Bois ritten, entdeckte, daß unser vornehmer und geräumiger Familienwohnsitz innerhalb der Stadtmauern an einen aufstrebenden italienischen Kaufmann verpachtet worden war! Das Stadthaus meines Großvaters, die Galerien, durch die meine Mutter als Kind getobt war, ausgerechnet die Räume, die mein erstes kindliches Geplapper gehört hatten, jetzt widerhallend von brabbelnden fremdländischen Stimmen, dem Klirren von Geld und dem Feilschen der Käufer! Warum nicht gleich an einen Pfandleiher oder ein Hurenhaus vermieten? Tiefer konnte man kaum sinken.
Doch einem feinsinnigen Gemüt bieten sich selbst unter veränderten Bedingungen stets neue Gelegenheiten, auch wenn das bedeutete, jahrein, jahraus auf einem Gut zu wohnen, das sich eher für einen angenehmen Aufenthalt während der Sommermonate eignete. Ein Zyklus von Naturlyrik, dachte ich, den jeweiligen Jahreszeiten zugeordnet. Und ich könnte eine botanische Sammlung anlegen und einheimische Kräuter zeichnen. Statt meinen durch meine Abgeschiedenheit geschmälerten gesellschaftlichen Pflichten nachzutrauern, könnte ich die Fäden meines ungemein erbaulichen, wenn auch nicht vollendeten Projektes wieder aufnehmen, eines Werkes mit dem Titel Ein Dialog der Tugenden, in welchem die Überlegenheit wahrer Enthaltsamkeit, demütiger Hingabe und die Vortrefflichkeit des christlichen Glaubens in seiner Gänze von einer Dame dargelegt werden. Natürlich hatte ich nicht vor, meinen Namen auf diesem Manuskript preiszugeben, denn eine Dame aus guter Familie muß stets anonym bleiben, wenn sie zur Feder greift, wie Schwester Céleste uns zu ermahnen pflegte. Ich hatte jedoch gar nicht vor, anstößig zu handeln und es tatsächlich drucken zu lassen. Nein, der Erfolg einer privaten Lesung, der rauschende Beifall eines ausgesuchten cénacle würden mir völlig genügen…
Und während ich meine Gedanken in diese Richtung schweifen ließ, ritt ich bereits durch das große Tor unter dem Taubenschlag auf unseren Gutshof, der von nun an unser Ganzjahresdomizil sein würde. Beim Absitzen kam mir der Gedanke, wieviel schöner doch der cour d'honneur sein könnte, wenn man die Hühner entfernen und vom Eingang bis zum hinteren Ende des staubigen Hofes Pflaster legen würde. Doch kaum trat ich durch die Haustür in die salle, da konfrontierten mich auch schon Vater und Monsieur Villasse am Tisch unter dem hinteren Fenster mit den Verlobungsdokumenten, die meiner Unterschrift harrten. Mutter, meine Schwestern und das Hausgesinde drängten sich stumm hinten in der Diele, so als wohnten sie einer Beerdigung bei.
Villasse wirkte etwas größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, sein Gesicht war noch faltiger, seine kalten grünen Augen noch berechnender. Ich muß gestehen, daß mich eine kurze Beklemmung überfiel: Seine Ländereien waren so abgelegen, und es fehlte ihnen bekanntermaßen an den kleinen kultivierten Annehmlichkeiten, wie sie einer Dame meines zarten und empfindsamen Naturells gebühren. Außerdem gingen Gerüchte über den Tod seiner zweiten Gattin um, die ich zuerst von Matheline, meiner Base zweiten Grades, gehört hatte, die ihren Mangel an geistigen Gaben durch eine eindeutig weltliche Vorliebe für Klatsch und Tanz wettmacht. Nein, Villasse hatte zwar den Titel Monsieur de La Tourette erworben und war daher ein annehmbarer Ehemann, aber dennoch wirkte er nicht wie ein Mann, den man möglicherweise lieben lernte.
»Worauf wartest du noch? Unterschreibe. Da liegt die Feder«, befahl mein Vater im brüskem Ton eines capitaine der leichten Kavallerie im Ruhestand, der das Befehlen gewohnt war. Doch von uns Frauen, die wir nicht im Heer gedient haben, kann niemand verlangen, daß wir unsere zartbesaiteten Seelen einer barschen, ungehobelten Sprache beugen.
»Hier steht nichts über das Datum der Vermählung«, entgegnete ich.
»Die findet auf der Stelle statt; das Aufgebot ist bereits ausgehängt«, sagte mein Vater.
»Oh, das dürfte nicht möglich sein; da bleibt ja kaum Zeit, mir ein Schlafgemach in La Tourette einzurichten, ganz zu schweigen von all den kleinen Annehmlichkeiten, die eine Dame von Stand braucht.«
Villasse' Augen wurden ein wenig schmal, doch er fragte ausnehmend höflich: »Und wieviel Zeit würdet Ihr dazu benötigen, Demoiselle Sibille?«
»Oh, dafür so gut wie gar keine. Ich hoffe doch, das wird hier aufgeschrieben. Auch mir ist es sehr unlieb, den freudigen Augenblick hinauszuzögern; doch man muß auch an unser künftiges Glück denken. Darauf gilt es sich vorzubereiten.«
»Vorbereiten? Wie lange?«
»Also, ich muß meine Aussteuer, mein Brautkleid bestellen. Und dann die Bettvorhänge und die Bettwäsche. Und ich muß Eure Bibliothek durchsehen und mir jene Werke religiösen Trostes schicken lassen, die das weibliche Geschlecht nicht missen kann. Sechs Monate mindestens, bedenkt man die Zeit, die das Heranschaffen der Bücher erfordert.«
»Religiöse Bücher?« fragte Villasse, und an dem Faltenwurf seines Gesichtes waren die vielfältigsten Gefühle abzulesen. Ich warf meiner Mutter einen Blick zu, doch diese verharrte steif, bleich und stumm. Ich meinte jedoch, in ihren Augen ein Funkeln zu sehen.
»Ich habe Euch doch gesagt, daß sie gebildet ist«, meinte mein Vater.
»Ein Fehler. Glücklicherweise ist er Euch bei Euren anderen Töchtern nicht noch einmal unterlaufen.«
»Eine Marotte meiner Schwester. Sie schien besser fürs Kloster geeignet.« So drückte mein Vater in der Regel aus, daß er mich zu häßlich zum Heiraten fand. Und natürlich können die Jüngeren nicht heiraten, ehe die Älteste nicht unter der Haube ist. Als meine Tante Pauline, meine Patin, anbot, für meine Ausbildung zu zahlen, ergriff Vater die Gelegenheit, mich loszuwerden, mit beiden Händen. Ich spürte, wie sich mein jungfräuliches Antlitz rosig verfärbte. Nur weil der Geber aller guten Gaben der Meinung war, daß ein Übermaß an kühnem Schöpfergeist in meinem Fall einen gewissen Mangel an körperlichen Reizen wettmachte, hieß das noch lange nicht, daß man das an diesem bedeutsamen Tag in meinem Leben auch laut äußerte. Es stimmt schon, daß mich Mädchen, die auf meine Größe und knochige Statur anspielen wollten, gelegentlich ›Staubwedel‹ nannten; aber die waren schlicht neidisch auf meinen üppigen Schopf lockiger, wenn auch zuweilen widerspenstiger Haare, auf meine ausnehmend großen dunklen Augen und vor allem auf meine wunderschöne Singstimme. Außerdem war ich gewißlich hübsch genug für eine dritte Frau von Thibauld Villasse, dem es, wie ich schon sagte, nicht nur an Jugend und männlicher Schönheit, sondern auch an geistiger Bildung mangelte.
»Aha, du weigerst dich zu unterschreiben?« sagte mein Vater jetzt etwas drohend. Ich meinte zu hören, wie meine Schwester Laurette die Luft anhielt, konnte sie jedoch nicht sehen, weil sie im Schutz des riesigen geschnitzten Schrankes stand.
»Oh, um keinen Preis der Welt. Ich will nicht mehr, als Euch glücklich zu wissen, und sehne den freudigen Tag meiner Vermählung herbei. Aber ich weiß, daß es Monsieur Villasse danach verlangt, mich willkommen zu heißen, wie es sich für einen Mann seines Ranges geziemt, genau so wie es mich nach nichts anderem verlangt, als sein Haus und seine Person glücklich zu machen.« Mein Vater verdrehte die Augen, als wollte er sagen, was zum Teufel soll das nun wieder heißen, und ich lächelte ein zufriedenes Lächeln.
Als Villasse dieses Lächeln sah, strahlte er mich an und säuselte: »Fürwahr, lassen wir den Advokaten einen Nachtrag erstellen mit der Bedingung, daß Ihr das Datum unserer Vereinigung jederzeit beschleunigen könnt, falls es Euch so beliebt.«
»Ihr gebt nach? Dickköpfige Mädchen sollten die Peitsche zu spüren bekommen, sage ich. Und es gibt kein dickköpfigeres und launischeres als Sibille. Ein schlechter Anfang, Monsieur Villasse.«
»Meine Braut verdient jeden Respekt. Demoiselle, wenn die frommen Bücher eingetroffen sind, mögt Ihr mir in Euren Mußestunden daraus vorlesen.« In Vaters Blick lag Entsetzen, während Villasse ihm ein strahlendes Lächeln schenkte. Der Advokat kratzte etwas. Ich unterschrieb. »Wein zur Feier unseres Bundes«, sagte mein Verlobter mit seidenweicher Stimme, und Mutter nickte und lächelte ein blasses Lächeln. Während ich ein Schlückchen trank und die anderen sich zuprosteten, gab ich mich den herrlichsten Illusionen hin.
In sechs Monaten kann sich unendlich viel ereignen, dachte ich, als ich den Giardino dei Pensieri auf dem großen Himmelbett auslegte, das ich mit meinen Schwestern teilte. Ach, hätte ich doch wie Pénélope eine unendliche Tapisserie, die ich nächtens wieder aufreifeln könnte, seufzte ich innerlich, während ich die Karten auslegte. Laß sehen, dachte ich, der Mai ist fast dahin, bleiben noch Juni, Juli, August, September, Oktober. Das ist eine ganze Ewigkeit. Außerdem machte nicht nur meine botanische Sammlung gute Fortschritte, sondern auch meine Zeichnungen von Flügelknochen verschiedener Vögel, mittels derer ich das Geheimnis des Fliegens entschlüsseln wollte.
»Aha, das bist du, Laurette. Die Münzen-Vier. Das bedeutet Geld – mit etwas Geduld-, da bin ich mir sicher. Das müssen wir nicht einmal nachschlagen, das weiß ich aus dem Buch.« Unter dem Bett kaute und knirschte es genüßlich. Gargantua, groß von Körper, jedoch klein von Hirn, verspeiste einen Ochsenknochen. Als Jagdhund wie auch als Wachhund nutzlos, war er zum Schoßhündchen geboren, doch leider fraß und wuchs er unentwegt. Niemand wußte, wann er aufhören würde. Doch er war ein treu ergebenes Geschöpf, daher erlaubte Mutter nicht, daß Vater ihn abschaffte.
»Ach, wie schön ist es, gebildet zu sein«, seufzte Françoise, die gerade erst zehn geworden war.
»Haben dir die Nonnen das Kartenlegen beigebracht?« fragte Isabelle, sie war zwölf und hielt nichts von Nonnen.
»O nein, Nonnen glauben nicht an Karten. Die sind im Kloster streng verboten. Aber schließlich wissen sie nicht alles, oder? Kuchen und Schoßkätzchen und Karten, alles findet den Weg ins Kloster.« Ich griff nach dem Kartenbuch und blätterte darin. »Dominique hat mir ihr Spiel geschenkt, als sie der Welt entsagte. Und Base Matheline hat mir letztes Jahr ihr Buch überlassen, als sie sich verheiratete. Ihr Mann hat nichts für Kartenlegen übrig.«
»Ich habe sie zwei Tage vor unserem Umzug auf dem Weg zur Kathedrale gesehen«, verkündete Laurette, die mit ihren achtzehn Jahren die schönste unter uns Töchtern war. »Sie hat ein weißes, schmuckes Pferdchen geritten, und hinter ihr kam ein Stallbursche in Seidenlivree. Sie soll sich sehr reich verheiratet haben.«
»Eine Dame redet niemals über Geld«, erwiderte ich. »Das zeugt von niedrigem Geist.«
»Also wirklich, Schwesterlein, du hast einfach keinen Sinn für die Wirklichkeit«, widersprach Laurette. »Was kannst du schon ohne Geld anfangen: nicht einmal rumsitzen und in den Tag hinein träumen oder Verse kritzeln, was dir ja das liebste ist. Was mich betrifft, so bekenne ich mich lieber zu einem niedrigen Geist und verzichte auf die hehren Gefühle. Sag mir lieber, daß ich reich und Herrin eines großen Hauses sein werde, in dem ich zwei, nein, besser drei Bälle die Woche gebe. Und ich möchte Schmuck und Pferde haben, die mir ganz allein gehören.« Ich seufzte. Nicht nur, daß ich anders aussehe als meine Schwestern, ich will nicht einmal die gleichen Dinge haben. Schmuck ist hart und kalt, doch die Dichtkunst wärmt das Herz. Lieber möchte ich die Flamme der Inspiration in meinem Busen verspüren, als mit dem König höchstpersönlich zu tanzen.
Man kann schwerlich die Qualen einer feinsinnigen Seele beschreiben, die in die völlig falsche Familie hineingeboren wurde. Und dabei hätte der Allmächtige durchaus Gewinn davon gehabt, wenn er mich in einer vornehmeren und mir entsprechenden Umgebung untergebracht hätte. Gern hätte ich meinen Platz als Älteste – Weinberg hin Weinberg her – geopfert, wenn ich als einzige Tochter eines adligen Philosophen oder eines Doktors der Theologie aus gutem Hause auf die Welt gekommen wäre, statt in der ausufernden Familie eines patriotischen Kriegers eine von vielen zu sein. Ja, die Gottheit war so großzügig hinsichtlich Verwandtschaft gewesen, daß die Ländereien meines Großvaters väterlicherseits unter so viele aufgeteilt wurden, daß keiner davon so leben konnte, wie es die Ehre und unser altehrwürdiger Name erforderten. Von dieser Seite hatte nur Tante Pauline Geld, und das war erheiratet, sie hatte Rang und Glück dafür geopfert. Seither war sie für Vater gestorben, doch erachtete er ihre milden Gaben aus dem »Grabe« weniger gering als ihre Person.
Bei uns war Mutter die Erbin gewesen, und sie hatte meinem Vater mehrere Güter, einen Weinberg mit einer Quelle und einem verfallenen Turm sowie das Stadthaus meiner Großeltern eingebracht. Doch ihre üppige Mitgift, abgesehen von La Roque-aux-Bois, fiel Vaters Verschwendungssucht zum Opfer. Nur dank Großvaters weiser Voraussicht war der Weinberg mir, dem ersten Kind – ganz gleich ob männlichen oder weiblichen Geschlechtes – vermacht worden, während ich noch im Schoße meiner Mutter ruhte. Vermutlich dachte er, Mutter würde die Geburt nicht überleben oder zumindest keine Kinder mehr bekommen, da sie unter einer Krankheit litt, die bereits ihren Bruder dahingerafft hatte. Großvater hatte das kleine Erbe rechtlich so gut abgesichert, daß es nicht von meiner Person zu trennen war. Ein eigenartiges Geschenk, eines, das mich nun von meiner wahren Berufung als Dichterin abhalten und mir statt dessen die Verlobung mit einem ungehobelten Klotz mit gekauftem Titel einbringen sollte!
Doch das Geschrei von Fremden und das Geräusch von Pferdehufen auf dem Hof störten mich in meinen Betrachtungen über die Wege des Schicksals. Sogar Träumen und Nachdenken muß man in einem Haushalt voller Barbaren hintanstellen.
»Sieh mal, wer da auf dem Hof ist.«
»Annibal! Er ist zurück und hat Gäste mitgebracht!«
»Die Pferde, Sibille. Sind die schön. Komm, sieh dir das an!«
Wir drängten uns am Fenster im ersten Stock, und unten bot sich ein prächtiger Anblick. Sechs bewaffnete Fußsoldaten begleiteten ein riesiges graugeschecktes Schlachtroß, das zwei Pferdeknechte am silberverzierten Zügel führten. Seine Ohren waren im militärischen Stil gestutzt, seine Mähne war abrasiert, und es war gut drei Handspannen größer als alle anderen Reitpferde des Trupps. Le Vaillant – so hieß das Schlachtroß, wie wir später erfuhren – wurde gefolgt von einem berittenen Pferdeknecht, seinem Ausbilder, und an der Spitze des Zuges ritten zwei Offiziere: Annibal in seinem kurzen bestickten Umhang, mit flachem Barett, Feder und hohen Stiefeln, und ein Fremder, dessen Pferd sogar noch prachtvoller und dessen Kleidung noch eindrucksvoller war als Annibals.
»Annibal, Annibal!« riefen die kleine Renée und Françoise, und da blickte er hoch und winkte. Der Fremde tat es ihm nach. Noch nie hatte ich einen so ritterlichen Mann gesehen: Sein Gesicht war schmal, zartknochig und aristokratisch; ein prächtiger dunkler Schnurrbart betonte seine selbstsichere Haltung und elegante Erscheinung. Sein Blick war der eines Adlers.
»Oh, wer ist denn das?« seufzte Isabelle.
»Ah, ich habe mich schon fast in ihn verliebt«, sagte Laurette.
Was mich anging, so war ich eine verlobte Frau und gestattete mir nicht, überhaupt etwas zu denken.
»Und als Monsieur de Damville hörte, daß Le Vaillant zum Verkauf stünde, hat er uns mit dem Kauf für seinen Vater, den Konnetabel, beauftragt.« Annibal stieß sein Messer in die Taubenpastete und schnitt sich noch ein Stück ab. »Hmm, schmeckt köstlich, es geht doch nichts über Hausmannskost.«
»Annibal, warum hast du mir nie erzählt, daß deine Schwestern allesamt Schönheiten sind?« Der Fremde hob seinen Weinbecher und warf Laurette einen so vielsagenden Blick zu, daß sie errötete.
»Monsieur d'Estouville, falls Ihr noch ein paar Tage bleibt, werdet Ihr die Jagd in der Gegend hier hervorragend finden…«, sagte Vater, der milde gestimmt war.
»Annibal, bleib doch ein wenig länger«, bat Mutter. »Dieser Tage bekommen wir dich kaum noch zu sehen.«
»Annibal, seiner Mutter sollte man keine Bitte abschlagen«, sagte sein Freund und bedachte erst Mutter, dann Vater mit einem Lächeln. »Das ist aber mal ein schönes Stück da an der Wand. Italienisch, nicht wahr?«
»Aus der Schlacht von Landriano. Habe sie einem Spanier abgenommen.«
»Das waren noch Zeiten, erzählt man. Und mit einem neuen Radschloß. Eine große Verbesserung. Mein Vater hat mir immer erzählt, wie die Arkebusiere ihre Hakenbüchsen auf Ständer gelegt, die Zündschnur angezündet und sich dann abgewandt haben aus Angst, die Dinger könnten explodieren, statt auf den Feind zu schießen.«
»Ein guter Mechanismus, aber heikel. Die Arkebuse da muß mindestens einmal im Monat gesäubert werden, vor allem bei feuchtem Wetter, und das würde ich keinem meiner Diener anvertrauen.«
Gewehre, Jagd. Die langweiligen Beschäftigungen eines barbarischen Gemüts, dachte ich. Fehlen nur noch Hunde oder Falken.
»Eure Bulldogge da… Eine so große habe ich mein Lebtag nicht gesehen. Habt Ihr sie schon einmal auf Bären angesetzt?«
»Gargantua und Bärenjagd? Er ist das nutzloseste Geschöpf, das Gott je erschaffen hat. Tut nichts anderes als fressen und wachsen. Ihr könnt mir glauben, der würde sogar vor einem Kaninchen Reißaus nehmen, ganz zu schweigen von einem Bären. Ich hätte ihn schon längst ertränkt, wenn meine Töchter nicht heulen und wehklagen würden.«
»Oh, wer möchte diese reizenden Demoiselles auch nur einen einzigen Augenblick unglücklich machen.« Der charmante Fremde warf uns ein gewinnendes Lächeln zu.
»Wir können wirklich nicht noch länger bleiben«, warf Annibal ein.
»Ich habe einen neuen Wanderfalken, den ich auf Enten ansetzen möchte. Mögt Ihr die Falkenjagd, Monsieur d'Estouville?«
»Das könnte mich locken. Schließlich dürfen wir Le Vaillant nicht durch Gewaltmärsche ermüden, oder? Ein weiterer Tag. Sagt, welches Federspiel verwendet man in dieser Gegend des Landes?«
»Für die Falkenjagd am Bach? Wildentenflügel, nichts als Wildentenflügel. So haben es schon mein Vater und mein Großvater gehalten.«
»Ausgezeichnet! Also, Annibal, dein Vater hat mich in Versuchung geführt, noch einen Tag zu bleiben. Die Enten – und dann dieser herrliche Wein. Woher stammt er, sagt Ihr?«
»Von meinem Weinberg, südlich von Orléans gelegen – in Wirklichkeit gar nicht so weit von Blois. Bester Boden.«
»O ja, den Boden kann man immer herausschmecken.«
»Und die Sonne. Das Wetter ist in diesem Jahr prächtig für Trauben gewesen. Sicherlich ein außergewöhnlicher Jahrgang. Ich freue mich schon darauf, wenn der Großteil erst hier im Keller ist…«
»Dank Sibille«, sagte Annibal und lachte.
»Und ihrer religiösen Inbrunst. Nein, das ist ein Familienwitz. Sagt, welcher Vogel läßt sich nutzbringender ausbilden, einer mit gutem Körperbau und schlechtem Gefieder oder einer mit schlechtem Körperbau und gutem Gefieder?«
»Es gibt Leute, die lassen sich durch das Gefieder täuschen, aber ich würde den Vogel mit dem guten Körperbau vorziehen. Er hat mehr Standvermögen.«
»Ich hatte einmal einen, der hat Enten schlicht verweigert. Sah zudem auch nicht gerade gut aus. Den habe ich einem Nachbarn verkauft, der mit ihm geliebäugelt hat und dachte, er könnte ihn ausbilden. Beim ersten Mal blieb er hocken; beim zweiten Mal ist er abgezischt und nie zurückgekehrt. Das war Monsieur de La Tourette, habt Ihr schon von ihm gehört?«
»La Tourette? Liegt das in der Grafschaft? Wie lautet der Familienname?«
»Villasse.«
»Villasse. O ja, ähem…«
Meine üppig blühende Phantasie malte sich den kleinen Wanderfalken aus, wie er über Villasse kreiste und kreiste, und der saß auf seinem Pferd und befahl den Vogel zuerst mit dem Handschuh zurück, dann brüllte er wutentbrannt, während der Vogel merkte, daß ihn nichts mehr zurückhielt und selig in die Freiheit entfloh. Den Rest der Unterhaltung hörte ich nicht mehr, bis Annibal sagte: »Sibille, Sibille, du kommst doch mit, ja?«
»Was? O ja«, antwortete ich gedankenverloren.
»Wie schön, daß uns die Damen begleiten wollen«, sagte d'Estouville und schenkte mir ein ausnehmend hinreißendes Lächeln. Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu.
Wir waren noch auf der Jagd, als Villasse' Brief bei Mutter abgegeben wurde. Ich stellte mir vor, wie sie die Hand aufs Herz legte, als er eintraf, und ein wenig blaß wurde. Doch da platschten wir gerade im leichten Galopp durch die Binsen am Teich und erschreckten die Enten, daß sie aufstoben, wo die bereits freigelassenen Falken auf sie warteten und munter kreisten, bis ihnen die Beute zugetrieben wurde. Funkelndes Wasser spritzte nach allen Seiten, Laurette lachte und bekam rosige Wangen, und Annibal zeigte in den hellblauen Himmel über uns.
»Seht mal, er hat eine.« Vaters Wanderfalke stürzte jählings hinab, packte eine Wildente mit den Krallen, und beide schlugen unter Gequake und Flügelschlagen im Wasser auf.
»Habe ich nicht gesagt, daß er kühn ist«, sagte Vater und ritt ins Wasser, um den Wanderfalken zu retten, der die noch lebende Ente nicht loslassen wollte.
Sonnenschein glitzerte auf den Blättern der Bäume jenseits des binsenumstandenen Teiches. Die Enten kehrten bereits zum Wasser zurück, jedoch weit entfernt von unseren Pferden, wo sie vor den Wanderfalken sicher waren. Wie im Traum sah ich Annibal seinen Vogel aufnehmen, der unter Federgestöber und schnellem Flügelschlag eine Ente zur Erde geholt hatte, die sich mit aller Kraft wehrte.
»Das ist aber mal ein lieber kleiner Vogel«, sagte der Fremde und holte mit mir auf, während seine Augen mir einen schrägen, vielsagenden Blick zuwarfen. Irgendwie kam es mir so vor, als redete er gar nicht über Vögel. Ich senkte den Blick, und mein Gesicht glühte. »Sie steigen auf und treffen auf Gewalt, und der Schwächere wird in einem Kampf auf Leben und Tod zur Erde gezwungen, seine schönen Federn werden zerrupft und verteilen sich mit dem Lebensblut auf dem Wasser.« Da empfand ich eine gewisse Bangigkeit. »Der Tod hat etwas Sinnliches, findet Ihr nicht auch?« sagte er. Seine Stimme war sanft und einschmeichelnd. Er war so dicht aufgeritten, daß ich seinen Duft wahrnahm, der sich mit Pferdeschweiß und Leder vermischte. Dabei wurde mir bange ums Herz. Etwas in meinem Inneren erzitterte.
»Mein Bruder ist ein ausgezeichneter Falkner«, sagte ich.
»Das bin ich auch«, entgegnete er in diesem ganz eigenen Ton, der allem einen Doppelsinn verlieh. Er musterte mich, dann gab er seinem Pferd die Sporen und gratulierte Annibal. Auf einmal verabscheute ich mich, dachte, o Sibille, wie konntest du nur, du, der es gegeben ist, sich gewählt auszudrücken, die du einen so hellen Kopf hast, du hast jämmerlich versagt, hast nichts Witziges erwidert, nichts Leichtes und Charmantes, damit er noch länger an deiner Seite bliebe und sich mit dir unterhielte. Auf Papier strömen deine Worte wie ein glitzernder Wasserfall, im Leben bist du stumm wie ein Fisch.
»Ein Tag, wie er im Buche steht«, hörte ich ihn zu Annibal sagen, während wir an den grünen Halmen des wachsenden Weizenfeldes, den sich wiegenden Pappeln, den Bauernkaten mit ihren kleinen Gemüsegärten vorbei- und auf die Spitzdächer des Gutes zuritten. Die Brise verwehte die Antwort meines Bruders. Doch als wir durch die Gutstore klapperten, hörte ich d'Estouville sagen: »Du bist ein Glückspilz, Annibal, wirst von all diesen gutaussehenden Schwestern verwöhnt.« Wie schön seine Gestalt hoch zu Roß war, als wären Tier und Mensch eins, und sein Rücken war gerade wie eine Schwertklinge. Wieder warf er mir dieses hinreißende, vielsagende Lächeln zu. Wie blendend der Blick seiner bernsteinfarbenen Augen. Wie verwegen und bezaubernd und, Gott steh mir bei, wie jung und lebendig er mir vorkam, verglichen mit Thibauld Villasse. Doch zwischen uns standen Rang und Gunst, die Forderungen der Familie, guter Ruf und Ehre. Wenn ich es doch nur wagen würde…
Er hatte sein Pferd angespornt und ritt jetzt neben Laurette, erzählte ihr einen Witz, und sie lachte. Ich sah, wie er verstohlen einen Blick auf ihre hübschen Knöchel warf, denn es war ihr gelungen, sie zu entblößen. Sie ritt im Damensattel und hatte ihre niedlichen, zarten Füße wie zwei Kleinodien auf das buntbemalte Brett gestellt, das an der linken Seite ihres Sattels festgeschnallt war. Ich sah, daß sie ihr bestes Paar grüne Strümpfe angezogen hatte. Und wie hatte sie es nur geschafft, daß sie so stramm anlagen? Ich blickte zu meinen eigenen großen, knochigen Füßen hinunter. Verräter, dachte ich. Deine Beine will niemand in Strümpfen sehen, wie hoch du auch immer die Röcke schürzt. Vielleicht ist Villasse ja alles, was du verdienst.
Man stelle sich nur die trübselige Gemütsverfassung vor, in der ich abstieg, sie stand ganz und gar im Gegensatz zu dem prachtvollen, roten Sonnenuntergang, als Mutter uns an der Tür mit dem unerwünschten Brief empfing, der mich an mein drohend bevorstehendes Schicksal gemahnte. Villasse hatte geschrieben, daß er bei einem Buchdrucker in Lyon ein ganzes Inventar an religiösen Büchern mit leuchtenden Initialen erworben und neue Vorhänge für unser Brautlager erstanden habe. Da es mir nun nicht mehr an persönlichem und spirituellem Trost ermangele, sähe er keine Veranlassung, das freudige Ereignis unserer Vermählung weiter hinauszuschieben.
»Er hat eine Liste der Bücher beigelegt, Sibille. Er scheint ziemlich viele gekauft zu haben«, sagte Mutter und reichte mir den Brief. O je, da waren sie aufgezählt, fromme Predigten, Werke der Kirchenväter, ein Meßbuch, ein Stundenbuch.
Ich hatte geglaubt, er würde länger dazu brauchen, alles aufzutreiben. Er mußte seinen Schreiber sofort losgeschickt haben.
»Aber… aber meine Aussteuerwäsche ist noch nicht fertiggestickt«, stammelte ich.
»Recht so, meine gute Tochter«, sagte Vater lachend und schlug sich auf die Schenkel. »Zögere die Hochzeit ruhig die ganzen sechs Monate hinaus, dann habe ich den Wein dieses Jahres wohlbehalten im Keller, ehe das Brautlager warm ist!« Als Annibal dem schneidigen Philippe d'Estouville diesen Witz erklärte, errötete ich vor Scham, und verräterische Tränen stiegen mir in die Augen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als daß der Gast ging – und mit ihm jedes Andenken an meine Schmach.
An diesem Abend spielten wir nach dem Essen Tricktrack, und später sangen wir am Tisch mehrstimmig Lieder. Doch die schreckliche Niedergeschlagenheit, die ich verspürte, drückte mir das Herz ab, so daß ich kaum einen Laut über die Lippen brachte. Ich war so bekümmert, daß ich mich nicht einmal anbot, die ersten Seiten aus meinem Dialog zu lesen, obgleich diese beim letzten literarischen Zirkel meiner Base Matheline so begeistert aufgenommen worden waren. Die künstlerische Leere wurde jedoch von Laurette gefüllt, die sich die goldenen Locken um den Finger wickelte, während sie sang, und an den Lippen des Fremden hing, als er vom Hofleben, von Politik und Günstlingswirtschaft in M. de Damvilles Kreisen erzählte und seine zwölf berüchtigten Duelle, bei denen er noch jeden Gegner getötet hatte, Stoß für Stoß schilderte.
»Ich habe nämlich große Schwierigkeiten bei Hofe… Allzu viele Damen finden mich anziehend… Ihre Ehemänner sind ja so eifersüchtig, aber nach jedem Ehrenhandel strömen die Damen in noch größerer Zahl herzu. Und so bewirkt meine Klinge mehr, als sie beendet…«
»Natürlich, o ja, wie furchtbar, derlei Leute ertragen zu müssen«, sagte Laurette, während er sie mit seinen lodernden Augen musterte und die Wirkung seiner Worte abschätzte.
Am folgenden Tag, als Le Vaillant, gestriegelt und ausgeruht, von seinem Gefolge aus Pferdeburschen, Ausbilder und militärischer Eskorte durch das Hoftor geführt wurde, standen wir auf der Freitreppe und winkten, dann liefen wir ins Turmzimmer, um einen letzten Blick auf den Zug zu erhaschen, auf Annibals bunten Umhang und die elegante Gestalt des Fremden, bis wir sie auf der staubigen Landstraße aus den Augen verloren.
»Sibille, hol deine Karten und erzähl mir etwas über Philippe«, sagte Laurette, als sie verschwunden waren.
»Er wird einmal Ländereien in der Pikardie und Normandie erben, und er ist nichts für dich«, sagte ich ziemlich grausam. »Dazu brauche ich keine Karten.«
»Aber ich bin mir ganz sicher, daß er mich mag«, erwiderte sie. »Warum bist du nur so eifersüchtig? Du hast doch schon einen Ehemann.«
»Ich weise nur auf die Wahrheit hin. Ein Mann seines Ranges heiratet kein Mädchen ohne Mitgift.«
»Du brauchst dich gar nicht so aufzuspielen, nur weil Großvater dir einen Besitz hinterlassen hat. Das hätte er auch für mich getan, wenn ich vor seinem Tod geboren wäre. Und wenn Tante Pauline stirbt und Vater wieder zu Geld kommt, dann haben wir alle eine reichliche Mitgift. Er hat gesagt, ich hätte wunderschöne Augen. Schönheit zählt nämlich auch.«
»Dann rechnest du also mit Tantchens Ableben. Woher weißt du eigentlich, daß sie nicht alles der Kirche vermacht?«
»Ach! Du bist einfach gräßlich«, schluchzte Laurette und stürmte wutentbrannt die Turmtreppe hinunter. »Ich habe Besseres zu tun.« Ihre Stimme verwehte, als sie verschwand. Und ich Schlechteres, dachte ich, legte den Kopf auf die Fensterbank und weinte.
Eine gute Woche später stählte ich meine armen Nerven für einen Brief an Villasse, in dem ich ihm erklären wollte, daß meine Aussteuer noch nicht vollständig sei und daß der für mein Brautkleid in Orléans bestellte Stoff auf sich warten ließe, als sich etwas höchst Ungewöhnliches ereignete. Ich saß an Vaters großem Schreibtisch und schlug mich mit dem Antwortbrief herum, als ein Diener in Livree am Hoftor eintraf.
»Aber Sibille«, sagte Isabelle, die sich über meine Schulter beugte und las, was ich gerade schrieb, »du bestellst ja gar keinen Stoff in Orléans. Du weißt doch, daß wir Mutters Brautkleid umarbeiten.«
»Das ist fast das gleiche. Ein Kleid umzuarbeiten dauert lange. Sehr lange. In Wirklichkeit länger, als ein neues zu fertigen. Außerdem willst du doch nicht, daß er denkt, seine Braut würde ihm nicht einmal die Ehre erweisen, ein neues Kleid zu tragen, oder?« gerade wollte ich mich der Wirkung dieser ungemein überzeugenden logischen Argumente auf ein Mädchen von zwölf Jahren versichern, die anderer Leute Briefe liest, als Françoise hereingestürzt kam.
»Sibille, Sibille! Tantchen hat ihren Lakai mit einem Hochzeitsgeschenk geschickt! Oh, wenn du seine schöne Livree siehst. Er trägt ein seidenes Wams in ihren Farben.« Ach, arme Sibille, dachte ich, das ist Galle und Wermut zugleich. Welch gräßliche Sünde hast du unbewußt begangen, daß dir Marter um Marter auferlegt wird?
»Dann laß einmal sehen, was für ein Geschenk dieser verrückten alten Person diesmal eingefallen ist«, sagte Vater, als er feststellte, daß der Lakai sein Paket niemand anderem als mir übergeben wollte.
»Da ist auch ein Brief von Madame Tournet«, sagte der Lakai und wich geschickt Vaters Zugriff aus.
»Na schön, dann lies ihn, lies ihn«, drängte Vater. »Hoffentlich hat sie dir Geld geschickt und nicht wieder so ein albernes Buch mit Gedichten.«
»Meine liebe Patentochter«, las ich laut vor. »Die Karten haben mir verraten, daß es Dir bestimmt ist, demnächst Dein Heim zu verlassen. Vergangene Woche habe ich auf dem Weg zur Messe Monsieur Villasse auf der Straße unweit Eures früheren Hauses gesehen und von einem Diener erfahren, daß Monsieur Dich ehelichen wird und daß dieser Tag nicht fern ist. Es sieht meinem Bruder ähnlich, mir das nicht mitzuteilen…« Bei diesen Worten unterbrach Vater höhnisch: »Glaubt die etwa, ich müßte ihr von all meinen Geschäften erzählen?«
»Aber Vater, gewiß könntet Ihr sie einladen…«
»Ich habe dir gesagt, ich möchte nicht, daß du sie jemals wiedersiehst, und das gilt für euch alle. Sie will doch nichts weiter, als euch zu sich in die Gosse ziehen, Schwester, pah! Meine Schwester ist tot!«
»Vater«, wandte Isabelle ein, »sie lebt ganz und gar nicht in der Gosse. Ihr Haus ist sehr groß, und es liegt im besten Viertel der Stadt.«
»Und ich hätte zu gern gesehen, wie es eingerichtet ist«, sagte Laurette.
»Ich verbiete euch, je einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Der Name Tournet darf in der Öffentlichkeit nicht über eure Lippen kommen.«
Doch ich las weiter: »Man hat mir zwar seit Deinen Kinderzeiten nicht erlaubt, Dich wiederzusehen, aber durch Annibal habe ich erfahren, daß Du Dich so entwickelt hast, wie ich es erwartet habe.«
»Warum darf Annibal sie sehen, wo sie doch meine Patin ist?« fragte ich. Und eine jähe Neugier veranlaßte mich, vom Brief aufzublicken.
Mein Vater hatte eine steinerne Miene aufgesetzt. »Annibal ist ein Mann«, sagte er. »Lies den Rest vor.«
»Tantchen hat ihm den schönen, schmucken Braunen gekauft, den er geritten hat. Das hat er mir erzählt«, zwitscherte Françoise dazwischen.
»Pssst«, mahnte Mutter und legte Françoise die Hand auf den Mund.
Ich las weiter. »Du mußt mein Geschenk immer bei Dir tragen, es soll Dir im Eheleben ein Trost sein. Lies darin, wenn Du allein bist. Es wird vieles lindern. Meine guten Wünsche begleiten Dich, was auch immer kommen mag. Ich bin wie stets Dein Dich liebendes Tantchen.«
Ich wickelte die gewachste Seide von dem Päckchen, das mir der Lakai reichte. Es war ein schlichtes, in Kalbsleder gebundenes Buch, das für seinen geringen Umfang eigenartig schwer war. Ich schlug es an einer beliebigen Stelle auf und erblickte einen schönen Stich unseres Herrn, umgeben von bewaffneten Söldnern, wie er von einem finster aussehenden Burschen geküßt wird, dessen boshafter Blick mich unangenehm an meinen Zukünftigen erinnerte. »Passio domini nostri iesu xpi secundum Johannem«, stand in roten Buchstaben darunter. Ein Stundenbuch, ein ungemein schickliches und sehr geschmackvolles Geschenk, wenn auch nicht so großzügig, wie ich es mir erhofft hatte.
»Ein Gebetbuch. Diese Frau ist wirklich zu jeder Heuchelei fähig«, empörte sich Vater, und ich war mir bewußt, daß er Geld erwartet hatte oder Brautgeschmeide. Werte, auf die er dann die Hände hätte legen und die er zu einem guten Zweck nach eigenem Belieben hätte verwenden können. Doch wie schön war das Buch gefertigt mit dem schlichten Kalbsledereinband, auch wenn ein paar bräunliche Flecken seinen Wert geringfügig schmälerten. Aber da war noch die Sache mit dem Gewicht. Ich drehte es hin und her und prüfte es erneut. Was soll dieses Gerede vom Alleinsein, dachte ich. Aber vielleicht ist es mehr als nur ein Tribut an mein zartbesaitetes Gemüt. Wenn ich allein bin, sehe ich mir den Buchrücken genauer an. Tante Pauline kennt Vater zweifellos besser als ich und hat vielleicht ein wenig Geld für mich in dem Buch versteckt. Bei längerem Nachdenken wollte mir scheinen, daß dieses Stundenbuch, auch wenn es im Zweifarbendruck war, falls man nicht mit Hand nachkoloriert hatte, ein etwas zu schlichtes Hochzeitsgeschenk darstellte. An dem Buch war ganz eindeutig mehr, als man ihm von außen ansehen konnte.
Doch meine Gedanken wurden jäh von Tumult und Geschrei unterbrochen. Mutter, die sich hinter Vater gedrängt hatte, weil sie mein Geschenk betrachten wollte, war in Ohnmacht gefallen.