18
Es ist Feuerwerksnacht in Plush, dachte Mary und starrte in die Dunkelheit des Kirchplatzes. Ein noch nicht entzündetes Freudenfeuer, das auf Tom wartet. Durch die Frontscheibe des geparkten Wagens blickte sie auf den leeren Musikpavillon und stellte sich vor, sie sehe die Letzten ihrer Familie, die sich samt Gefolge im alten Cricketpavillon drängten. Die gedämpften Schritte waren die Schritte der Wildhüter, die sich um Marys Bruder Sam bei dessen letzten Urlaub sammelten. Sie stellte sich vor, die Stimme ihres Bruders zu hören, für ihren Geschmack ein wenig zu exerzierplatzmäßig, noch angespannt von seinem Irlandeinsatz. »Tom?« ruft er. »Wo ist unser Tom?« – Nichts rührt sich. Tom steckt unter Marys Schaffellmantel, den Kopf an ihren Schenkel gepreßt, und höchstens Weihnachten könnte ihn hervorlocken. »Los, Tom Pym, du bist der Jüngste«, schreit Sam. »Wo ist er? – Nächstes Jahr bist du zu alt, das weißt du, Tom.« Dann die brutale Entscheidung. »Scheiß drauf, nehmen wir jemand anderen.« Tom schämt sich, die Pyms sind entehrt, Sam ärgert sich wie üblich, daß Tom keinen Geschmack daran findet, die Welt in die Luft zu sprengen. Ein tapferes Kind hält das Streichholz hin, und die Welt fängt Feuer. Die Armeegranaten ihres Bruders rasen in perfekten Salven darüber hin. Alle Leute sind klein beim Anblick des Nachthimmels.
Sie saß neben Brotherhood, und er hielt ihr Handgelenk, wie der Arzt es gehalten hatte, als sie ihren kleinen Feigling zur Welt brachte. Tröstlich. Beruhigend. Um ihr zu sagen: »Keine Sorge, ich bin da.« Das Auto war in einer Seitenstraße geparkt, und dahinter stand der Polizeikombi, und hinter dem Kombi schloß sich eine Karawane von ungefähr sechshundert Polizeiwagen und Funkwagen und Ambulanzen und Munitionswagen an, und alle ihre Insassen glichen Sam und sprachen lautlos miteinander, ohne die Augen zu bewegen. Hinter Mary war ein Süßwarenladen, der sich Sugar Novelties nannte und in dessen neonerleuchtetem Fenster ein Plastikzwerg einen mit verstaubten Bonbons beladenen Schubkarren schob, und daneben ein granitgraues Armenhaus mit der Aufschrift Stadtbücherei über einem Friedhofstor. Jenseits der Straße stand eine häßliche Baptistenkirche, die verkündete, auch Gott sei kein Spaß. Hinter der Kirche kamen Gottes Kirchplatz und Sein Musikpavillon und Gottes Araukarien, und zwischen dem vierten und fünften Baum von links, wie Mary zwanzigmal gezählt hatte, hing, dreiviertel der Strecke bergauf, ein erleuchtetes Bogenfenster mit geschlossenen orangefarbenen Gardinen, und dort, so belehrten mich meine Polizisten, befindet sich das Zimmer Ihres Gatten, Madam; allerdings ergaben unsere Nachforschungen, daß er hierorts unter dem Namen Canterbury bekannt und allgemein beliebt ist.
»Er ist immer beliebt«, fauchte Mary.
Aber der Police Superintendent hatte das zu Brotherhood gesagt. Er sprach durch Brotherhoods Fenster, wandte sich respektvoll an Brotherhood als an ihren Hüter. Und Mary wußte, daß der Superintendent Befehl hatte, so wenig wie möglich mit ihr zu sprechen, was ihm schwerfiel. Und daß Brotherhood sich selber die Aufgabe übertragen hatte, für sie zu antworten, wodurch der Superintendent sich der Gottheit so nahe zu fühlen schien, wie er wohl jemals gelangen würde, ohne daß ein Geschoß ihn in den Himmel katapultierte. Der Superintendent war ein Mann aus Devon, väterlich und von gewichtiger Gediegenheit. Ich bin so schrecklich froh, daß er von jemand aus Devon verhaftet wird, dachte Mary zynisch in Caroline Lumsdens Sloane Square-Tonfall. Ich finde, es ist so viel netter, wenn man von einem Landsmann verhaftet wird.
»Wollen Sie wirklich nicht lieber in den Pfarrsaal gehen, Madam?« sagte der Superintendent zum hundertsten Mal. »Es ist dort viel wärmer, und Gesellschaft hätten Sie auch. Internationale, wenn man die Amerikaner mitzählt.«
»Hier ist sie am besten aufgehoben«, knurrte Brotherhood.
»Nämlich, wir können dem Herrn leider nicht erlauben, den Motor anzustellen, wirklich nicht, Madam. Und ohne den Motor, da gibt’s auch keine Heizung, verstehen Sie.«
»Gehen Sie weg«, sagte Mary.
»Sie bleibt hier bei mir«, sagte Brotherhood.
»Nämlich, es könnte die ganze Nacht dauern, verstehen Sie, Madam. Und morgen auch noch. Wenn unser Freund bis zuletzt durchhält, sozusagen.«
»Das werden wir dann sehen«, sagte Brotherhood. »Wenn Sie sie brauchen, finden Sie sie hier.«
»Leider nicht unbedingt, Sir, sozusagen. Nicht, wenn wir stürmen, falls das nötig wird. Dann wird sie sich leider in eine sichere Stellung zurückziehen müssen, sozusagen, und Sie auch, Sir. Nämlich, alle anderen sind drin im Pfarrsaal, verstehen Sie. Und der Chief Constable sagt, daß alle Non-Kombattanten in diesem Stadium dort drin sein müssen, einschließlich der Amerikaner.«
»Sie will nicht bei den anderen sein«, sagte Mary, ehe Brotherhood sprechen konnte. »Und sie ist keine Amerikanerin. Sie ist seine Frau.«
Der Superintendent entfernte sich und kam fast sofort wieder. Er ist der Bote. Sie haben ihn wegen seiner Hausarzt-Manieren gewählt.
»Meldung vom Dach, Sir«, begann er schüchtern und bückte sich wieder zu Brotherhoods Fenster. »Bitte, kennen Sie zufällig genau Typ und Kaliber der Waffe, die unser Freund vermutlich in seinem Besitz hat?«
»Standard Browning .38 Automatic. Eine alte. Dürfte seit Jahren nicht mehr gereinigt worden sein.«
»Irgendwelche Theorien über die Art der Munition, Sir? Nämlich, weil es besser ist, wenn sie die Schußweite kennen, verstehen Sie.«
»Stumpfe Patronen, würde ich sagen.«
»Aber keine Stopper, zum Beispiel, oder Dumdum?«
»Warum zum Teufel sollte er Dumdum verwenden?«
»Ich weiß es auch nicht, Sir. Information in dieser Sache ist goldeswert, so wie damit geknickert wird, wenn ich so sagen darf. Hab schon eine Ewigkeit nicht so viele Austern auf einmal gesehen. Wieviel Schuß hat unser Freund, was meinen Sie?«
»Ein Magazin. Vielleicht eins in Reserve.«
Mary war plötzlich wütend. »Um Gottes willen! Er ist kein Irrer. Er richtet doch kein –«
»Kein was?« sagte der Superintendent, dessen Manieren darunter leiden konnten, wenn man ihm respektlos kam.
»Sagen wir, ein Magazin und eins in Reserve«, sagte Brotherhood.
»Gut, und vielleicht können Sie uns noch sagen, ob unser Freund ein guter Schütze ist«, meinte der Superintendent, als wolle er sich auf sicheren Boden begeben. »Man kann ihnen nicht übelnehmen, daß sie’s wissen möchten, wie?«
»Er wurde ausgebildet und hat sein Leben lang geübt«, sagte Brotherhood.
»Er ist gut«, sagte Mary.
»Wie wollen Sie das wissen, Madam, wenn ich mir eine einfache Frage erlauben darf?«
»Er schießt mit Tom um die Wette. Mit der Luftpistole.«
»Ratten oder so? Oder was Größeres?«
»Pappkameraden.«
»Aha. Und trifft ins Schwarze, wie, Madam?«
»Tom sagt, ja.«
Sie blickte Brotherhood an und wußte, was er jetzt dachte: Laßt mich einfach rein und ihn holen, Waffe oder nicht. Sie selber dachte ungefähr das gleiche: Magnus, komm raus und mach dich nicht so verdammt lächerlich. Der Superintendent sprach wieder, diesmal direkt zu Brotherhood.
»Wir haben da noch eine Anfrage, diesmal von unseren Einsatzleuten, Sir«, sagte er, als seien sie alle ein bißchen komisch, aber wir müssen sie bei Laune halten. »Was diese Vorrichtung, diese Box betrifft, die unser Freund bei sich hat. Ich hab’s bei denen im Pfarrsaal probiert, aber sie sind alle sozusagen ein bißchen über’s Technische erhaben, und sie sagen, ich soll Sie fragen. Unsere Jungens sehen ein, daß sie nicht zu viel darüber wissen dürfen, aber sie möchten gern von Ihrem Wissen profitieren, was die Ladung der Box betrifft.«
»Sie ist ein Selbstverbrennungs-Mechanismus«, antwortete Brotherhood. »Keine Waffe.«
»Ah, könnte aber als Waffe dienen, sozusagen, wenn jemand sie hat, der zum Beispiel nicht mehr ganz bei Verstand ist?«
»Erst wenn er jemand reinsteckt«, erwiderte Brotherhood, und der Superintendent lachte melodisch.
»Den werd ich den Jungens erzählen«, versprach er. »Einen Witz hören sie immer gern, die Jungens dort droben, löst die Spannung.« Dann fuhr er leiser fort, nur an Brotherhood gewandt: »Hat unser Freund je im Zorn seine Waffe benutzt, Sir?«
»Es ist nicht seine Waffe.«
»Ah, aber Sie haben meine Frage eigentlich nicht beantwortet, Sir.«
»Meines Wissens hat er sich nie den Weg freigeschossen.«
»Unser Freund wird nicht zornig«, sagte Mary.
»Hat er jemals jemand gefangengenommen, Sir?«
»Uns«, sagte Mary.
***
Pym hatte den Kakao gemacht, und Pym hatte Miss Dubber den neuen Schal umgelegt, obwohl sie sagte, ihr sei nicht kalt. Pym hatte das Hühnerteil für Toby kleingehackt, das er ihm im Supermarkt als Festschmaus gekauft hatte, und wenn Miss Dubber es zugelassen hätte, hätte er auch den Käfig des Kanarienvogels gereinigt; denn der Vogel war sein geheimer Stolz, seit jener Nacht, als er ihn, nachdem Miss Dubber schon schlafen gegangen war, tot aufgefunden und ohne ihr Wissen gegen einen lebendigen aus Mr. Lorings Tierhandlung vertauscht hatte. Aber Miss Dubber wollte nicht, daß er noch herumhantierte. Sie wollte, daß er sich zu ihr setzte, wo sie ihn im Auge hatte, und ihr Tante Als letzten Brief aus dem fernen Sri Lanka vorlas, der schon gestern gekommen war, Mr. Canterbury, aber Sie interessierten sich ja nicht dafür.
»Ist dieser Ali der Waschboy, der letztes Jahr ihre Spitzen geklaut hat?« unterbrach sie ihn scharf. »Warum beschäftigt sie ihn weiter, wenn er sie bestiehlt? Ich dachte, Ali seien wir längst los.«
»Hat ihm wohl verziehen«, sagte Pym. »Er hatte so viele Frauen, wenn Sie sich erinnern. Wahrscheinlich wollte sie ihn nicht auf die Straße setzen.« Seine Stimme erschien ihm sehr klar und schön. Es war gut, laut zu sprechen.
»Wenn sie bloß heimkommen wollte«, sagte Miss Dubber. »Die Hitze kann nach so vielen Jahren nicht gut für sie sein.«
»Ah, aber dann müßte sie ihre Sachen selber waschen, nicht wahr, Miss D.?« sagte Pym. Und sein Lächeln wärmte ihn, weil er wußte, daß es sie wärmte.
»Ihnen geht’s jetzt besser, wie, Mr. Canterbury? Ich bin so froh. Jetzt sind Sie’s los, was immer es war. Jetzt können Sie gründlich ausruhen.«
»Wovon?« sagte Pym freundlich und lächelte ihr zuliebe weiter.
»Was immer Sie diese ganzen Jahre hindurch getan haben. Sie können eine Weile jemand anderen für das Land sorgen lassen. Hat er Ihnen viel Arbeit hinterlassen, der arme Herr, der gestorben ist?«
»Das kann man wohl sagen. Es ist immer schwierig ohne eine ordentliche Übergabe.«
»Aber jetzt haben Sie’s ausgestanden, wie? Ich seh’s Ihnen an.«
»Erst, wenn Sie sagen, daß Sie diese Reise machen, Miss D.«
»Nur, wenn Sie mitkommen.«
»Ich kann doch nicht. Sagte ich doch schon! Ich hab keinen Urlaub mehr!«
Er hatte es lauter gesagt als beabsichtigt. Sie blickte ihn an, und er sah die Furcht in ihrem Gesicht, wie stets, wenn er sie dabei überraschte, wie sie ihn ansah, seit der grüne Aktenkasten angekommen war oder wenn er sie zu strahlend angelächelt und zu sehr verwöhnt hatte.
»Dann reise ich nicht«, erwiderte sie schroff. »Ich mag Toby nicht ins Gefängnis schicken, und Toby mag nicht ins Gefängnis, und wir machen’s auch nicht, um Ihnen einen Gefallen zu tun, wie, Toby? Es war sehr freundlich von Ihnen, aber bitte, sprechen wir nicht mehr darüber. Ist das alles, was sie schreibt?«
»Der Rest ist über die Rassenunruhen. Sie glaubt, es wird noch schlimmer. Ich dachte, das hören Sie nicht so gern.«
»Sehr richtig, ich höre es nicht gern«, sagte Miss Dubber entschieden, und ihre Augen folgten ihm, als er den Raum durchquerte, den Brief faltete und in das Ingwerglas steckte. »Sie können es mir am Vormittag vorlesen, da macht es mir weniger aus. Warum ist der Platz so still? Warum läuft nebenan bei Mrs. Peel kein Fernsehen? Um diese Zeit kommt doch der Ansager, in den sie verliebt ist.«
»Wahrscheinlich ins Bett gegangen«, sagte Pym. »Noch einen Schluck Kakao, Miss D.?« fragte er und trug die Becher in die Spülküche. Die Vorhänge waren zu, aber neben dem Fenster war ein Ventilator, den Pym in der Holzwand eingebaut hatte und der aus durchsichtigem Plastik bestand. Er drückte das Auge daran und warf einen raschen Blick über den Platz, aber er sah kein Anzeichen von Leben.
»Seien Sie nicht albern, Mr. Canterbury«, hörte er Miss Dubber sagen. »Sie wissen, daß ich nie mehr als eine Tasse trinke. Kommen Sie wieder her und sehen Sie sich die Nachrichten an.«
Am jenseitigen Ende des Platzes, im Schatten der Kirche, ging ein kleines Licht an und aus.
»Heute abend lieber nicht, Miss D.«, rief er zu ihr hinein. »Ich habe die ganze Woche nichts als Politik gehabt.« Er drehte den Wasserhahn auf und wartete, bis der Durchlauferhitzer ansprang, dann wusch er die Becher aus. »Ich gehe jetzt ins Bett und lasse die Welt schlafen, Miss D.«
»Zuerst sollten Sie mal ans Telefon«, erwiderte sie. »Es ist für Sie.«
Sie mußte sofort abgehoben haben, denn er hatte wegen des Gurgelns des Boilers kein Klingeln gehört. Noch nie war er angerufen worden. Er ging zurück in die Küche, und sie hielt ihm den Hörer hin, und er sah wieder die Furcht in ihrem Gesicht, die Anklage, als er mit sicherer Hand nach dem Hörer griff. Er hielt ihn ans Ohr und sagte: »Canterbury«. Die Leitung war tot, aber er ließ den Hörer am Ohr und schickte ein strahlendes Lächeln des Erkennens in die mittlere Distanz von Miss Dubbers Küche, irgendwo zwischen dem Bild des Pilgers, der sich hinter den Trägern bergauf mühte und dem Bild des kleinen Mädchens, das mit wohlgebürstetem Haar im Bett saß und ein weiches Ei aß.
»Danke«, sagte er. »Vielen Dank, Bill. Wirklich sehr nett von Ihnen. Und vom Minister. Richten Sie ihm bitte meinen Dank aus, Bill. Feiern wir’s irgendwann nächste Woche beim Lunch. Auf meine Rechnung.«
Er legte auf. Sein Gesicht glühte, und er war sich nicht mehr ganz sicher, als er jetzt Miss Dubber ansah, was mit ihrem Gesichtsausdruck geschah oder ob sie wußte, welche Schmerzen er in Schultern und Nacken bekam und im rechten Knie, das er sich in Lech beim Skilaufen mit Tom verstaucht hatte.
»Scheint, der Minister ist zufrieden mit der Arbeit, die ich für ihn gemacht habe«, erklärte er ihr ein bißchen matt. »Er wollte mir mitteilen, daß meine Mühe nicht umsonst war. Das war sein Privatsekretär. Bill. Sir William Wells. Alter Freund.«
»Aha«, sagte Miss Dubber. Aber nicht sehr begeistert.
»Im allgemeinen spart der Minister sehr mit Anerkennung, ehrlich gesagt. Zeigt sie nicht. Schwer zufriedenzustellen. Praktisch hat niemand je ein Lob von ihm bekommen. Aber wir sind ihm alle sehr ergeben. Trotz seiner Mucken, sozusagen. Wir alle können ihn trotz allem gut leiden, verstehen Sie? Wir haben uns damit abgefunden, daß er zu Gottes großem Tiergarten gehört und kein Ungeheuer ist. Ja, also, ich bin müde, Miss D. Bringen wir Sie ins Bett.«
Sie hatte sich nicht gerührt. Er redete noch hektischer.
»Natürlich war es nicht Er höchstpersönlich. Er ist in einer Nachtsitzung. Muß immer wieder mal sein. Es war sein Privatsekretär.«
»Wie Sie bereits sagten.«
»›Das riecht stark nach einem Orden, Pym, mein lieber Junge‹, sagte er. ›Der Alte hat tatsächlich gelächelt.‹ Wir nennen unseren Minister den Alten. Ins Gesicht Sir William, aber hinter seinem Rücken ›der Alte‹. Könnten wir über den Kamin hängen. Zu Ostern und Weihnachten auf Hochglanz polieren. Unser Privatorden. Hier im Haus erworben. Wenn ihn jemand verdient hat, dann Sie.«
Er schwieg eine Weile, denn er war ins Faseln geraten, und sein Mund war trocken, und er hatte die fürchterlichsten Halsund Ohrenbeschwerden seines Lebens. Ich sollte wirklich eine von diesen Privatkliniken aufsuchen und alles gründlich durchchecken lassen. Also stellte er sich, statt zu sprechen, neben sie und senkte die Arme, so daß er sie auf die Füße stellen und zur guten Nacht fest an sich drücken konnte, was ihr so viel zu bedeuten schien. Aber Miss Dubber tat nicht mit. Sie wollte keine Umarmung.
»Warum nennen Sie sich Canterbury, wenn Sie Pym heißen?« fragte sie streng.
»Das ist mein Vorname. Pym. Pym Canterbury.«
Sie dachte lang darüber nach. Sie studierte seine trockenen Augen und die Wangenmuskeln, die ohne ersichtlichen Grund zuckten. Und er begriff, daß ihr nicht besonders gefiel, was sie sah, und daß sie zum Streiten aufgelegt war. Aber als er sie beharrlich anlächelte und mit allem Leben, das noch in ihm war, ihr seinen Willen aufzuzwingen suchte, wurde er durch ein knappes zustimmendes Lächeln belohnt.
»Wir sind beide jetzt zu alt für Vornamen, Mr. Canterbury«, sagte sie. Worauf sie endlich die Arme ausstreckte, die er über den Ellbogen faßte, und er mußte sich ermahnen, nicht zu heftig zu ziehen, so sehr sehnte er sich danach, sie an sich zu drücken und ins Bett zu gehen, wohin er gehörte.
»Ich freue mich über den Orden«, verkündete sie, als er sie den Korridor entlangführte. »Ich habe immer Männer bewundert, die Orden bekommen, Mr. Canterbury. Egal, wofür.«
Die Treppe gehörte zu den Häusern seiner Kindheit, also sprang er leichtfüßig hinauf und vergaß seine Leiden und Schmerzen. Der Lampenschirm in Form des Sterns von Bethlehem auf dem Treppenabsatz war, obwohl er ein miserables Licht gab, ein alter Freund aus The Glades. Alles ist freundlich zu mir, stellte er fest. Als er seine Zimmertür öffnete, winkten ihm alle Dinge zu und lachten wie eine Überraschungsgesellschaft. Alle Päckchen lagen so da, wie er sie hergerichtet hatte, aber Kontrolle konnte nie schaden. Also kontrollierte er sie jetzt. Umschlag für Miss Dubber, eine Menge Geld und Bitten um Verzeihung. Umschlag für Jack, kein Geld, und, wenn man’s bedachte, verflixt wenig Bitten um Vergebung. Poppy, wie seltsam, daß du am Ende nur ein ferner Klang bist. Dieser blöde Aktenkasten, ich weiß nicht, warum ich mir all die Jahre um ihn Gedanken gemacht habe. Ich hab nicht mal hineingeschaut. Die Burnbox, was für ein Gewicht für so wenig Geheimnisse. Nichts für Mary, aber er hatte ihr wirklich nicht mehr viel zu sagen: »Verzeih, daß ich Dich zur Tarnung heiratete. Gottlob konnte ich ein bißchen Liebe auf unseren Weg streuen. Berufsrisiko, Liebes. Du bist auch Spionin, erinnerst Du Dich? Übrigens ein gutteil besser als Pym war, wenn man es recht bedenkt. Klasse läßt sich nicht verleugnen.« Nur der Umschlag für Tom machte ihm zu schaffen, und er riß die versiegelte Lasche wieder auf, denn er fühlte, daß ein letztes erklärendes Wort doch vonnöten sei.
»Weißt Du, Tom, ich bin die Brücke«, schrieb er mit ärgerlich zäher Hand. »Über diese Brücke mußt Du gehen, um von Rick zum Leben zu gelangen.«
Dann setzte er seine Initialen darunter, wie man sie immer unter ein Postskriptum setzen sollte, adressierte einen neuen Umschlag und warf den alten in den Papierkorb, denn man hatte ihm schon früh im Leben beigebracht, daß Schlampigkeit die größte Feindin der Sicherheit sei.
Dann hievte er die Burnbox vom Aktenkasten auf den Schreibtisch, entschärfte sie mit den beiden Schlüsseln an seiner Kette und nahm zuerst die Akten heraus, die zu geheim waren für jede Geheimhaltungsstufe und eine Menge unechter Informationen über die Netze enthielten, die er und Poppy so mühsam konstruiert hatten. Er warf auch sie in den Papierkorb. Danach holte er die Waffe heraus, lud und entsicherte sie, alles sehr flink, legte sie auf den Schreibtisch und dachte daran, wie oft er eine Waffe getragen und nicht abgefeuert hatte. Er hörte ein Kratzen auf dem Dach und sagte sich selber: muß eine Katze sein. Er schüttelte den Kopf, als wolle er sagen, diese verdammten Katzen kommen heutzutage überall hin, lassen den Vögeln keine Chance. Er sah auf seine goldene Uhr, eine ausholende Bewegung, erinnerte sich, daß Rick sie ihm geschenkt hatte und daß er vergessen könnte, sie im Bad abzunehmen. Also nahm er sie jetzt ab, legte sie auf Toms Umschlag und malte daneben ein lustiges Mondgesicht, ihr privates Ideogramm für Lächeln. Er zog sich aus und legte seine Kleider säuberlich neben das Bett, dann zog er den Morgenrock an und nahm seine beiden Frottétücher vom Stummen Diener, das große fürs Bad, das kleine für Hände und Gesicht. Er steckte die Waffe in die Tasche des Morgenrocks, entsichert, wie sie war, denn nach der komplizierten Sittenlehre seiner Ausbilder war eine gesicherte Waffe gefährlicher als eine schußbereite. Er ging zwar nur über den Korridor, aber heutzutage ist die Welt so gewalttätig, und man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Als er die Tür des Badezimmers öffnen wollte, stellte er verärgert fest, daß der Porzellanknauf klemmte und sich kaum bewegen ließ. Verdammter Türknauf. So was. Er brauchte die ganze Kraft von beiden Händen, um ihn zu drehen, und was noch ärgerlicher war, irgendein Idiot mußte Seife daran hinterlassen haben, denn seine Hände glitten ständig ab, und er mußte ein Handtuch zuhilfe nehmen, um ihn fassen zu können. Wahrscheinlich wieder die liebe alte Lippsie, dachte er lächelnd; lebt immer in der Welt in ihrem Kopf.
***
Er stellte sich zum letztenmal vor den Rasierspiegel und drapierte die Frottétücher um Kopf und Schultern, das kleinere schlang er zu einem Turban und das größere hängte er um wie ein Cape, denn wenn es etwas gab, was Miss Dubber um die Welt nicht leiden konnte, dann war es Unordnung. Dann hielt er die Waffe dorthin, wo sein rechtes Ohr war, und plötzlich wußte er nicht mehr – was unter diesen Umständen wohl jedem passiert wäre –, ob eine Browning .38 Automatic vor dem Abzug einen Druckpunkt hat. Und er sah, wie er den Kopf schräg hielt: nicht von der Waffe weg, sondern in die Mündung geneigt, wie jemand, der ein bißchen taub ist und etwas hören möchte.
***
Mary hörte den Schuß nicht. Der Superintendent kauerte wieder an Brotherhoods Fenster, diesmal, um ihm mitzuteilen, daß Magnus’ Anwesenheit im Haus nun mittels einer List eindeutig festgestellt sei und daß sich laut Befehl alle Non-Kombattanten unverzüglich im Pfarrsaal zu versammeln hätten. Brotherhood bestritt dies, und Mary beobachtete noch immer die vier Männer, die jenseits des Platzes zwischen den Schornsteinen Indianer auf dem Kriegspfad spielten. Seit einer halben Stunde wickelten sie jetzt schon Seile ab und nahmen klassische Versteckpositionen ein, und Mary haßte sie allesamt mehr, als sie je für möglich gehalten hätte. Eine Gesellschaft, die ihre Eingreiftruppen bewundert, sollte verdammt aufpassen, wohin sie geht, sagte Magnus gern. Der Superintendent versicherte, außer besagtem Canterbury seien keine männlichen Gäste im Haus, und er fragte Mary, ob sie sich bereithalten wolle, ihrem Gatten telefonisch gut zuzureden, falls dies im Lauf der Operation nötig sein sollte. Und Mary erwiderte: »Natürlich will ich das«, in übertriebenem Flüstern, das all diesen theatralischen Unsinn entkräften sollte. Alle diese Dinge ereigneten sich, wenn sie später zurückdachte, oder hatten sich ereignet in dem Moment, als Brotherhood die Autotür aufstieß, so daß der Superintendent zur Seite flog, einen Stiefel auf ewig im Fensterrahmen festgefroren. Danach folgte ein verwischtes Bild von Jack, der wie ein junger Mann auf das Haus zustürmte, denn manchmal hatte sie geträumt, daß er genau das tue, und das Haus war immer Plush und er war gekommen, um sie zu lieben. Aber in all dem Krach ringsum stand er regungslos da. Lichter waren aufgeflammt, Ambulanzen rasten zum Tatort, offensichtlich ohne zu wissen, wo der Tatort war. Uniformierte und Zivilisten purzelten übereinander, und die Narren auf dem Dach brüllten hinunter zu den Narren auf dem Platz, und England ward gerettet vor Dingen, von denen es sich nicht bedroht wußte. Aber Jack Brotherhood stand in Hab-acht-Stellung wie die römische Schildwache, und alle Blicke waren auf eine würdevolle kleine Dame gerichtet, die im Morgenrock die Stufen vor ihrem Haus herabkam.