10
Und wieder überkam Pym eine zwingende Klarheit, als er den vielen Stimmen in seinem Kopf lauschte. Gott sein, wiederholte er sich, mit liebendem Auge herabblickend auf dieses Kind, das ich war. Seine Fehler lieben und sein Streben und Mitleid haben mit seiner Einfalt.
Wenn es in Pyms Leben überhaupt eine vollkommene Zeit gab, eine Zeit, da alle Versionen seiner selbst geschätzt wurden, ihre Rolle gut spielten und es ihm nie mehr an irgend etwas fehlen sollte, dann waren es seine ersten Semester an der Universität Oxford, die Rick ihm als notwendige Zwischenstation verordnet hatte, ehe er Pym zum Lordoberrichter ernennen lassen und bei den Höchsten im Land plazieren könnte. Die Beziehung zwischen den beiden Kumpeln war nie besser gewesen. Während Pyms letzter einsamer Monate in Bern, nach Axels Verschwinden, hatte ihr Briefwechsel eine dramatische Blüte erlebt. Da Frau Ollinger kaum mit ihm redete, und Herr Ollinger zunehmend von den Problemen Ostermundingens in Anspruch genommen wurde, wanderte Pym allein durch die Straßen der Stadt, so wie zu Anfang. Aber nachts, wenn die Wand neben ihm still blieb, verfaßte er lange und liebevolle Briefe an Belinda und an seinen einzig wahren Anker, Rick. Durch diese Zuwendung beflügelt, gewannen Ricks Antwortbriefe plötzlich an Stil und Wohlstand. Keine besorgten Botschaften vom Rande Englands mehr. Das Papier wurde dicker, blieb so und bekam imponierende Briefköpfe. Zuerst schrieb ihm die Richard T. Pym Endeavour Company aus Cardiff und teilte ihm mit, daß die Wolken des Ungemachs ein für allemal hinweggefegt waren von einer Vorsehung, die ich nur als Spitze bezeichnen kann. Einen Monat später, und die Pym and Partners Property Finance Enterprise in Cheltenham vermeldete, es seien gewisse Vorkehrungen für Pyms Zukunft im Gange, um sicherzustellen, daß es ihm nie an irgend etwas fehlen werde. Unlängst freute sich eine gedruckte Karte von königlicher Eleganz, ihm eröffnen zu können, daß aufgrund einer für alle Parteien günstigen Fusion die Geschäfte obengenannter Firmen fortan vom Pym and Permanent Mutual Property Trust (Nassau) in Park Lane W. geführt würden.
Jack Brotherhood und Wendy spendierten ihm ein Abschiedsfondue auf Spesen, Sandy kam, und Jack gab Pym zwei Flaschen Whisky und hoffte, ihre Pfade würden sich wieder kreuzen. Herr Ollinger begleitete ihn zum Bahnhof, und sie tranken einen letzten Kaffee. Frau Ollinger blieb zu Hause. Elizabeth bediente, aber sie war zerstreut. Sie war um die Mitte rundlich geworden, trug aber keinen Ring. Als der Zug aus dem Bahnhof rollte, warf Pym einen Blick hinunter auf den Zirkus und das Elefantenhaus und einen Bick hinauf zur Universität und ihrer grünen Kuppel, und als er Basel erreicht hatte, wußte er, daß Bern mit Mann und Maus untergegangen war. Axel war illegal. Die Schweizer ermittelten gegen ihn. Glück gehabt, daß ich davongekommen bin. Als er irgendwo südlich von Paris im Korridor stand, entdeckte er Tränen auf seinen Wangen und gelobte, nie wieder Spion zu sein. An der Victoria Station erwartete ihn Mr. Cudlove mit einem neuen Bentley.
»Wie reden wir Sie jetzt an, Sir? Doktor oder Professor?«
»Magnus genügt«, sagte Pym leutselig, während sie einander die Hände schüttelten. »Wie geht’s Ollie?«
Die neue Reichskanzlei an der Park Lane war ein Monument blühender Stabilität. TPs Büste stand wieder an ihrem Platz. Juristische Bücher, Glastüren und ein neuer Jockey in den Pymschen Stallfarben signalisierten Zuversicht, während er auf Lederkissen wartete, bis eine Lovely ihn in die Staatsgemächer einließ. »Der Herr Präsident läßt bitten, Mr. Magnus.«
Sie umarmten sich, beide im Moment zu stolz für Worte. Rick schlug Pym auf den Rücken, kniff ihn in die Wangen und wischte ihm die Tränen ab. Mr. Muspole, Perce und Syd wurden durch verschiedene Summer herbeizitiert, um dem heimkehrenden Helden ihre Reverenz zu erweisen. Mr. Muspole brachte ein Bündel Papiere zum Vorschein, und Rick las die besten Stellen daraus vor. Pym war auf Lebenszeit zum Internationalen Justiziar ernannt, mit fünfhundert Pfund jährlich, unter dem Vorbehalt, daß er für keine andere Firma tätig sein dürfe. Hiermit war für sein Studium in Oxford gesorgt, nie wieder würde es ihm an etwas fehlen. Eine zweite Lovely brachte Schampus. Es schien ihre einzige Aufgabe zu sein. Alle tranken auf das Wohl des jüngsten Firmenmitglieds. »Los, Titsch, sag was auf Parlehwu!« rief Syd aufgeregt, und Pym stand zu Diensten, indem er ein paar Albernheiten auf Deutsch von sich gab. Vater und Sohn umarmten einander aufs neue, Rick weinte aufs neue und sagte, wenn nur er ebensolche Chancen gehabt hätte. Am selben Abend wurde Pyms Heimkehr in einem Landsitz in Amersham, genannt Die Zielgerade, noch einmal im kleinen Kreis gefeiert, mit zweihundert alten Freunden, von denen Pym kaum einen kannte, darunter die Chefs mehrerer weltberühmter Unternehmen, Stars von Bühne und Leinwand und ein paar große Anwälte, von denen reihum jeder Pym beiseite nahm und behauptete, ihm den Studienplatz in Oxford verschafft zu haben. Nach der Party lag Pym hellwach in seinem Himmelbett und lauschte dem kostspieligen Zuschlagen von Autotüren.
»Du hast deine Sache gut gemacht da drüben in der Schweiz, Sohn«, sagte Rick aus dem Dunklen, wo er schon eine Weile gestanden hatte. »Du hast einen guten Kampf gekämpft. Blieb nicht unbemerkt. Hat’s dir geschmeckt?«
»Prima Dinner.«
»Eine Menge Leute sagten zu mir, ›Rickie‹, sagten sie, ›Sie müssen den Jungen heimholen. Diese Ausländer machen eine Hure aus ihm.‹ Weißt du, was ich darauf gesagt habe?«
»Was hast du darauf gesagt?«
»Daß ich an dich glaube. Glaubst du an mich, Sohn?«
»Unbedingt.«
»Wie findest du das Haus?«
»Wunderbar«, sagte Pym.
»Es gehört dir. Auf deinen Namen eingetragen. Ich hab’s vom Herzog von Devonshire gekauft.«
»Vielen Dank.«
»Niemand kann es dir je wegnehmen, Sohn. Ob du zwanzig bist. Ob du fünfzig bist. Wo dein alter Herr ist, bist du zu Hause. Hast du mit Maxie Moor gesprochen?«
»Ich glaube nicht.«
»Der Mann, der für Arsenal das entscheidende Tor gegen Spurs gemacht hat? Aber natürlich hast du mit ihm gesprochen. Wie findest du Blottsie?«
»Welcher war das?«
»G.W. Blott? Einer der renommiertesten Namen im Lebensmittel-Einzelhandel. Großartige Würde. Eines Tages ist er Lord und du auch. Wie findest du Sylvia?«
Pym entsann sich einer korpulenten mittelalterlichen Frau in Blau mit einem aristokratischen Lächeln, das vom Schampus kommen konnte.
»Sie ist nett«, sagte er vorsichtig.
Rick stürzte sich auf das Wort, als sei er ihm sein halbes Leben lang nachgejagt. »Nett! Genau. Sie ist eine verdammt nette Frau mit zwei erstklassigen Ehemännern auf der Habenseite.«
»Sie ist wirklich attraktiv, sogar für mein Alter.«
»Hast du dich drüben auf was eingelassen? Nichts auf dieser Welt, was zwei gute Kumpel nicht wieder hinkriegen könnten.«
»Bloß ein paar Affairen. Nichts Ernsthaftes.«
»Keine Frau soll uns je entzweien, Sohn. Sobald diese Oxford-Mädchen wissen, wer dein alter Herr ist, werden sie hinter dir her sein wie ein Rudel Wölfe. Versprich mir, daß du dich rein erhalten wirst.«
»Ich versprech’s dir.«
»Und dein Jus studieren, als ging’s um dein Leben? Vergiß nicht, du wirst dafür bezahlt.«
»Ich versprech’s dir.«
»Na also.«
Das lautlose Gewicht von Ricks Körper landete wie eine Zwei-Zentner-Katze neben Pym. Rick zog Pyms Kopf heran, bis beider Wangen sich Stoppel an Stoppel preßten. Seine Finger fanden die fleischigen Partien von Pyms Brustkasten unter der Pyjamajacke und kneteten sie. Er weinte. Pym weinte auch und dachte wieder an Axel.
Am folgenden Tag verzog Pym sich schleunigst in sein College, er gab eine Reihe von dringenden Gründen an, warum er zwei Wochen zu früh hinfuhr. Er verzichtete auf Mr. Cudloves Dienste, reiste per Bus und blickte mit wachsendem Staunen auf sanfte Hügel und gemähte Kornfelder, die in der Herbstsonne glänzten. Der Bus fuhr durch Landstädtchen und Dörfer, zwischen rötlichen Birken und tanzenden Hecken, bis langsam die goldenen Steine Oxfords die Ziegel Buckinghamshires ablösten, die Hügel flacher wurden und die Spitztürme der Stadt sich in die trüberen Strahlen des Nachmittags reckten. Er stieg aus, dankte dem Fahrer und bummelte durch die verzauberten Straßen, fragte an jeder Ecke nach dem Weg, vergaß ihn, fragte wieder und hörte nicht zu. Mädchen mit Glockenröcken flitzten auf Fahrrädern an ihm vorbei. Professoren in wehenden Talaren hielten im Wind ihre Baretts fest, Buchläden winkten ihm wie Vergnügungsstätten. Er schleppte einen Koffer, der aber nicht schwerer wog als ein Hut. Der Pförtner des College sagte Treppe Fünf, über den Kapellenhof. Er stieg die hölzerne Wendeltreppe hinauf, bis er seinen Namen an einer alten Eichentür sah, M.R. Pym. Er stieß die Tür auf und sah Dunkelheit und dann eine zweite Tür. Er öffnete die zweite Tür und schloß die erste. Er fand den Lichtschalter und schloß nun mit der zweiten Tür sein ganzes bisheriges Leben hinter sich. Ich bin in Sicherheit hinter den Stadtwällen. Niemand wird mich finden, niemand wird mich anwerben. Er stolperte über eine Kiste mit juristischen Wälzern. »Glück auf, Sohn, von Deinem besten Kumpel.« Eine Rechnung von Harrods belastete das Konto des neuesten Pym-Konzerns.
***
Die Universität war damals ein sehr konventioneller Ort, Tom. Du würdest dich schieflachen darüber, wie wir uns anzogen und redeten und was wir uns gefallen ließen, obwohl wir die Günstlinge der Erde waren. Abends wurden wir eingeschlossen und morgens herausgelassen. Wir durften Mädchen zum Tee haben, aber nicht zum Dinner und schon gar nicht zum Frühstück. Die Collegeaufwärter spionierten gleichzeitig für den Dekan und verpetzten uns, wenn wir gegen die Hausordnung verstießen. Unsere Eltern hatten fast alle den Krieg gewonnen, und da wir sie nicht schlagen konnten, war Nachahmung unsere beste Rache. Einige von uns waren beim Militär gewesen. Wir übrigen kleideten uns wenigstens wie Reserveoffiziere und hofften, niemand werde den Unterschied bemerken. Mit seinem ersten Scheck kaufte Pym einen dunkelblauen Blazer mit Messingknöpfen. Mit dem zweiten eine Kavalleristenhose aus geköpertem Stoff und eine blaue Krawatte mit Kronen, die Patriotismus ausstrahlten. Danach trat ein Moratorium ein, da der dritte Scheck erst nach einem Monat eingelöst wurde. Pym polierte seine braunen Schuhe, trug sein Taschentuch im Ärmel und trimmte sein Haar wie ein Gentleman. Und als Sefton Boyd, der ein Jahr Vorsprung hatte, ihn im überkandidelten Gridiron Club festlich bewirtete, machte Pym in der Sprache solche Fortschritte, daß er im Handumdrehen wie ein Insider sprach, die Jüngeren nur als Charlies bezeichnete und unsere Clique als die Chaps und alles Schlechte als Harry Awful und alles Vulgäre als Poggy und alles Gute als Fairly Decent.
»Wo hast du übrigens die Vincents-Krawatte aufgegabelt?« fragte Sefton Boyd ihn milde, als sie zu einer Partie Shuffleboard mit ein paar Charlies im Trinity-Pub die Broad Street entlangschlenderten. »Wußte nicht, daß du in deiner Freizeit in der Universitätsmannschaft boxst.«
Pym sagte, der Schlips im Schaufenster von Hall Brothers an der High Street habe ihm gefallen.
»Dann leg ihn eine Weile auf Eis, ja? Wenn sie dich wählen, kannst du ihn wieder rausholen.« Er legte eine Hand leicht auf Pyms Schulter. »Und wenn du schon dabei bist, sag deinem Aufwärter, er soll dir gewöhnliche Knöpfe an die Jacke nähen. Oder sollen die Leute meinen, du seist der ungarische Thronanwärter?«
Wiederum schloß Pym alles ins Herz, liebte alles, spannte jede Sehne, um sich auszuzeichnen. Er trat den Vereinen bei, bezahlte mehr Clubbeiträge, als es Clubs gab, machte überall den Schriftführer, von den Philatelisten bis zu den Euthanasianern. Er schrieb feinsinnige Artikel für Universitätszeitungen, betreute berühmte Redner, holte sie am Bahnhof ab, fütterte sie auf Kosten des Vereins und brachte sie sicher in leere Vortragssäle. Er spielte in der Rugbymannschaft seines Colleges, in der Cricketmannschaft, ruderte im College-Achter, betrank sich in der College-Bar und war abwechselnd bodenlos zynisch gegenüber der Gesellschaft oder verteidigte sie als standhafter Brite, je nachdem, mit wem er gerade zusammen war. Er warf sich aufs neue der deutschen Muse in die Arme und zuckte nicht mit der Wimper bei der Entdeckung, daß sie in Oxford ungefähr fünfhundert Jahre älter war als in Bern und daß alles, was nicht vor Menschengedenken geschrieben worden war, ungesund sei. Aber er erholte sich rasch von dieser Umstellung. Das ist Qualität, sagte er sich. Das ist academia. Sofort stürzte er sich auf die Ruinen des mittelalterlichen Minnesangs, mit derselben Energie, die er in einem früheren Leben auf Thomas Mann verwendet hatte. Am Ende seines ersten Semesters war er ein begeisterter Student des Mittel- und Althochdeutschen. Am Ende des zweiten konnte er das Hildebrandslied rezitieren und zum Entzücken seines bescheidenen Hofstaats in der College-Bar die gotische Bibelübersetzung von Bischof Ulfila intonieren. Um die Mitte des dritten tummelte er sich in den parnassischen Gefilden der komparativen und putativen Philologie, wo sich jugendliche Kreativität von jeher ausgetobt hatte. Als er sich kurzzeitig in die gefährlichen Modernismen des siebzehnten Jahrhunderts verirrte, konnte er zu seiner Freude in einem zwanzigseitigen Ausfall gegen den Parvenü Grimmelshausen dartun, daß der Dichter sein Werk durch banales Moralisieren entwertet und seine Glaubwürdigkeit untergraben habe, indem er im Dreißigjährigen Krieg auf beiden Seiten kämpfte. Den Fangstoß versetzte er ihm mit dem Hinweis, Grimmelshausens Vorliebe für falsche Namen lasse an seiner Autorschaft zweifeln.
Ich werde für immer hier bleiben, beschloß er, ich werde eine Professur bekommen und für meine Schüler ein Heros sein. Um dieses Streben zu untermauern, legte er sich ein gewähltes Stottern und ein gequältes Lächeln zu und saß, wachgehalten von Neskaffee, lange Nachtstunden hindurch an seinem Schreibtisch. Wenn es tagte, erkühnte er sich, unrasiert hinunterzugehen, damit alle die scharfen Runen der Geistesarbeit auf seinem Gesicht sehen konnten. An einem solchen Morgen fand er zu seiner Überraschung eine an ihn adressierte Kiste Qualitätsportwein vor, begleitet von einem Briefchen des Ordinarius der Rechtswissenschaft.
Lieber Mr. Pym,
Beiliegendes schickte mir gestern die Firma Harrods zusammen mit einem reizenden Brief Ihres Vaters, was mir Sie offenbar als meinen Schüler empfehlen sollte. Obgleich es nicht meiner Gewohnheit entspricht, derlei Großzügigkeit zurückzuweisen, meine ich doch, daß sie in diesem Fall meinem Kollegen von den Neuen Sprachen gebührt, da ich von Ihrem Tutor erfuhr, daß Sie Deutsch studieren.
Den halben Tag lang wußte Pym nicht ein noch aus. Er schlug den Kragen hoch und streifte verstört durch Christchurch Meadows, schwänzte die Vorlesung, aus Angst, festgenommen zu werden, und schrieb Briefe an Belinda, die als unbezahlte Sekretärin für eine Londoner Wohltätigkeitseinrichtung arbeitete. Am Nachmittag saß er in einem dunklen Kino. Am Abend karrte er sein kriminelles Paket ins Balliol, mit dem festen Entschluß, Sefton Boyd alles zu erzählen. Aber bis er dort ankam, hatte er sich etwas Besseres ausgedacht.
»Ein reicher Mistfink aus dem Merton will mich in sein Bett locken«, berichtete er im Ton aufrichtiger Empörung, den er auf dem ganzen Weg geübt hatte. »Schickt mir eine Riesenkiste Port, um mich rumzukriegen.«
Falls Sefton Boyd Zweifel hatte, so zeigte er sie nicht. Gemeinsam schleppten sie ihre Beute in den Gridiron Club, wo sie ihr zu sechst in einer Sitzung den Garaus machten und bis zum Morgen immer wieder auf Pyms Jungfernschaft anstießen. Ein paar Tage später wurde Pym zum Mitglied gewählt. In den Ferien arbeitete er als Teppichverkäufer in einem Laden in Watfort. Ein Ferienseminar für Anwälte, schrieb er Rick, ähnlich wie die Freizeitkurse, die er in der Schweiz besucht habe. Als Antwort schickte Rick ihm eine fünfseitige Gardinenpredigt, die ihn vor Larifari-Intellektuellen warnte, und einen Scheck über fünfzig Pfund, ungedeckt.
***
Ein Sommersemester war ganz den Frauen gewidmet. Pym war noch nie so verliebt gewesen. Allen Mädchen, denen er begegnete, schwor er Liebe, er wollte um jeden Preis ihre mutmaßlich geringe Einschätzung seiner Person richtigstellen. In lauschigen Cafés, auf Parkbänken oder an prächtigen Nachmittagen bei Spaziergängen entlang der Isis hielt Pym ihre Hand, blickte ihnen tief in die Augen und sagte alles zu ihnen, was er sich jemals zu hören gewünscht hatte. Kam er sich bei der einen heute linkisch vor, so schwor er sich, morgen werde es mit der nächsten besser gehen, denn Frauen seines eigenen Alters und Verstandes waren für ihn etwas Neues, und es brachte ihn aus dem Konzept, wenn sie keine dienende Stellung einnahmen. Kam er sich bei allen linkisch vor, so schrieb er an Belinda, die keine Antwort schuldig blieb. Seine Geständnisse waren nie Wiederholungen, er war kein Zyniker. Der einen sprach er von seinem Ehrgeiz, auf die schweizerische Bühne zurückzukehren, wo er ein so durchschlagender Erfolg gewesen sei. Sie solle deutsch lernen und mit ihm gehen, sagte er; sie würden gemeinsam auftreten. Einer anderen zeigte er sich als Poet der Leere und schilderte seine Drangsale in den Händen der mörderischen Schweizer Polizei.
»Ich dachte, sie seien so schrecklich neutral und human!« rief sie, entsetzt über seine Darstellung der Prügel, die er hatte erdulden müssen, ehe sie ihn über die Grenze nach Österreich abschoben.
»Nicht, wenn man anders ist«, sagte Pym grimmig. »Nicht, wenn man sich gegen die Normen der Bourgeoisie auflehnt. Die Schweizer haben zwei Gebote, die ihnen heilig sind. Du sollst nicht arm sein, und du sollst kein Ausländer sein. Ich war beides.«
»Du hast wirklich viel hinter dir«, sagte sie. »Phantastisch. Ich überhaupt nichts.«
Und einer Dritten schilderte er sich als Romancier des gefolterten Lebens, sein Werk müsse er seinen Verlegern erst zeigen, es ruhe noch zu Hause in einem alten grünen Aktenkasten.
Eines Tages kam Jemima. Ihre Mutter hatte sie auf eine Handelsschule nach Oxford geschickt, damit sie Maschineschreiben lernen und Bälle besuchen könne. Sie war langbeinig und konfus wie jemand, der ständig verspätet ist. Sie war schöner denn je.
»Ich liebe dich«, erklärte Pym und reichte ihr in seinem Zimmer kleine Stücke Früchtekuchen. »Wo ich auch war, was ich auch erdulden mußte, ich habe dich die ganze Zeit geliebt.«
»Aber was hast du denn erdulden müssen?« fragte Jemima.
Für Jemima bedurfte es einer Spezialanfertigung. Pym war von seiner Antwort selber überrascht. Später folgerte er, die Antwort habe in ihm bereitgelegen und sei herausgesprungen, ehe er es verhindern konnte. »Es war für England«, sagte er. »Ich kann froh sein, daß ich noch lebe. Wenn ich’s einer Menschenseele erzähle, bringen sie mich um.«
»Warum sollen sie dich umbringen?«
»Es ist geheim. Ich habe Schweigen gelobt.«
»Warum sagst du’s mir dann?«
»Ich liebe dich. Ich mußte Menschen Gräßliches antun. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, solche Geheimnisse mit sich herumzutragen.«
Als Pym sich das sagen hörte, fiel ihm ein, was Axel kurz vor dem Ende geäußert hatte: »So etwas wie ein Leben ohne Wiederkehr gibt es nicht.«
Bei seinem nächsten Treffen mit Jemima beschrieb er eine tapfere junge Frau, mit der er bei seiner schrecklichen geheimen Tätigkeit zusammengearbeitet hatte. Er dachte dabei an die verschwommenen Kriegsfotos schöner Frauen, die Orden bekommen, weil sie jede Woche mit dem Fallschirm über Frankreich abspringen.
»Sie hieß Wendy. Wir gingen zusammen in geheimer Mission nach Rußland. Wir wurden Partner.«
»Hast du’s mit ihr gemacht?«
»Es war nicht diese Art Beziehung. Es war professionell.«
Jemima war fasziniert. »Du meinst, sie war eine Nutte?«
»Natürlich nicht. Sie war Geheimagent, wie ich.«
»Hast du es schon mal mit einer Nutte gemacht?«
»Nein.«
»Kenneth schon. Sogar mit zwei. An jedem Ende eine.«
An jedem Ende wovon? dachte Pym in wachsender Entrüstung. Ich ein heimlicher Held, und sie redet über Sex. In seiner Verzweiflung schrieb er an Belinda zwölf Seiten über seine platonische Liebe, aber bis die Antwort kam, hatte er seine damalige Gefühlslage vergessen. Manchmal kam Jemima uneingeladen, ohne Make-up, das Haar hinter die Ohren gestrichen.
Sie lag bäuchlings auf dem Bett und las Jane Austen, wobei sie mit einem nackten Bein ausschlug oder gähnte.
»Du kannst mir unter den Rock fassen, wenn du magst«, sagte sie.
»Nicht nötig, vielen Dank«, sagte Pym höflich.
Um sie nicht weiter zu stören, setzte er sich auf den Stuhl und las ein Handbuch der althochdeutschen Literatur, bis sie ein Gesicht schnitt und ging. Danach besuchte sie ihn eine Weile nicht. Er spähte unverzagt in Kinos nach ihr aus, deren es sieben gab, so daß er in einer Woche die Runde machen konnte. Sie hatte jedesmal einen anderen Mann dabei, und einmal, wie ihr Bruder, sogar zwei. Während dieser Zeit kam Belinda zu ihr auf Besuch, sagte jedoch zu Pym, er solle wegbleiben, es wäre nicht fair gegenüber Jem. Pyms Drang, Jemima zu imponieren, wuchs jetzt ins Uferlose. Er aß allein und wirkte gequält, aber sie kam noch immer nicht. Als er eines Abends an einer Ziegelmauer entlang ging, schürfte er sich absichtlich die Fingerknöchel daran blutig, dann eilte er zu ihrer teuren Wohnung an der Merton Street, wo sie gerade ihr langes Haar vor dem Heizofen trocknete.
»Mit wem hast du gerauft?« fragte sie, als sie Jod auftrug.
»Ich darf nicht darüber sprechen. Es gibt Dinge, die gehen nie vorbei.«
Sie legte den Heizofen auf den Rücken und röstete Toast, während sie weiter ihr Haar bürstete und Pym durch die Strähnen anlinste.
»Wenn ich ein Mann wäre«, sagte sie, »würde ich meine Energie nicht mit Schlägereien vertun. Ich würde nicht Rugby spielen, ich würde nicht boxen, ich würde nicht für andere spionieren. Ich würde nicht mal reiten. Ich würde alle Kraft zum Ficken verwenden, immer und immer wieder.«
Pym verabschiedete sich und grübelte wie schon so oft über die Frivolität der Leute, die keinen Sinn für seine höhere Berufung hatten.
Liebste Bel, kannst Du nichts für Jemima tun? Ich kann einfach nicht mit ansehen, wie sie vor die Hunde geht.
***
Wußte Pym, daß er Gott versucht hatte? Heute weiß ich es natürlich, in dieser stürmischen Nacht am Meer, während ich versuche, nach so vielen Jahren darüber zu schreiben. Wen sonst forderte er heraus als seinen Schöpfer, wenn er seine albernen Geschichten spann? Pym zog sein Schicksal so unweigerlich auf sich, als habe er in seinen Gebeten ausdrücklich darum gefleht, und Gott tat ihm den Gefallen, wie Gott es häufig tut. Pyms Phantasiebild seiner selbst wartete dort draußen wie ein Köder, den kein himmlisches Auge übersehen konnte, und die göttliche Antwort lag in Pyms Fach in der Portiersloge, als er keine vierundzwanzig Stunden später hinunterging, um nachzusehen, wer ihn an diesem schönen Samstagmorgen vor dem Frühstück liebte. Ah! Ein Brief! – blaues Kuvert! – Vielleicht von Jemima? – Oder von Jemimas Freundin, der tugendhaften Belinda? – Vielleicht von Lalage – oder Polly oder Prudence oder Anne? Die Antwort, Jack, lautete: keine von ihnen. Er kam, wie so viel Übles, von dir. Du schriebst Pym aus Oman, per Adresse Trucial Oman Scouts, obwohl die Marke britisch-blau war und der Stempel Whitehall, denn bis England war er mit der Diplomatenpost gekommen.
Mein lieber Magnus,
wie Sie an dem Briefkopf sehen, habe ich die Fleischtöpfe Berns gegen härtere Kost vertauscht und gehöre zur Zeit der Militärmission in Oman an, wo das Leben ein bißchen aufregender ist! Ich arbeite immer noch gelegentlich für die Kirche und muß sagen, manche von diesen Arabern singen recht hübsch. Ich schreibe Ihnen aus zwei Gründen:
1. Um Ihnen alles Gute fürs Studium zu wünschen und erneut mein Interesse an Ihren Fortschritten zu bekunden.
2. Um Ihnen mitzuteilen, daß ich Ihren Namen unserer Schwesterkirche in der alten Heimat genannt habe, da es ihr offenbar in Ihrer Gegend an Tenören fehlt. Falls sich also ein gewisser Rob Gaunt als mein Freund bei Ihnen melden sollte, so hoffe ich, daß Sie sich von ihm in meinem Namen einladen und tüchtig traktieren lassen. Er ist, nebenbei gesagt, Oberstleutnant, offiziell bei der Artillerie.
Pym mußte nicht lange warten, obgleich ihm jede Minute wie ein Jahr erschien. Als er am folgenden Dienstag von einer Prüfung über die Ablauttheorie zurückkam, fand er ein zweites Kuvert vor. Es war diesmal braun und ungewöhnlich dick, ein Papier, das ich später nie wieder sah. Von schwachen Linien durchzogen, so daß es wie Wellpappe wirkte, die Oberfläche aber ölig und glatt. Auf der Rückseite befand sich kein Wappen, keine Absenderangabe. Sogar der Hersteller war geheim. Aber Pyms Name und Adresse waren tadellos getippt, die Briefmarke genau auf Mitte, und als er in der Geborgenheit seines Zimmers die Lasche öffnen wollte, stellte er fest, daß sie mit einem gummierten Streifen verklebt war, der nach sauren Drops roch und pappige Fäden zog wie Kaugummi. Drinnen lag ein einzelner Bogen dicken weißen Papiers, weniger gefaltet als gewalzt. Als er ihn glattstrich, stellte der große Spion sofort das Fehlen eines Wasserzeichens fest. Die Lettern waren groß wie für Weitsichtige, die Anordnung perfekt.
Postfach 777
Kriegsministerium
Whitehall. S.W.i
Mein lieber Pym,
unser gemeinsamer Freund berichtet mir Wunderdinge von Ihnen, und ich würde die Möglichkeit eines Zusammentreffens sehr begrüßen, da Sie uns bei wichtigen Angelegenheiten von beiderseitigem Interesse behilflich sein könnten. Leider bin ich im Moment sehr beschäftigt und werde im Ausland sein, wenn Sie diesen Brief erhalten. Daher möchte ich Ihnen einstweilen eine Zusammenkunft mit einem meiner Kollegen vorschlagen, der am Montag nächster Woche in der Nähe von Oxford zu tun hat. Wenn Sie einverstanden sind, fahren Sie bitte mit dem Bus nach Burford, wo Sie kurz vor Mittag in der Saloon Bar des Monmouth Arms erwartet werden. Mein Kollege wird als Erkennungszeichen ein Exemplar von Rider Haggards Allan Quarterman bei sich haben, und ich schlage vor, daß Sie sich eine Financial Times besorgen, die durch ihre rosa Farbe auffällt. Er heißt Michael und hat sich, wie Jack, im Krieg ausgezeichnet. Ich zweifle nicht, daß Sie beide sich famos verstehen werden.
Mit allen guten Wünschen
Ihr R. Gaunt
Oberstleutnant d. Art. a. D.
In den nächsten fünf Tagen ließ Pym jede Arbeit ruhen. Er schritt durch die abgelegenen Straßen der Stadt, machte jäh kehrt, um zu sehen, wer ihm folgte. Er kaufte ein feststehendes Messer und übte sich im Zielwurf an Bäumen, bis die Klinge brach. Er machte ein Testament und schickte es an Belinda. Wenn er seine Zimmer betrat, tat er es mit äußerster Umsicht, und nie stieg er seine Treppe hinunter oder hinauf, ohne vorher auf ungewöhnliche Geräusche gelauscht zu haben. Wo sollte er die geheimen Briefe verstecken? Zum Wegwerfen waren sie viel zu kostbar. Er entsann sich eines Tricks, von dem er gelesen hatte, höhlte ein nagelneues Exemplar von Kluges Ethymologischem Wörterbuch aus und machte ihnen dort ein Nest. Von da an galt dem ausgeweideten Kluge sein erster Blick beim Nachhausekommen. Um ohne Aufsehen eine Nummer der Financial Times zu kaufen, marschierte er bis nach Littlemore, aber der Dorfladen hatte nie von dieser Zeitung gehört. Als er wieder zurückkam, war in Oxford alles geschlossen. Nach einer schlaflosen Nacht schlich er sich im Morgengrauen, ehe jemand auf war, ins Lesezimmer und klaute eine alte Nummer vom Ständer.
An Wochentagen fuhren morgens zwei Busse nach Burford, aber der zweite hätte ihm nur zwanzig Minuten zum Auffinden des Monmouth Arms gelassen, daher fuhr er mit dem ersten und kam um neun Uhr vierzig an, direkt vor der Tür des Lokals. In seinem überreizten Zustand erschien ihm das Schild mit den kühnen Lettern wie ein Verstoß gegen die nationale Sicherheit, und er schlenderte abgewandten Blicks vorbei. Der Rest des Vormittags schleppte sich auf bleiernen Füßen hin. Schon um elf war sein Notizbuch randvoll mit den Nummern sämtlicher geparkter Autos in Burford und ausführlichen Aufzeichnungen über verdächtige Passanten. Als er pünktlich zwei Minuten vor zwölf an der Bar des Monmouth Arms saß, ergriff ihn Panik. Saß er im Monmouth Arms oder im Golden Pheasant? Hatte Oberstleutnant Gaunt Winter’s Tale geschrieben? Im Glutofen von Pyms Hirn verschmolzen diese Möglichkeiten zu einer blendenden und bedrohlichen Legierung. Er trat vors Haus und las verstohlen noch einmal das Türschild, dann eilte er auf »Herren« und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Als er in der Toilette stand, hörte er eine Klapptür und sah nebenan undeutlich eine bullige Gestalt im marineblauen Regenmantel stehen. Der Oberkörper war schräg nach hinten und zur Seite gebeugt, die Augen nach oben verdreht. Einen langen Moment fürchtete Pym, der Mann sei angeschossen, bis er begriff, daß diese Verrenkungen von der Schwierigkeit herrührten, ein dickes Buch unter dem Arm festzuhalten. Unfähig zu weiterer Verrichtung ordnete Pym seine Kleidung, eilte in die Bar zurück, legte seine Financial Times auf die Theke und bestellte ein Bier.
»Bringen Sie gleich zwei, Sportsfreund«, sagte eine forsche Stimme zum Barmann. »Heute zahlt der Onkel. Wie geht’s? Wie wär’s dort drüben in der Ecke. Die Zeitung nicht vergessen.«
Ich erspare dir die Details unserer Brautzeit, Jack. Wenn zwei Menschen beschlossen haben, miteinander ins Bett zu gehen, sind alle Präliminarien eher eine Sache der Form, nicht des Inhalts. Außerdem weiß ich nicht mehr genau, welche Vorwände wir ausheckten, denn Michael war ein schüchterner Mensch, der den größten Teil seines Lebens auf See verbracht hatte, und seine seltenen philosophischen Wallungen entfuhren ihm wie Rauchsignale, während er sich mit einem karierten Taschentuch auf den Mund patschte. »Irgendwer muß die Rohre putzen, alter Junge, Feuer mit Feuer, einziges Mittel – oder die Scheißer klauen uns den Kahn unterm Hintern weg – was mir nicht lieb wäre, danke bestens.« Letzteres ein extrem unterkühltes Glaubensbekenntnis, das er sofort in einem Schluck Bier ertränkte. Michael war der erste deiner Stellvertreter, Jack, also laß ihn für alle stehen. Nach Michael kam, wenn ich mich recht erinnere, David, und nach David ein Alan, und nach Alan weiß ich’s nicht mehr. Pym sah bei keinem von ihnen einen Mangel. Oder wenn doch, dann interpretierte er ihn flugs als teuflisch schlaue Tarnung. Heute weiß ich natürlich, was diese armen Seelen wirklich waren: Angehörige jener großen verlorenen Familie der britischen berufslosen Klassen, die zwischen den Geheimdiensten, den Automobilclubs und den reicheren privaten Wohltätigkeitseinrichtungen zu pendeln scheinen. Keineswegs schlechte Menschen. Auch keine unredlichen. Auch keine dummen. Aber Menschen, denen die Gefährdung ihrer Klasse gleichbedeutend ist mit der Gefährdung Englands, und die nie weit genug herumgekommen waren, um den Unterschied zu bemerken. Bescheidene, praktische Menschen, die ihre Spesenabrechnungen ausfüllen und ihr Gehalt kassieren und ihren Joes durch die ruhige Fachkenntnis imponieren, die sich hinter ihrem Getue verbirgt. Und die doch insgeheim von denselben Illusionen lebten, von denen Pym damals lebte. Und dabei müssen die Joes ihnen helfen. Sorgenvolle Männer, mit einem Geruch nach Gasthausessen und Squash-Club behaftet und mit der Gewohnheit, sich beim Zahlen umzusehen, wie nach einem besseren Leben. Und während Pym von Hand zu Hand ging, tat er alles, um jedem zu gehorchen und zur Ehre zu gereichen. Er glaubte an sie, er erheiterte sie mit witzigen Geschichten aus seinem stets wachsenden Repertoire. Er lud sie ein und mühte sich, ihnen etwas zu bieten. Und wenn sie gehen mußten, hatte er immer noch ein letztes Goldkorn Information auf Lager, das sie mit nach Hause nehmen und ihren Eltern zeigen konnten, auch wenn er es manchmal erfinden mußte.
»Wie geht’s dem Oberstleutnant?« platzte Pym eines Tages heraus und bedachte zu spät, daß Michael offiziell noch immer einen Oberstleutnant Gaunt vertrat.
»Eine Frage, die ich persönlich nie stelle, alter Junge«, sagte Michael und schnalzte zu Pyms Verwunderung mit den Fingern, als rufe er einen Hund herbei.
Existierte Rob Gaunt? Pym sah ihn nie, und später, als seine Stellung eine solche Frage zugelassen hätte, konnte er niemanden finden, der zugab, von Gaunt gehört zu haben.
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Jetzt kommen die braunen Kuverts dick und rasch nacheinander, oft mehrere in einer Woche. Der Collegepförtner ist schon so an sie gewöhnt, daß er sie unbesehen in Pyms Fach steckt, und Pym muß ein zweites Wörterbuch aushöhlen, um sie zu bergen. Immer enthalten sie Instruktionen, und manchmal enthalten sie kleine Barbeträge, die von den Michaels als seine Zitterprämie bezeichnet werden. Noch besser ist Pyms Ermessensspielraum für operative Ausgaben, der bis zu sagenhaften zwanzig Pfund reicht: Für Bewirtung Sekretärin der Hegelgesellschaft, sieben Shilling neun Pence … Spende an Bewegung Friede in Korea, fünf Shilling … Flasche Sherry für Versammlung Gesellschaft für Kulturaustausch mit der UdSSR, vierzehn Shilling … Busfahrt nach Cambridge zwecks Geschäftsbesuch bei C.U. Mitgliedern plus Bewirtung, ein Pfund fünfzehn Shilling neun Pence. Anfangs ist Pym schüchtern in seinen Forderungen, er fürchtet, die Gunst seiner Vorgesetzten überzustrapazieren. Der Oberstleutnant wird einen billigeren Mann finden, einen reicheren, einen, der weiß, daß ein Gentleman nicht aufs Geld sieht. Aber langsam dämmert ihm, daß seine Ausgaben, weit entfernt, seinen Meistern zu mißfallen, als Beweis für seinen Fleiß gelten.
Lieber alter Freund – schrieb Michael, entsprechend seiner eigenen Order, wonach Namen zu vermeiden seien, der Feind könnte unsere Brief abfangen – Elf. Ihr Acht dankend erhalten, eine Perle wie üblich. Ich habe mir erlaubt, Ihre Darstellung des letzten Chorkonzerts der Sippe unserem Herrn und Meister hinaufzureichen, und ich sah den alten Knaben nie mehr so herzlich lachen, seit seine Tante sich den linken Dingsda im Sie-wissen-schon eingeklemmt hat. Brillant und informativ, dear Sir, nehmen Sie zur Kenntnis, daß der große Manitu persönlich ihre Ausdauer kommentiert hat. Jetzt zur üblichen Einkaufsliste:
1. Sind Sie sicher, daß unser werter Schatzmeister sich mit Z und nicht mit S schreibt? Im amtlichen Grundbuch steht ein Abraham S, Mathematiker, ehemals an der Manchester Grammar School, der ins Bild paßt, aber entschieden kein Z. (Obwohl es natürlich immer möglich ist, daß ein Herr aus seinen Kreisen beide Schreibweisen benutzt.) Nichts forcieren, wie der Bischof sagte, aber wenn Dame Fortuna Ihnen die Antwort zuflüstert, bitte uns wissen zu lassen …
2. Bitte halten Sie Ihr stets gespitztes Ohr bereit, wenn die Rede davon ist, ob unsere wackeren schottischen Brüder für das Jugendfestival in Sarajewo im Juli eine Abordnung zusammenstellen wollen. Die maßgebenden Stellen sind unverständlicherweise sauer auf Herren, die namhafte Regierungsgelder annehmen, nur um ins Ausland abzuschwirren und dort auf besagte Regierung zu spucken.
3. Betreffs des berühmten Sängers von der Universität Leeds, der am 1. März vor dem Clan auftreten wird: bitte haben Sie ein offenes Ohr und Auge für seine getreue Gattin Magdalene, (Gott steh uns bei!), die als ebenso musikalisch gilt wie ihr Alter, sich jedoch ihrer heiklen wissenschaftlichen Interessen wegen lieber im Hintergrund hält. Alle Kommentare freudig begrüßend …
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Warum hat Pym es getan, Tom? Im Anfang war die Tat. Nicht der Sinn und schon gar nicht das Wort. Es war seine eigene Wahl. Es war sein eigenes Leben. Niemand hat ihn gezwungen. An jedem Punkt seiner Laufbahn – oder schon zu Anfang – hätte er »Nein!« schreien und sich selber überraschen können. Er tat es nie. Es dauerte nochmals zehn Universitätsgenerationen, ehe er das Handtuch warf, und dann war seine Bahn längst festgelegt, jede Bahn. Warum hat er Freiheit und Glück geopfert, wirst du fragen, sein gutes Aussehen, sein gutes Herz und seine gute Laune, gerade, als sie endlich zum Tragen kamen? Warum sich mit einem Haufen schmutziger und unglücklicher Leute fremder Herkunft und Mentalität angefreundet, sich ihnen aufgedrängt, immer lächelnd und dienstwillig – denn glaub mir, die akademische Linke hatte damals allen Glanz verloren, Berlin und Korea hatten damit ein für allemal aufgeräumt –, nur, um sie verraten zu können? Warum ganze Nächte in Hinterzimmern sitzen, mit mürrischen Mädchen aus der Provinz, die finsteren Blicks Nußkoteletts aßen und in Volkswirtschaft mit Eins abschlossen, nur, um eine Weltanschauung zu bekunden, die er sich erst im Lauf der Zeit und unter geistigen Verrenkungen aneignen mußte, warum sich mit billigen Zigaretten umbringen und leidenschaftlich beipflichten, daß alles, was Spaß macht, eine verdammte Schweinerei ist? Warum ihnen einen Father Murgo vorspielen, seine bourgeoise Herkunft ihrer Verachtung preisgeben, sich erniedrigen, in ihrer Mißbilligung schwelgen und doch keine Absolution erwirken – nur, um davonzustürzen und in einem Schwall ausgeschmückter Berichte über die Nachtsitzungen sein ganzes Gewicht in die andere Waagschale zu werfen? Ich sollte es wissen. Ich habe es getan, und ich habe andere dazu gebracht, und ich wurde nie wankend in meiner Überzeugung. Für England. Damit die freie Welt des Nachts ruhig in ihrem Bett schlafen konnte, während geheime Wächter ihres rauhen Amtes walteten. Für die Liebe. Um ein guter Kamerad zu sein, ein guter Soldat.
Abie Zieglers Name stand, ob mit Z oder S, in Großbuchstaben auf jedem linken Plakat in jeder College-Halle der Universität, Ehrenwort. Abie war ein publicitysüchtiger, pfeifenrauchender Sexbold, ungefähr einszwanzig groß. Sein einziger Ehrgeiz im Leben war, Beachtung zu finden, und er sah in der geschwächten Linken den schnellen Weg zu diesem Ziel. Es gab für Michael und seine Leute ein Dutzend simple Möglichkeiten, über Abie alles zu erfahren, was sie wollten, aber Pym mußte ihr Mann sein. Der große Spion wäre zu Fuß bis nach Manchester gelaufen, nur, um im Telefonbuch nach Siegler oder Ziegler zu suchen, mit solchem Schwung hatte er sich in seine geheime Mission geworfen. Das ist kein Verrat, redete er sich ein, so lange er der Mann der Michaels war: das ist das einzig Wahre. Diese mißtönenden Männer und Frauen mit ihren Collegeschals und komischen Akzenten, die mich ihren bourgeoisen Freund nennen, sind meine eigenen Landsleute, die unsere Gesellschaftsordnung aus den Angeln heben wollen. Für sein Land, oder wie immer er es nannte, adressierte Pym Briefkuverts und lernte die Adressen auswendig, spielte bei öffentlichen Versammlungen den Festordner, marschierte in mutlosen Kolonnen mit und schrieb danach auf, wer teilgenommen hatte. Für sein Land machte er jede Drecksarbeit, wenn sie ihn in Gunst brachte. Für sein Land oder für die Liebe oder für die Michaels stand er spätnachts an Straßenecken und verteilte unlesbare marxistische Flugschriften an Passanten, die zu ihm sagten, er gehöre längst ins Bett. Warf dann die restlichen Exemplare in einen Gully und zahlte mit eigenem Geld in die Parteikassen, weil er zu stolz war, es von den Michaels zu fordern. Und wenn zuweilen, während er noch spät an der Abfassung seines minutiösen Berichts über die Revolutionäre von morgen saß, Axels Geist vor ihm Gestalt annahm und ihn Axels Schrei: »Pym, du Schuft, wo bist du?« im Ohr klang, konnte Pym ihn mit einer Kombination aus der Logik der Michaels und seiner eigenen verscheuchen. »Du warst der Feind meines Landes, auch wenn du mein Freund warst. Du warst ungesund. Du hattest keine Papiere. Bedaure.«
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»Wieso rennst du denn mit all den Roten rum?« fragte Sefton Boyd eines Tages schläfrig, als sie bäuchlings im Gras lagen. Sie waren in seinem Sportwagen zum Lunch nach Godstow hinausgefahren und rasteten jetzt auf einer Wiese über dem Wehr. »Jemand hat gesagt, er hat dich bei der Cole-Gruppe gesehen. Du hast eine läppische Rede über den Wahnsinn des Krieges geschwungen. Was ist eigentlich diese Cole-Gruppe?«
»Eine Diskussionsgruppe, von G. D. H. Cole geleitet. Sie sucht die Zugangswege zum Sozialismus.«
»Andersrum?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Anderer Leute Zugangswege erforschen! Ich habe deinen dreckigen Namen auch auf einem Plakat gesehen. College-Sekretär des sozialistischen Clubs. Ich meine, Herrgott, du bist schließlich im Grid.«
»Ich möchte alle Seiten kennenlernen«, sagte Pym.
»Die Sozis sind nicht alle Seiten. Wir schon. Sie sind eine Seite. Sie haben sich halb Europa unter den Nagel gerissen und sind die letzte Scheißbande. Laß dir’s gesagt sein.«
»Ich tu’s für mein Land«, sagte Pym. »Es ist geheim.«
»Bockmist«, sagte Sefton Boyd.
»Ehrlich. Ich kriege jede Woche Instruktionen aus London. Ich bin im Secret Service.«
»So, wie du bei Grimble in der deutschen Wehrmacht warst«, meinte Sefton Boyd. »Wie du bei Willow Himmlers Tante warst. Wie du Grimbles Frau gevögelt hast und dein Vater für Winston Churchill Kurierdienste gemacht hat.«
Es kam ein Tag, lang versprochen und oft verschoben, an dem Michael Pym einlud, seine Familie kennenzulernen. »Erstklassiges Material«, warnte Michael ihn in einem vorsorglichen Schreiben vor seiner Frau. »Verstand messerscharf. Keine Gnade.« Mrs. Michael erwies sich als eine mannstolle, schnell welkende Frau mit hochgeschlitztem Rock und tief ausgeschnittener Bluse über einem wenig verlockenden Dekolleté. Während ihr Mann im Schuppen beschäftigt war, wo er zu wohnen schien, mixte Pym kunstlos den Yorkshire-Pudding und wehrte ihre Attacken ab, bis er zu den Kindern in den Garten flüchten mußte. Als es regnete, lotste er die Kleinen ins Wohnzimmer und postierte sie rings um sich wie einen Schutzwall.
»Magnus, welche Vornamen hat Ihr Vater?« fuhr Mrs. Michael ihn von der Tür her an. Ich höre noch heute ihr Stimme, nörgelnd und bohrend, als hätte ich gerade ihr letztes Smartie gegessen, nicht abgelehnt, mit ihr nach oben und ins Bett zu hopsen.
»R. T.«, sagte Pym.
Sie hielt eine Sonntagszeitung in der Hand, die sie offenbar in der Küche gelesen hatte.
»Also, hier steht, ein R.T. Pym kandidiert für die Liberalen in Gulworth North. Er wird als Philanthrop und Immobilienmakler bezeichnet. Es kann doch keine zwei geben, oder?«
Pym nahm ihr die Zeitung ab. »Nein«, gestand er und starrte Ricks Porträt, Mann mit rotem Setter an, »kann es nicht.«
»Aber sagen hätten Sie’s uns schon können. Ich meine, Sie sind schrecklich reich und was Besseres, das weiß ich, aber so etwas ist für Leute wie uns schrecklich aufregend.«
Krank vor Angst kehrte Pym nach Oxford zurück und zwang sich, wenn auch nur flüchtig, Ricks vier letzte Briefe zu lesen, die er ungeöffnet in die Schreibtischlade geworfen hatte, zu Axels Grimmelshausen und anderen unbezahlten Rechnungen.
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Der dreiundfünfzigjährige Pym fröstelte unter seinem Kamelhaarschlafrock. Es hatte ihn plötzlich überfallen, wie schon manchmal, ein Fieber ohne erhöhte Temperatur. Er hatte seit dem Aufwachen geschrieben, nach seinem Bart zu urteilen, viele Stunden. Das Frösteln wurde zum Schüttelfrost, wie immer. Seine Nackenmuskeln verspannten sich, er spürte ein Ziehen an der Rückseite der Schenkel. Er fing an zu niesen. Zuerst lang und wie zur Probe. Das zweite »Hatschi!« folgte wie ein Antwortschuß. Sie kämpfen um mich, dachte er: die guten und die bösen Buben tragen in mir ihr Duell aus. Hatschi! O Gott, sei meiner Seele gnädig. Hatschi! O Herr, vergib ihm, denn er wußte nicht, was er tat. Er stand auf, hielt eine Hand vor den Mund und drehte mit der anderen die Gasheizung höher. Beide Arme um sich geschlagen, begann er einen Zellengang durch das Zimmer und sackte bei jedem Schritt in die Knie. Von einer Ecke von Miss Dubbers Teppich aus setzte er Fuß vor Fuß, zehnmal, machte eine fünfundvierzig Grad-Wendung und maß weitere neun Fußlängen ab. Er blieb stehen und blickte auf das Rechteck, das er ausgemessen hatte. Wie hat Rick es ausgehalten? fragte er sich. Wie Axel? Er hob die Arme waagerecht und verglich die Breite der Zelle mit seiner eigenen Spannweite. »Mein Gott«, flüsterte er laut, »ich passe kaum hinein.«
Er nahm die stahlverstärkte Tasche auf, die er noch immer nicht geöffnet hatte, trug sie zum Feuer und blieb dort sitzen, die Stirn gerunzelt, die Augen in die Flammen gerichtet, während der Schüttelfrost heftiger wurde. Rick hätte sterben sollen, als ich ihn tötete. Pym flüsterte die Worte laut, zwang sich, sie zu hören. »Du hättest sterben sollen, als ich dich tötete.« Er setzte sich wieder an den Schreibtisch. Jeder Federstrich ist ein Strich durch meine Vergangenheit. Du tust es einmal, dann stirbst du. Er schrieb schnell. Und während er schrieb, kehrte sein Lächeln zurück. Liebe ist, was man noch verraten kann, dachte er. Verrat üben kann man nur, wenn man liebt.
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Auch Mary betete jetzt. Sie kniete auf ihrem Betpolster aus der Schule, die Augen ins Dunkel ihrer Hände getaucht, und sie betete, daß sie nicht mehr in der Schule sein möge, sondern in der kleinen angelsächsischen Kirche von Plush, die zum Anwesen gehörte, wo ihr Vater und ihr Bruder schützend zu beiden Seiten knieten, und der Colonel, Vikar der Hochkirche, seine Feuerbefehle bellte und das Rauchfaß dröhnen ließ wie einen Casinogong. Oder daß sie neben ihrem eigenen Bett in ihrem eigenen Zimmer kniee, im Nachthemd mit gebürstetem Haar und gerecktem Popo, und bete, niemand solle sie wieder ins Internat schicken. Doch so viel Mary auch betete und flehte, sie wußte, daß sie nirgendwo hingeschickt würde, sondern bleiben mußte, wo sie war, in der Englischen Kirche von Wien, wo ich jeden Mittwoch den Frühgottesdienst mit der üblichen mobilen Truppe aufstrebender Christen besuche, angeführt von dem britischen Botschafter und der Frau des amerikanischen Geistlichen und flankiert von Caroline Lumsden, Bee Lederer und einem schweren Kontingent von Holländern, Norwegern und dem Fußvolk aus der Deutschen Botschaft nebenan. Fergus und Georgie thronen in der Bank hinter mir, alle beide ohne einen frommen Gedanken. Tom ist im Internat, nicht ich, und Magnus, nicht Gott, ist allgegenwärtig, allwissend und doch unsichtbar und hat die Schlüssel zu unser aller Schicksal. Also, Magnus, du Schuft, wenn noch ein echter Faden an dir ist, tu mir gefälligst die Liebe und neige dich aus deinem Himmel und sag mir in deiner unendlichen Güte und Weisheit – ausnahmsweise einmal ohne Lüge, Ausflucht und Verbrämung –, was zum Teufel ich mit deinem lieben alten Freund vom Cricketplatz auf Korfu anfangen soll, der ohne zu beten in derselben Bankreihe sitzt wie ich, nur auf der anderen Seite des Mittelgangs, auf der Brautseite, schlank, und gebeugt, mit einem Salzund Pfefferschnurrbart und abfallenden Schultern, genau wie Tom ihn beschrieben hatte, bis hin zu dem feinen Netz aus Lachfältchen um die Augen und dem grauen Regenmantel, den er wie ein Cape umhängen hat. Denn dies ist weder das erste Erscheinen deines grauen Engels, noch das zweite. Es ist das dritte und einfallsreichste in zwei Tagen, und jedesmal, wenn ich nichts dagegen unternehme, fühle ich ihn einen Schritt näherrücken, und wenn du nicht bald zurückkommst und mir sagst, was ich tun soll, kann es sein, daß du uns zusammen im Bett findest, denn, wie du mir in Berlin sooft versichert hast, nichts geht schließlich über ein bißchen Sex, wenn man Spannungen abbauen und gesellschaftliche Schranken wegräumen will.
Giles Marriott, der englische Kaplan, lud alle ein, die reinen Herzens und demütigen Geistes sind, an den Tisch des Herrn zu treten. Mary stand auf, glättete ihren Rock und trat in den Gang. Caroline Lumsden nebst Mann waren vor ihr, aber die fromme Sitte gebot, daß man sich erst nach dem Sakrament grüßte, nicht vorher. Georgie und Fergus blieben eisern in ihrer Bank, sie waren zu stolz, um ihren Agnostizismus der Tarnung zu opfern. Oder sie wissen einfach nicht, wie man’s macht, dachte Mary. Sie faltete die Hände unterm Kinn und senkte rasch wieder den Kopf im Gebet. O Gott, o Magnus, o Jack, sagt mir, was ich jetzt tun soll! Er steht direkt hinter mir, ich rieche den kalten Zigarrenrauch. Tom hatte auch das erwähnt. Auf dem Flugplatz war es ihm eingefallen. »Er hat kleine Zigarren geraucht, Mum, wie Dad, als er sich die Zigaretten abgewöhnte.« Und er ist aus seiner Bank gehinkt. Er ist in den Mittelgang gehinkt. Ein Dutzend Leute oder mehr hatten sich hinter Mary gereiht, einschließlich der Botschafterin, ihrer pickeligen Tochter und einer Herde Amerikaner. Aber Hinken ist Hinken, und gute Christen machen halt und lächeln und lassen ihm den Vortritt, und so war er hinter ihr, der bevorzugte Empfänger der allgemeinen Nächstenliebe. Und sooft die Schlange sich einen Schritt näher zum Altar schiebt, hinkt er so vertraulich, als klappste er mich aufs Hinterteil. Mary hatte nicht gewußt, daß man so einschmeichelnd, so schamlos, so skandalös hinken konnte. Seine belustigten Augen verbrannten ihr den Rücken, sie konnte sie fühlen. Sie konnte fühlen, wie ihr Nacken brannte und ihr Gesicht glühte, als der Augenblick der göttlichen Speisung nahte. An der Altarschranke machte gerade Ella Forbes, die Frau des Verwaltungschefs, eine Kniebeuge, ehe sie auf ihren Platz zurückging. Sie hat’s nötig, so, wie sie es mit dem jungen Wachoffizier treibt. Mary trat dankbar vor und kniete nieder. Laß mich in Ruhe, du Schleicher, bleib auf deiner Seite. Der Schleicher tat es auch, aber seine leise gemurmelten Worte tönten in ihrem Kopf wie Hornsignale. »Ich kann helfen, ihn zu finden. Ich schicke Ihnen eine Botschaft ins Haus.«
Die Fragen schrillten im Chor in Marys Kopf. Wie schicken? Welche Botschaft? Würde er sie in Sachen ihres Treuebruchs instruieren? Ihr erklären, warum sie, als sie gestern das internationale Damenkränzchen verließ, nicht einen anklagenden Arm ausgestreckt hatte, als er ihr über die Straße hinweg zugelächelt hatte? – warum sie nicht Georgie und Fergus zugeschrien hatte, »Verhaften Sie diesen Mann!«, obwohl die beiden nur ein paar Meter von der Tür entfernt parkten, aus der er aufgetaucht war, so unbekümmert, wie nie zuvor ein Spion. Oder später, als er in Swabs Supermarkt ganz in ihrer Nähe stand?
Giles Marriott starrte verwirrt auf sie herunter, als er ihr zum zweitenmal den Leib Christi bot, der für uns hingegeben ist. Hastig legte Mary die Hände so, wie sie es als Kind gelernt hatte – die rechte kreuzweise über die linke. Er legte die Oblate hinein. Sie hob sie zum Mund und fühlte, wie die Hostie an ihrer trockenen Zunge klebte und dann wie ein Klotz darauf lag. Nein, ich bin nicht würdig, dachte sie elend, als sie auf den Kelch wartete. Es stimmt. Ich bin nicht würdig, an diesen Deinen Tisch zu treten oder an irgendeinen anderen Tisch. Jeder Augenblick, in dem ich ihn nicht anzeige, ist ein weiterer Augenblick des Treuebruchs. Er verführt mich, und ich höre auf ihn. Er zieht mich an sich, und ich sage: »Ja, bitte.« Ich sage: »Ich komme, um Magnus’ und um meines Kindes willen.« Ich sage: »Ich komme, wenn du die Klarheit bist, und wärst du auch das Böse in Person. Denn ich suche ein Licht, irgendeines, und bin schon halb verrückt in der Dunkelheit. Ich werde zu dir kommen. Denn du bist Magnus’ andere Hälfte und daher auch meine andere Hälfte.« Als sie zu ihrem Platz zurückging, fing sie Bee Lederers Blick auf. Die beiden Frauen tauschten ein frommes Lächeln.