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Ein schwarzer und düsterer Tag war das damals Tom, wie fast jeder Sabbat in dieser Gegend. Ich hab als Kind meinen Teil davon gesehen, und an einen sonnigen Sabbat erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich auch kaum an die freie Natur, außer wenn ich wie ein kindlicher Verbrecher zur Kirche geschleppt wurde. Aber ich greife vor, denn an diesem Tag war Pym noch nicht geboren. Die Zeit der Handlung liegt das ganze Leben deines Vaters plus ein halbes Dutzend Monate zurück, der Ort eine Küstenstadt, nicht sehr weit von dieser hier, nur an einem steileren Hang gelegen und mit einem dickeren Kirchturm – aber der hier tut’s auch. Ein zugiger, nasser, schicksalhafter Vormittag, wie ich wohl behaupten darf, und ich, wie gesagt, ein noch ungeborener Geist, nicht bestellt, nicht ausgetragen und gewiß nicht bezahlt: ein taubes Mikrophon, sozusagen, gepflanzt aber inaktiv in jedem außer im biologischen Sinn. Altes Laub, alte Tannennadeln und altes Konfetti kleben auf den nassen Kirchenstufen, als die bescheidene Prozession von Betern einzieht, um ihre wöchentliche Dosis von Verdammnis oder Erlösung zu empfangen, obwohl ich zwischen beidem nie besonders viel zu wählen sah. Und ich selber, ein stummer und herankeimender Spion, der unbewußt seinen ersten Auftrag erfüllt, an einem Ort, der normalerweise keine Ziele bietet.

Außer, daß heute irgend etwas in der Luft liegt. Eine Unruhe geht um, und ihr Name ist Rick. Ein unheiliger Funke, den die frommen Beter nicht ersticken können, und er kommt aus ihrem Inneren, aus dem schwelenden Zentrum ihrer dunklen kleinen Welt, und Rick ist sein Herr und sein Ursprung und sein Anstifter. Man kann es überall ablesen: am drohenden, gewichtigen Schritt des braungekleideten Diakons, am Flattern und Schnaufen der behüteten Damen, die atemlos hereinstürzen, weil sie glauben, zu spät zu kommen, und dann dasitzen und unter dem weißen Puder erröten, weil sie zu früh gekommen sind. Alles gespannt, alles auf Zehenspitzen, und eine erstklassige Sitzauslastung, wie Rick voll Stolz gesagt hätte, vermutlich sogar hat, denn er liebte ein volles Haus, was immer auf dem Programm stand, und wäre es seine eigene Hinrichtung. Ein paar von ihnen kamen im Auto – in den Wundern jener Zeit wie Lanchesters und Singers –, andere mit dem Bus und ein paar zu Fuß; und Gottes Seeregen hat ihnen in ihren billigen Fuchsstolen Frostbärte wachsen lassen, und Gottes Seewind schneidet durch den abgetragenen Stoff ihres Sonntagsstaats. Dennoch ist keiner unter ihnen, wie immer er hierher kam, der dem Wetter nicht noch eine Sekunde länger trotze, um vor dem Anschlagbrett stehenzubleiben und zu glotzen und mit eigenen Augen bestätigt zu sehen, was ihm der Buschtelegraf schon seit Tagen mitteilt. Zwei Plakate sind angeschlagen, beide vom Regen verwaschen, beide für die Passanten so fad wie kalter Tee. Doch denen, die den Code kennen, übermitteln sie ein elektrisierendes Signal. Das erste, orangerote, ist der Fünftausend Pfund Spendenaufruf des Baptistischen Frauenbundes zur Einrichtung eines Lesesaals – obwohl alle wissen, daß dort niemand je ein Buch lesen wird, daß es dort nur selbstgebackene Kuchen und Fotos von aussätzigen Kindern im Kongo geben wird. Ein Sperrholz-Thermometer, von Ricks besten Künstlern gefertigt, und am Geländer befestigt, zeigt an, daß der erste Tausender schon erreicht ist. Die zweite Bekanntmachung in grün besagt, die heutige Ansprache werde vom Gemeindepfarrer gehalten, jedermann sei willkommen. Aber diese Information war berichtigt worden. Eine förmliche Verlautbarung ist darübergeklebt, ganz in unheilverkündenden Großbuchstaben getippt, wie ein amtlicher Aushang:

AUFGRUND UNVORHERGESEHENER UMSTÄNDE WIRD SIR MAKEPEACE WATERMASTER, FRIEDENSRICHTER UND LIBERALER PARLAMENTSABGEORDNETER DIESES WAHLKREISES, DIE HEUTIGE BOTSCHAFT VERKÜNDEN. DAS SPENDEN-KOMITEE WIRD GEBETEN, ANSCHLIEßEND ZU EINER AUßERORDENTLICHEN VERSAMMLUNG ZU BLEIBEN.

Makepeace Watermaster persönlich? Und sie wissen, warum. In einem anderen Land sammelt Hitler seine Kräfte, um die Welt in Brand zu stecken, in Amerika und Europa breiten sich die Drangsale der Depression wie eine unheilbare Seuche aus, und Jack Brotherhoods Vorgänger schüren sie oder nicht, je nach der Tages-Doktrin, die in den abgelegeneren Korridoren Whitehalls gilt. Doch die Gemeinde erdreistet sich nicht, über diese Aspekte von Gottes unerforschlichem Ratschluß eigene Meinungen zu hegen. Sie sind Kinder der Nonkonformistischen Kirche, und ihr zeitlicher Oberhirte ist Sir Makepeace Watermaster, der größte Prediger und Liberale, der je geboren ward, und einer der Höchsten im Land, der ihnen aus eigener Tasche dieses Haus erbaut hat. Hat er natürlich nicht. Sein Vater Goodman hat es erbaut, aber seit Makepeace seinen Titel ergatterte, vergißt er geflissentlich, daß es seinen Vater je gab. Der alte Goodman war Waliser, ein predigender, singender, verwitweter, elender Töpfer mit zwei Kindern, fünfundzwanzig Jahre im Alter auseinander, von denen Makepeace das ältere ist. Goodman kam hierher, nahm Lehmproben, schnupperte die Seeluft und errichtete eine Tonwarenfabrik. Ein paar Jahre danach baute er zwei weitere Fabriken und importierte billige Arbeitskräfte, zuerst arme Waliser wie er und später noch billigere und noch ärmere verfolgte Iren. Goodman ließ sie in seinen werkseigenen Cottages wohnen, an seinen Hungerlöhnen fast krepieren und bläute ihnen von seiner Kanzel aus die Furcht vor der Hölle ein, ehe er selber ins Paradies abberufen wurde, wie sein bescheidenes zweitausend Meter hohes Denkmal bezeugt, das bis vor ein paar Jahren im Vorhof der Fabrik stand, ehe der ganze Komplex abgerissen wurde, um für eine Bungalow-Siedlung Platz zu machen, kein Verlust.

Und heute steigt AUFGRUND UNVORHERGESEHENER UMSTÄNDE unser Makepeace, Goodmans einziger Sohn, von seiner hohen Warte herab – obwohl die Umstände von jedem außer ihm vorhergesehen wurden, so mit Händen zu greifen sind wie die Kirchenbänke, in denen wir warten, so unverrückbar wie die Watermaster-Fliesen, an denen die Bänke festgeschraubt sind, so schicksalsträchtig wie die mißtönende Glocke, die in ihrem Turm nach jedem Schlag ächzt und quiekt wie eine sterbende Sau, die sich gegen das gräßliche Ende wehrt. Stell dir vor, wie trübselig alles war: die jungen niedergehalten und angeödet, alles verboten, was sie erregte und interessierte – von den Sonntagszeitungen bis zum Papismus, von der Psychologie bis zu den Künsten, von dünner Unterwäsche bis zu gehobener und zu gedrückter Stimmung, von Lieben bis Lachen und wieder zurück, ich glaube nicht, daß es einen Winkel des Mensch-lichen gab, in den die Mißbilligung nicht reichte. Denn wenn du diese Trübseligkeit nicht begreifst, dann begreifst du die Welt nicht, aus der Rick fortstrebte, oder die Welt, der er zustrebte, oder den kitzelnden Reiz, der an diesem dunklen Sabbat wie ein Floh in jeder demütigen Menschenbrust kribbelt und juckt, während die letzten Glockentöne sich mit dem Trommeln des Regens mischen und das erste große Gerichtsverfahren in Ricks jungem Leben beginnt. »Rick Pym hat sich endlich den Strick gedreht«, heißt es. Und könnte ein furchtbarerer Henker als Makepeace persönlich, der Höchste im Land, Friedensrichter und liberaler Abgeordneter, ihm die Schlinge um den Hals legen?

Mit dem letzten Ton der Glocke verstummen auch die Klänge des Orgelsolos. Die Gemeinde hält den Atem an und beginnt, bis hundert zu zählen, während sie ihre Lieblingsschauspieler aufs Korn nimmt. Die beiden Damen Watermaster sind früh erschienen. Sie sitzen Schulter an Schulter in der Honoratiorenbank direkt unter der Kanzel. An fast jedem anderen Sonntag würde Makepeace dort zwischen ihnen thronen, mit seinen ganzen einsneunzig, den langen Kopf seitwärts geneigt, und mit seinen feuchten kleinen rosigen Ohren dem Orgelsolo lauschen. Aber nicht heute, denn heute ist ein Sonderfall, heute ist Makepeace in den Kulissen und konferiert mit unserem Pfarrer und ein paar besorgten Treuhändern des Spenden-Fonds.

Mrs. Makepeace, genannt Lady Nell, ist noch keine fünfzig, aber schon bucklig und verschrumpelt wie eine Hexe, und hat die Gewohnheit, unversehens den ergrauenden Kopf herumzuwerfen, als wehre sie Fliegen ab. Und an ihrer Seite – eine winzige ernste Statue neben Nells Ruckeln und Stumpfsinn – sitzt Dorothy, genannt Dot, eine untadelige Handvoll Dame, jung genug, Nells Tochter und nicht Makepeaces Schwester zu sein – und sie betet, betet zu ihrem Schöpfer, sie preßt die winzigen verkrampften Fäuste auf die Augen, während sie Ihm ihr Leben und ihren Tod zu weihen gelobt, wenn Er sie nur erhört und alles wieder zum Guten lenkt. Baptisten knien nicht vor Gott, Tom. Sie kauern. Aber meine Dorothy hätte sich flach auf die Watermasterschen Bodenfliesen geworfen und an jenem Tag die große Zehe des Papstes geküßt, wenn Gott sie noch einmal hätte davonkommen lassen.

***

Ich habe ein einziges Foto von ihr, und es gab Zeiten – obwohl sie für mich, das schwöre ich, nicht mehr tot ist –, da hätte ich meine Seele für ein zweites gegeben. Ich fand es in einer alten zerlesenen Bibel, als ich in Toms Alter war, in einem Vorstadthaus, das wir in großer Hast räumten. »Für Dorothy in aller erdenklichen Liebe, Makepeace«, lautete die Widmung auf der Innenseite der Bibel. Eins auf der ganzen Welt. Ein sepiabraunes fleckiges Foto ist alles, wie zur Rast auf einer Flucht steigt sie aus dem Taxi, Zulassungsnummer nicht im Bild; sie umklammert ein selbstgebundenes Sträußchen aus kleinen Blumen, Feldblumen vielleicht, und aus ihren großen Augen blickt mehr als unserem Seelenfrieden guttut. Ist sie auf dem Weg zu einer Hochzeit? Ihrer eigenen? Besucht sie eine kranke Verwandte – Nell? Wo ist sie? Wovor flieht sie diesmal? Sie hält die Blumen vor ihr Kinn und preßt die Ellbogen aneinander. Ihre Unterarme bilden eine senkrechte Linie von der Taille bis zum Hals. Lange Ärmel mit Bündchen an den Handgelenken. Musselinhandschuhe, daher sind keine Ringe zu sehen, obwohl ich am dritten Gelenk des dritten Fingers der linken Hand etwas wie eine Erhöhung zu erkennen glaube. Ein Glockenhut bedeckt ihr Haar und wirft wie ein Visier einen Schatten über die bestürzenden Augen. Schulter geneigt, als könne sie fallen, ein winziger Fuß seitlich ausgestellt, wie um das Gleichgewicht zu halten. Die hellen Strümpfe zeigen den Zickzack-Schimmer von Seide, die Lackschuhe sind spitz und geknöpft. Und irgendwie weiß ich, daß sie drücken, daß sie in Eile gekauft wurden wie ihre ganze Garderobe, in einem Geschäft, wo sie nicht bekannt ist und es nicht sein will. Der untere Teil ihres Gesichts bleich, wie eine Pflanze, die im Dunkeln wuchs – denk an The Glades, das Haus, in dem sie aufwuchs. Einzelkind wie ich, man sieht es auf den ersten Blick – wenn sie auch einen um fünfundzwanzig Jahre älteren Bruder hat.

Soll ich dir sagen, was ich einmal im Gartenhäuschen im großen dunklen Obstgarten der Watermasters fand, als ich dort, ein Kind wie sie, herumstreifte? Das Malbuch, das sie in der Bibelklasse gewonnen hatte, Das Leben Unseres Heilands in Bildern. Und weißt du, was meine geliebte Dot damit gemacht hat? Jedes heilige Gesicht mit Farbstiften wild ausgestrichen. Zuerst war ich entsetzt, dann begriff ich. Diese Gesichter waren die gefürchteten Gesichter aus der wirklichen Welt, an der sie keinen Anteil hatte. Sie genossen all die Freundschaft und das liebevolle Lächeln, das ihr nie zuteil wurde. Also übermalte sie sie. Nicht aus Zorn. Nicht aus Haß. Nicht einmal aus Neid. Sondern weil ihr solcher Lebenstrost vorenthalten war. Zurück zu dem Foto. Die Kieferpartie. Hart, ohne Lächeln, ohne Ausdruck. Der kleine Mund, fest zusammengepreßt und nach unten gezogen, um seine Geheimnisse zu bewahren. Dieses Gesicht kann sich keiner einzigen schlimmen Erinnerung oder Erfahrung entledigen, weil es keinen Menschen hat, mit dem es sie teilen könnte. Es ist dazu verdammt, alles für sich zu behalten, bis zu dem Tag, an dem es vor Überfrachtung zerbrechen wird.

Genug. Ich eile schon wieder den Ereignissen voraus. Dot, bzw. Dorothy, Familienname Watermaster. Keine Verbindung mit irgendeiner anderen Firma. Eine Abstraktion. Meine. Eine unwirkliche leere Frau, die ständig auf der Flucht war. Hätte sie mir den Rücken zugewandt und nicht das Gesicht, ich hätte sie nicht weniger gut kennen oder nicht heftiger lieben können.

***

Und hinter den Damen Watermaster, viel weiter hinten, so weit es das lange Kirchenschiff erlaubt, in der letzten, für sie reservierten Bank direkt neben den geschlossenen Türen, sitzt die Blüte unserer männlichen Jugend, Schlipse, stramm geknotet und durch die steifen Hemdkragen eingeengt, das angeklatschte Haar von einem messerscharfen Scheitel geteilt. Es sind die Abendschüler, wie sie liebevoll genannt werden, die künftigen Apostel unseres Bethauses, unsere künftigen Hoffnungen, unsere künftigen Seelenhirten, Ärzte, Missionare und Philanthropen, unsere künftigen Höchsten im Land, die eines Tages in die Welt hinausziehen und sie erretten werden, wie sie nie zuvor errettet wurde. Durch ihren Eifer haben sie die Aufgaben an sich gezogen, die üblicherweise älteren Männern anvertraut werden: das Verteilen der Gesangbücher und Besonderen Mitteilungen, das Herumreichen der Sammelteller und das Aufhängen der Mäntel. Und sie bringen auch per Fahrrad, Motorrad und in den Autos gütiger Eltern jede Woche unser Kirchenblättchen an jede gottesfürchtige Haustür, einschließlich der von Sir Makepeace Watermaster persönlich, dessen Köchin stehende Order hat, stets ein Stück Kuchen und ein Glas Zitronenlimonade für den Überbringer bereitzuhalten; sie kassieren die paar Shilling Miete in den armseligen kircheneigenen Cottages, steuern bei Kinderausflügen nach Brinkley Mere die Vergnügungsboote, spielen Gastgeber bei den weihnachtlichen Kuchenschlachten und bringen Schwung in die Christliche Missionswoche. Und sie haben auch, als direkten Auftrag Jesu, die Bürde der Spendenaktion für den Lesesaal auf sich genommen, Planziel fünftausend Pfund, zu einer Zeit, als eine Familie von zweihundert ein Jahr lang leben konnte. Keine Tür, an der sie auf ihrer Pilgerfahrt nicht geklingelt hätten. Kein Fenster, das zu putzen sie sich nicht erbötig machten, kein Blumenbeet, das sie nicht für Jesus gejätet und umgegraben hätten. Tag für Tag zog die junge Truppe aus, um lang nach Schlafenszeit der Eltern von Pfefferminzgeruch umweht heimzukehren. Sir Makepeace hat ihr Lob gesungen, desgleichen unser Pfarrer. Kein Sabbat ist vollständig, ohne eine Bitte an Unseren Vater, ihrer Beflissenheit zu gedenken. Und der rote Strich am Sperrholz-Thermometer ist wacker über die Fünfziger, die Hunderter geklettert bis zum ersten Tausender, wo er trotz all ihrer Bemühungen steckengeblieben war. Nicht, daß ihr Schwung nachgelassen hätte, weit gefehlt. Sie finden sich nicht mit Mißerfolgen ab. Makepeace Watermaster mußte sie nicht an die Legende von Robert Bruces Spinne erinnern, was er doch so häufig tut. Die Abendschüler sind spitze, wie wir sagen. Die Abendschüler sind die Elitetruppe Jesu, und sie werden die Höchsten im Land sein.

Sie sind fünf an der Zahl, und in ihrer Mitte sitzt Rick, ihr Gründer, Manager, spiritus rector und Schatzmeister, und träumt noch von seinem ersten Bentley. Rick, mit vollem Namen Richard Thomas, nach seinem teuren alten Vater, dem geliebten TP, der in den Schützengräben des Großen Krieges kämpfte, ehe er unser Bürgermeister wurde und vor nunmehr sieben Jahren verstarb, und was für ein Prediger war er, ehe sein Schöpfer ihn wieder zu sich holte! Rick, dein Großvater ohne Geschäftsbereich, Tom, weil ich nie zuließ, daß ihr zusammenkamt.

***

Ich habe zwei Versionen von Makepeaces Predigt, beide unvollständig, beide losgelöst von Zeit, Ort und Anlaß: vergilbte Zeitungsausschnitte, offenbar mit einer Nagelschere aus den Kirchlichen Nachrichten der Lokalzeitungen geschnippelt, die damals so getreulich über das Tun unserer Prediger berichteten, als wären sie unsere Fußballstars. Ich fand sie zusammen mit Dorothys Foto in ihrer Bibel. Makepeace beschuldigte niemanden ausdrücklich, Makepeace erhob keine Anklage. Wir sind im Land der Andeutungen; geradeheraus reden die Sünder. »M.P. warnt Jugend entschieden vor hemmungslosem Wunschdenken!« tönt der erste Artikel. »Gefahren jugendlichen Ehrgeizes glänzend beleuchtet.« In Makepeaces imponierender Persönlichkeit treffen sich, wie der anonyme Verfasser erklärt, »die keltische Anmut des Dichters, die Beredsamkeit des Staatsmanns, der eiserne Gerechtigkeitssinn des Gesetzgebers«. Die Gemeinde war »gebannt bis hin zum geringsten ihrer Mitglieder« – und niemand mehr als Rick selber, der in hingerissener Trance dasitzt und im Takt zu Makepeaces Rhetorik mit dem breiten Kopf nickt, obwohl jeder walisische Zungenschlag – für die erregten Ohren und Augen der Zuhörer – über die ganze Länge des Kirchenschiffs gegen Rick persönlich geschleudert und mit einem fahrigen Stoß des furchtgebietenden Watermasterschen Zeigefingers ins Ziel gerammt wird.

Die zweite Version schlägt einen weniger apokalyptischen Ton an. Der Höchste im Land wetterte nicht gegen die sündige Jugend, ganz im Gegenteil. Er bot dem jungen Gestrauchelten die rettende Hand. Er pries die Ideale der Jugend, verglich sie mit den Sternen. Wollte man dieser zweiten Version glauben, dann müßte man annehmen, Makepeace sei sternsüchtig geworden. Er kam nicht mehr von ihnen los, und der Artikelschreiber auch nicht. Sterne als unser Schicksal. Sterne, die weise Männer durch die Wüste geleiten, bis an die Wiege der Wahrheit. Sterne, die in das Dunkel unserer Verzweiflung leuchten, ja, sogar in den finsteren Pfuhl der Sünde. Sterne jeder Gestalt, für jede Gelegenheit. Sie scheinen über uns wie das Licht Gottes. Der Schreiber mußte Makepeace Watermaster mit Leib und Seele gehören, wenn es nicht Makepeace selber war. Niemand sonst hätte diesen furchterregenden abschreckenden Popanz auf der Kanzel so verschönen können. Obwohl meine Augen an jenem Tag noch nicht offen waren, sehe ich ihn so deutlich, wie ich ihn später in Fleisch und Blut sah und immer sehen werde: hoch wie einer seiner Fabrikschlote, und ebenso spitz zulaufend. Schwammig, mit schwachen schmalen Schultern und überquellendem Bauch. Einen gelenklosen Arm nach uns ausgekippt wie ein Eisenbahnsignal, an seinem Ende eine wedelnde Klumphand. Und das feuchte elastische Mündchen hätte ein Frauenmund sein sollen, ist sogar als Futteröffnung zu klein, dehnt sich und zieht sich zusammen wie in Wehen, um die entrüsteten Laute auszustoßen. Und als nach langer Zeit endlich genug gräßliche Drohungen ergangen sind und der Sünde Lohn hinlänglich gesichert ist, sehe ich ihn, wie er sich strafft und zurücklehnt und die Lippen leckt zum Abschiedskuß, den wir Kinder seit vierzig Minuten ersehnt haben, während wir die Beine übereinanderschlugen und fürs Leben gern Pipi gemacht hätten, egal, wie oft wir noch zuhause gepinkelt hatten. Ein Ausschnitt gibt diese letzte lächerliche Passage in voller Länge wieder, und ich will sie jetzt nochmals wiedergeben – so wie sie in der Zeitung standen –, diese Worte, die in keiner Watermaster-Predigt, die ich später jemals hörte, gefehlt haben, diese Worte, die zu einem Teil von Ricks Natur wurden und ihn sein ganzes Leben hindurch begleiteten und folglich auch mich, und es würde mich wundern, wenn sie ihm im Sterben nicht in den Ohren geklungen hätten und an seiner Seite gegangen wären, als er vor seinen Schöpfer hintrat, zwei Gefährten, die endlich vereint waren.

»Ideale, meine jungen Brüder im Herrn« – hier sehe ich Makepeace innehalten, wiederum Rick anglotzen und nochmals beginnen – »Ideale, ihr meine Brüder alle, gleichen jenen strahlenden Sternen über uns« – ich sehe ihn die traurigen sternenlosen Augen zur Holzdecke heben – »wir können sie nicht erreichen, Millionen Meilen trennen uns von ihnen« – ich sehe ihn die schlappen Arme ausstrecken, als wolle er einen fallenden Sünder auffangen – »aber, o meine Brüder im Herrn, wieviel Segen bringt uns ihr Vorhandensein!«

Merk dir das, Tom. Jack, du wirst mich für verrückt halten, aber diese Sterne sind trotz all ihrer Abgeschmacktheit ein elementares Stück operativen Nachrichtendienstes, denn sie verliehen Ricks unbeirrbarem Sendungsbewußtsein einen ersten Ausdruck, und dieses Bewußtsein verschwand auch nicht mit Rick; wie könnte es auch, denn was ist der Sohn eines Propheten anderes als eine lebende Prophezeiung, selbst wenn kein Mensch auf Gottes weiter Welt jemals dahinterkommt, was Vater oder Sohn eigentlich prophezeien? Makepeace muß wie alle großen Prediger auf einen letzten Vorhang oder Applaus verzichten. Dennoch hört man ganz deutlich in der Stille – ich habe Zeugen, die es beschwören –, Rick zweimal nacheinander »wunderschön« flüstern. Makepeace Watermaster hört es auch – scharrt mit seinen großen Füßen und verharrt auf den Kanzelstufen, blinzelt in die Runde, als habe jemand ihm einen Schimpfnamen zugerufen. Makepeace setzt sich, die Orgel intoniert »Das Ziel, nach dem das Herz sich sehnt«, Makepeace steht wieder auf, nicht sicher, wo er seinen lächerlichen kleinen Hintern plazieren soll. Das Lied hat sein trübseliges Ende erreicht. Die Abendschüler mit dem sternentrunkenen Rick in ihrer Mitte ziehen durch das Kirchenschiff und schwärmen in wohl exerzierter Bewegung an ihren jeweiligen Posten aus. Rick, ausnehmend adrett heute, wie an jedem Sonntag, hält den Damen Watermaster den Sammelteller hin, seine blauen Augen strahlen göttliche Kunde. Wieviel werden sie geben? Wie rasch? Die Stille macht diese Fragen noch spannender. Zuerst ist Lady Nell dran, die ihn warten läßt, während sie in ihrer Handtasche stochert und flucht, aber Rick ist ganz Langmut, ganz Liebe, ganz Sterne heute und jeder Dame, ohne Rücksicht auf Alter und Schönheit, wird die Gnade seines ergriffenen und heiligmäßigen Lächelns zuteil. Doch während Nell geziert zurücklächelt und versucht, sein wohlgeglättetes Haar zu zausen und über seine breite christliche Stirn zu zupfen, blickt meine kleine Dot nirgendwohin, nur zu Boden, betet noch immer, betet sogar im Stehen, und Rick muß ihr tatsächlich auf den Arm tippen, um sie auf seine gottähnliche Nähe aufmerksam zu machen. Ich kann seine Berührung jetzt am eigenen Arm spüren, und sie schickt einen Stromstoß aus halbherzigem Abscheu und Ergebenheit durch meinen ganzen Körper. Die Abendschüler reihen sich vor dem Tisch des Herrn auf, der Pfarrer nimmt die Opfergaben entgegen, spricht mechanisch einen Segen und gebietet allen, mit Ausnahme des Spenden-Komitees, sofort und still hinauszugehen. Die »unvorhergesehenen Umstände« nehmen ihren Anfang und mit ihnen die erste große Verhandlung gegen Richard T. Pym – die erste von vielen, gewiß, aber eben die eine, die ihn auf den Geschmack bringt.

***

Ich habe ihn hundertmal dastehen sehen wie an jenem Morgen. Rick allein, düster blickend am Eingang eines überfüllten Saals. Rick, Sohn seines Vaters, das Gewicht eines großen Erbes furcht seine Stirn. Rick wartend wie Napoleon vor der Entscheidungsschlacht, daß die Trompeten zum Angriff blasen. Niemals hat er einen Auftritt verschenkt, nie das Timing verpatzt oder die Wirkung verfehlt. Was immer man bis dato gedacht hatte, konnte man vergessen: das Thema des Tages war soeben einmarschiert. So ist es auch an jenem regnerischen Sabbat im Bethaus, während Gottes Sturm im Holzgebälk hoch droben braust und das trostlose Häufchen Menschheit in den vorderen Bänken auf Rick wartet. Aber Sterne sind, wie wir wissen, wie Ideale und unberechenbar. Köpfe beginnen sich zu drehen, Sitze knarren. Noch immer kein Rick. Die Abendschüler, bereits auf der Anklagebank, lecken sich die Lippen, fassen nervös an die Krawatten. Rickie ist verduftet. Rickie hat kalte Füße gekriegt. Ein Diakon in braunem Anzug, Handwerker von Beruf, hinkt seltsam unbehaglich zur Sakristei, wo Rick sich versteckt haben könnte. Dann ein dumpfer Laut. Alle Köpfe fahren herum, suchen nach der Quelle, bis sie direkt durch das Kirchenschiff auf die große Westtür hinten starren, die eine geheimnisvolle Hand von außen geöffnet hat. Vor den grauen Seewolken des Ungemachs hebt sich die Gestalt von Rick T. Pym ab, bis heute David Livingstones natürlicher Erbe, falls wir je einen kannten, er verbeugt sich ernst vor seinen Richtern und vor seinem Schöpfer, schließt die große Tür hinter sich und verschwindet beinah aufs neue vor ihrer Schwärze.

»Eine Botschaft von der alten Mrs. Harmann für Sie, Mr. Philpott.« Philpott ist der Pfarrer. Die Stimme ist Ricks Stimme, und wie immer bemerken alle ihren Wohlklang, folgen ihrem Ruf, lieben sie, sind erschreckt und angezogen von ihrer unbeirrbaren Selbstsicherheit.

»Ja, und?« sagt Philpott, sehr beunruhigt, daß er aus so großer Entfernung angesprochen wurde. Philpott ist gleichfalls Waliser.

»Sie wär froh, wenn jemand sie nach Exeter General mitnehmen würde, damit sie ihren Mann besuchen kann, bevor er morgen operiert wird, Mr. Philpott. Anscheinend glaubt sie nicht, daß er’s übersteht. Wenn es Ihnen zuviel Umstände macht, kann sich bestimmt einer von uns um sie kümmern, was, Syd?«

Syd Lemon ist ein Cockney, dessen Vater vor kurzem wegen seiner Arthritis nach Süden gezogen ist und nach Syds Meinung hier statt dessen an Langeweile sterben wird. Syd ist Ricks bevorzugter Adjutant, ein kleiner zäher Fighter mit der ganzen Fixigkeit und Schläue des Stadtjungen, und Syd bleibt für mich bis heute Syd, und wenn ich überhaupt je einen Beichtvater hatte, dann nur Syd – abgesehen von Poppy.

»Bleiben die ganze Nacht bei ihr sitzen, wenn’s sein muß«, bestätigte Syd mit energischer Rechtschaffenheit. »Und morgen auch noch, oder, Rickie?«

»Ruhe«, knurrt Makepeace Watermaster. Aber nicht an die Adresse Ricks, der die Kirchentüren von innen verriegelt. Wir können ihn kaum sehen im Helldunkel der Vorhalle. Peng, macht der erste Riegel, hoch oben, Rick muß sich recken. Peng, der zweite, ganz unten, als Rick sich hinunterbeugt. Endlich geruht er zur sichtlichen Erleichterung der zarteren Gemüter seinen Gang zum Schafott anzutreten. Denn jetzt sind ihm die Schwächeren unter uns hörig geworden. Jetzt flehen wir ihn im Stillen um ein Lächeln an, diesen Sohn des alten TP, schicken ihm Botschaften, die versichern, es sei nicht persönlich gemeint, erkundigen uns bei ihm nach der lieben Dame, seiner armen Mutter – denn die liebe Dame fühlt sich heute, wie alle wissen, nicht auf der Höhe und niemand kann sie aus dem Haus locken. Die Witwe sitzt majestätisch in der Airdale Road hinter geschlossenen Vorhängen unter dem riesigen kolorierten Foto von TP in Amtstracht, weint und betet in der einen Minute, der verstorbene Ehemann möge ihr zurückgegeben werden, und in der nächsten, er möge genau dort bleiben, wo er ist und die Schmach nicht mitansehen müssen, und dann wieder feuert sie Rick an, als die alte Wetterin, die sie insgeheim ist: »Gib’s ihnen, Sohn. Mach sie fertig, bevor sie dich fertig machen, wie’s dein Dad konnte und noch besser.« Inzwischen sind die weniger weltlich gesinnten Mitglieder unseres improvisierten Tribunals zu Ricks Seite bekehrt, wenn nicht gar desertiert. Und wie um ihre Autorität noch mehr zu untergraben, hat Welsh Philpott in seiner Unschuld den Fehler gemacht, Rick neben der Kanzel zu plazieren, genau dort, von wo er uns bisher immer die Losung des Tages mit soviel Brio und Glaubenskraft vortrug. Schlimmer noch, Welsh Philpott führt Rick selber hin und rückt ihm den Stuhl zurecht. Aber Rick ist nicht so gefügig. Rick bleibt stehen, eine Hand ruht beschützend auf der Stuhllehne, als habe er beschlossen, den Stuhl zu adoptieren. Unterdessen verstrickt er Mr. Philpott in weiteres leichtes Geplauder. »Arsenal hat übrigens am Sonnabend Pech gehabt«, sagt Rick. Arsenal war in besseren Zeiten Mr. Philpotts und auch TPs zweitgrößte Liebe.

»Das gehört jetzt nicht hierher, Rick«, sagt Mr. Philpott ganz nervös. »Wir haben Geschäfte zu besprechen, wie du sehr wohl weißt.«

Erschöpft nimmt der Pfarrer seinen Platz neben Makepeace Watermaster ein. Aber Rick hat seinen Zweck erreicht. Er hat ein Band geknüpft, wo Philpott sich keines wünschte, er hat uns anstatt eines Schurken einen fühlenden Menschen vorgeführt. Angesichts dieses Erfolges lächelt Rick. Er lächelt uns alle zugleich an: fein, daß ihr gekommen seid. Sein Lächeln huscht über uns hin, es ist nicht frech, es ist eindrucksvoll in seinem Erbarmen mit der großen menschlichen Fehlbarkeit, die uns in diese unselige Situation gebracht hat. Nur Sir Makepeace und Perce Loft, der große Anwalt aus Dawlish, der mit den Unterlagen neben ihm sitzt, wahren ihre granitene Mißbilligung. Aber Rick ist dadurch nicht einzuschüchtern. Nicht durch Makepeace und schon gar nicht durch Perce, zu dem Rick in den letzten Monaten eine gedeihliche Beziehung angeknüpft hat, wie es heißt auf der Basis gegenseitigen Respekts und Verständnisses. Perce möchte, daß Rick Jura studiert. Rick ist nicht abgeneigt, aber bis es soweit ist, soll Perce ihn bei gewissen geschäftlichen Transaktionen, die er in Erwägung zieht, beraten. Perce, der ewige Altruist, leistet seine Dienste unentgeltlich.

»Eine wunderschöne Predigt haben Sie gehalten, Sir Makepeace«, sagt Rick. »Ich habe nie eine bessere gehört. Ihre Worte werden in meinem Kopf nachklingen wie himmlisches Geläute, bis ans Ende meiner Tage, Sir. Hallo, Mr. Loft.«

Perce Loft ist zu sehr Rechtsvertreter, um zu antworten. Sir Makepeace ist an Schmeicheleien gewöhnt und nimmt sie als selbstverständlich entgegen.

»Setz dich«, sagt der liberale Abgeordnete unseres Wahlkreises und Friedensrichter.

Rick gehorcht sofort. Rick ist kein Feind von Autorität. Im Gegenteil, er ist selber ein Mann mit Autorität, wie wir Unentschlossenen bereits wissen, Macht und Recht in einer Person.

»Wo ist das Spendengeld geblieben?« fragt Makepeace Watermaster ohne Umschweife. »Allein im letzten Monat sind fast vierhundert Pfund eingegangen. Im vorletzten dreihundert, im August dreihundert. Deine Abrechnungen für diesen Zeitraum weisen einhundertzwölf Pfund als Haben aus. Nichts beiseite gelegt und kein Bargeld vorhanden. Was hast du damit gemacht, Junge?«

»Einen Bus gekauft«, sagt Rick, und Syd, der mit den übrigen Jungen auf der Anklagebank sitzt, wäre – um seine eigenen Worte zu gebrauchen – um ein Haar abgeschrammt.

***

Rick sprach nach der Uhr von Syds Vater zwölf Minuten, und als er fertig war, stand nur Makepeace Watermaster zwischen ihm und dem Sieg, da ist Syd ganz sicher: »Der Pfarrer, der war schon umgeschwenkt, noch bevor dein Dad nur den Mund aufgemacht hat, Titch. Ging gar nicht anders, er hat TP als erster auf die Kanzel gelassen. Und Perce Loft – also Perce steckte selber bis zum Hals drin, oder? Rick hat ihn in der Tasche gehabt. Alle anderen sind auf dem Hintern rumgewetzt vor Spannung, in welche Richtung Seine Ehren Lord Makepeace steuert.«

Zunächst nimmt Rick edelmütig die volle Verantwortung für alles auf sich. Die Schuld, sagt Rick, falls Schuld vorliegen sollte, sei einzig und allein ihm aufzubürden. Sterne und Ideale sind nichts gegen die Metaphern, mit denen er uns bombardiert: »So der Finger der Anklage ein Ziel sucht, hier ist es.« Zielt mit dem Zeigefinger auf die eigene Brust. »So ein Preis zu zahlen ist, hier steht der Schuldner. Hier bin ich. Die Rechnung geht an mich. Und wer einen anderen verführt hat, möge aus dessen Fehlern lernen, so es deren gab«, forderte er von ihnen, macht sich die Sprache als warnendes Beispiel mit einem Schlag der flachen Hand untertan. Frauen bewunderten diese Hände bis an Ricks Lebensende. Sie zogen Schlüsse aus der Wölbung seiner Finger, die sich nie voneinander lösten, wenn er die Hand bewegte.

»Woher hatte er seine Beredsamkeit?« habe ich Syd einmal ehrfürchtig gefragt, als ich mit ihm und Meg an ihrem Kamin in Surbiton einen zwitscherte, wie sie sich ausdrückten. »Wer waren abgesehen von Makepeace seine Vorbilder?«

»Lloyd George, Hartley Shawcross, Avory, Marshall Hall, Norman Birkett und andere berühmte Anwälte von damals«, erwiderte Syd prompt, als handle es sich um die Pferde, die zum 2:30-Rennen in Newmarket starten. »Dein Dad hat mehr Respekt vor dem Gesetz gehabt als irgend jemand, den ich gekannt hab, Titch. Hat ihre Reden studiert, hat ihre Form genauer verfolgt, als die von jedem Pferd. Er wär ein prima Richter geworden, wenn TP ihm die Chance gegeben hätte, stimmt’s nicht, Meg?«

»Er wär Premierminister geworden«, versichert die treue Meg. »Wen hat’s denn sonst gegeben, außer ihm und Winston?«

Sodann kommt Rick zu seiner Theorie des Eigentums, die ich ihn später viele Male in vielen verschiedenen Versionen darlegen hörte, aber ich glaube, dies war die Premiere. Der Kern der Sache ist, daß jedes Geld, das durch Ricks Hände geht, einer Neudefinition des Eigentumsbegriffs unterliegt, denn was immer er auch damit macht, wird der Menschheit, deren Repräsentant er ist, zum Wohle gereichen. Rick ist, kurz gesagt, kein Nehmender, er ist ein Gebender, und wer ihn anders nennt, ermangelt des Glaubens. Der letzte Appell besteht in einem anschwellenden Trommelfeuer leidenschaftlicher, grammatikalisch entnervender pseudobiblischer Phrasen:

»Und versucht einer der heute hier Anwesenden – den Beweis zu erbringen für einen einzigen Vorteil – einen einzigen Gewinn – ob in der Vergangenheit oder ob der Zukunft vorbehalten – direkt oder indirekt aus dieser Unternehmung stammend – die ich mir aneignete – mag sie auch ehrgeizig gewesen sein, seien wir aufrichtig – der möge jetzt vortreten, reinen Herzens – und den Finger in die Wunde legen.«

Von da ist es nur ein Schritt bis zu jener sublimen Vision von der Pym & Salvation Coach Company Limited, der Transportgesellschaft, die der Frömmigkeit Nutzen und unserer geliebten Kirche Gläubige bringen wird.

Der Zauberkasten ist entriegelt. Rick schlägt den Deckel zurück und zieht eine verwirrende Mischung aus Versprechen und Statistik hervor. Der derzeitige Bus-Fahrpreis von Farleigh Abbott bis zu unserer Kirche beträgt Twopence. Der Trolleybus von Tambercombe kostet Threepence, ein Vierer-Taxi von jedem der beiden Orte Sixpence pro Nase, ein Granville Hastings-Bus neunhundertundacht Pfund, bei Barzahlung Rabatt, zweiunddreißig Sitz- und acht Stehplätze. Allein am Sabbat – meine Assistenten hier haben umfassende Erhebungen vorgenommen, Gentlemen – legen mehr als sechshundert Personen insgesamt über vierhundert Meilen zurück, um in dieser schönen Kirche zu beten. Denn sie lieben dieses Gotteshaus. So wie Rick. Wie wir alle, alle die hier anwesenden Männer und Frauen, da gibt es nichts zu rütteln. Sie wollen sich im Geist ihres Glaubens vom Rand in die Mitte einbezogen fühlen. Letzterer Ausdruck stammt von Makepeace Watermaster persönlich, und Syd sagt, es sei ein bißchen stark von Rick gewesen, ihn gegen Makepeace zu verwenden. An drei weiteren Tagen der Woche, Gentlemen – die Kirchenkapelle Band of Hope, der Arbeitskreis Christian Endeavour und die Frauen-Bibelgruppe – werden nochmals siebenhundert Meilen zurückgelegt; bleiben noch drei Tage für die normale kommerzielle Ausnutzung frei, und wenn Sie mir nicht glauben, sehen Sie meinen Arm an, wie er die Zweifler in einer Folge krampfhafter Ellbogenstöße aus dem Weg fegt, die gewölbten Finger immer eng aneinander. Plötzlich ist klar, daß es aus solchen Zahlen nur eine einzige Schlußfolgerung gibt:

»Gentlemen, wenn wir die Hälfte des offiziellen Tarifs nehmen und allen Behinderten, älteren Menschen und allen Kindern unter acht Jahren Freifahrt gewähren, – bei voller Versicherung – und alle Vorschriften einhalten, die mit Recht für das Betreiben kommerzieller Transportmittel in dieser unserer zunehmend hektischen Zeit gelten – mit voll ausgebildeten Fahrern, die sich ihrer Verantwortung voll bewußt sind, gottesfürchtigen Männern aus unseren eigenen Reihen –, unter Berücksichtigung von Abnutzung, Garage, Wartung, Treibstoff, Fahrscheinverkauf et cetera – und ausgehend von einer fünfzigprozentigen Auslastung an den drei Tagen des kommerziellen Betriebs – so bleiben vierzig Prozent Reingewinn für die Spendenaktion und noch eine Marge, daß jeder zu seinem Recht kommt.«

Makepeace Watermaster stellt Fragen. Die anderen sind entweder zu voll oder zu leer, um überhaupt etwas zu sagen.

»Und ihr habt ihn gekauft?« sagte Makepeace.

»Ja, Sir.«

»Ihr seid nicht volljährig, die Hälfte von euch.«

»Wir hatten einen Mittelsmann, Sir. Einen guten Anwalt aus diesem Distrikt, der aus Bescheidenheit ungenannt bleiben möchte.«

Ricks Antwort zwingt ein rares Lächeln auf Sir Makepeaces unwahrscheinlich dünne Lippen. »Ich habe noch nie einen Anwalt gekannt, der ungenannt bleiben möchte«, sagte er.

Perce Loft blickt zerstreut zur Wand.

»Und wo ist er jetzt?« fährt Sir Makepeace fort.

»Wer, Sir?«

»Der Bus, Junge.«

»Beim Lackieren«, sagte Rick. »Grün mit goldener Beschriftung.«

»Wessen Erlaubnis habt ihr in irgendeinem Stadium für dieses Projekt eingeholt?« fragte Watermaster.

»Wir wollen Miss Dorothy bitten, das Band durchzuschneiden, Sir Makepeace. Die Einladung haben wir bereits entworfen.«

»Wer hat euch die Erlaubnis gegeben? Mr. Philpott? Die Diakone? Das Komitee? Ich? Neunhundertacht Pfund Spendengelder, die Scherflein der Witwen, für einen Omnibus auszugeben?«

»Es ging uns um den Überraschungseffekt, Sir Makepeace. Um einen Sieg auf der ganzen Linie. Wenn man zu früh redet, wenn es sich herumspricht, ist die Luft raus. PSC wird eine ahnungslose Welt das Staunen lehren.«

Makepeace nimmt jetzt in Angriff, was Syd den brenzligen Teil nennt.

»Wo sind die Bücher?«

»Bücher, Sir? Ich weiß nur von einem einzigen Buch –«

»Die Unterlagen, Junge. Die Zahlen. Angeblich hast du allein die Buchführung erledigt.«

»Geben Sie mir eine Woche Zeit, Sir Makepeace, dann werde ich jeden Penny belegen.«

»Das nennt man nicht Bücher führen, das nennt man Bücher frisieren. Hast du von deinem Vater überhaupt nichts gelernt, Junge?«

»Rechtschaffenheit, Sir. Demut vor Jesus.«

»Wieviel hast du ausgegeben?«

»Nicht ausgegeben, Sir. Investiert.«

»Wieviel?«

»Fünfzehnhundert. Aufgerundet.«

»Wo ist der Bus zur Zeit?«

»Wie ich sagte, Sir, beim Lackieren.«

»Wo?«

»Bei Balham in Brinkley. Autobusbauer. Gehören zu den treuesten Liberalen in der Grafschaft. Wirkliche Christen allesamt.«

»Ich kenne Balham. TP hat zehn Jahre lang Bauholz an Balham verkauft.«

»Sie berechnen den Selbstkostenpreis.«

»Du schlägst also eine kommerzielle Nutzung vor?«

»Drei Tage pro Woche, Sir.«

»Mit den öffentlichen Bushaltestellen?«

»Ganz recht.«

»Kannst du dir die mutmaßliche Reaktion der Dawlisk and Tambercombe Transport Corporation of Devon auf dieses Unterfangen vorstellen?«

»Ein öffentliches Bedürfnis, wie es hier vorliegt – das können sie nicht boykottieren, Sir Makepeace. Bei uns sitzt Gott am Steuer. Sobald sie die Grundströmung, den Pulsschlag fühlen, werden sie zurückscheuen und uns den Weg zur Spitze freigeben. Den Fortschritt können sie nicht bremsen, Sir Makepeace, und sie können den Marsch der Christenheit nicht aufhalten.«

»Ach nein«, sagt Sir Makepeace und kritzelt Zahlen auf ein Blatt Papier. »Achthundertfünfzig Pfund Mietgelder fehlen ebenfalls«, bemerkt er, während er schreibt.

»Wir haben auch das Mietgeld investiert, Sir.«

»Das sind dann aber mehr als fünfzehnhundert.«

»Sagen wir, zweitausend, aufgerundet. Ich dachte, Sie meinen nur die Spendengelder.«

»Was ist mit dem Kollektengeld!«

»Zum Teil.«

»Alle Gelder aus sämtlichen Quellen zusammengezählt, wie hoch ist der Betrag? Aufgerundet?«

»Einschließlich der privaten Investoren, Sir Makepeace –«

Watermaster richtete sich auf. »Wir haben also auch private Investoren, wie? Du meine Güte, Junge, du treibst es ein bißchen weit. Wer sind sie?«

»Private Klienten.«

»Von wem?«

Perce Loft sieht aus, als wolle er jeden Moment aus schierer Langeweile einschlafen. Seine Lider sind Zentimeter lang, sein Ziegenkopf ist nach vorn gerutscht.

»Sir Makepeace, ich bin nicht befugt, Namen zu nennen. Wenn PSC Geheimhaltung zusichert, dann ist darauf Verlaß. Unsere Parole lautet: Integrität.«

»Wurde die Gesellschaft amtlich eingetragen?«

»Nein, Sir.«

»Warum nicht?«

»Aus Sicherheitsgründen, Sir. Nichts verlauten lassen. Wie ich schon sagte.«

Makepeace beginnt wieder zu kritzeln. Alle warten auf weitere Fragen. Es kommen keine. Makepeace macht den beunruhigenden Eindruck, als sei der Fall für ihn erledigt – und Rick spürt es schneller als alle anderen. »Es war, wie wenn man beim Doktor ist, Titch«, sagte Syd zu mir, »wenn er rausgekriegt hat, an was du bald stirbst. Er muß nur noch das Rezept aufschreiben, bevor er dir die freudige Mitteilung macht.«

Rick ergreift nochmals das Wort. Unaufgefordert. Es war die Stimme, mit der er sprach, wenn er in die Enge getrieben war. Syd hörte sie damals, ich hörte sie später nur zweimal, und sie war alles andere als angenehm.

»Ich könnte Ihnen die Abrechnungen eigentlich schon heute Abend bringen, Sir Makepeace. Sie sind in sicherem Gewahrsam, ich müßte sie nur herausholen.«

»Gib sie der Polizei«, sagt Makepeace und schreibt noch immer. »Wir sind hier keine Kriminalbeamten, wir sind Kirchenleute.«

»Miss Dorothy könnte aber anderer Ansicht sein, nicht wahr, Sir Makepeace.«

»Miss Dorothy hat damit nichts zu tun.«

»Fragen Sie sie.«

Jetzt hört Makepeace auf zu schreiben, und sein Kopf hebt sich ein wenig zu rasch, sagt Syd, und sie schauen einander an, Makepeaces kleine Babyaugen wirken unsicher. Und Rickies Blick ist plötzlich wie das Aufblitzen eines Schnappmessers im Dunkeln. Syd geht bei seiner Schilderung dieses Blickes nicht so weit, wie ich gehen werde, denn Syd will nicht an die dunkle Seite seines lebenslangen Helden rühren. Ich schon. Sie guckt aus ihm heraus wie ein Kind aus den Augenlöchern einer Larve. Sie straft alles, was noch vor einer halben Sekunde Wahrheit war, Lügen. Sie ist heidnisch. Sie ist amoralisch. Sie beklagt deine Entscheidung und deine Sterblichkeit. Aber sie hat keine Wahl.

»Willst du sagen, Miss Dorothy habe in dieses Projekt investiert?« sagt Makepeace.

»Man kann mehr investieren als Geld, Sir Makepeace«, sagt Rick aus weiter Ferne, aber sehr nah.

Sache ist die, sagt Syd hier ziemlich hastig, Makepeace hätte Rick nie so weit treiben dürfen, daß er damit herausrückte. Makepeace war ein schwacher Mensch, der hart vorging, und die sind die schlimmsten, sagt Syd. Wäre Makepeace vernünftig gewesen, hätte er wie alle anderen geglaubt und ein bißchen mehr vom Sohn des armen TP gehalten, anstatt ungläubig zu sein und den Glauben der anderen an dieses Geschäft zu untergraben, dann hätte sich die Sache freundschaftlich und positiv erledigen lassen und alle hätten glücklich heimgehen, Rick und seinem Omnibus den notwendigen Glauben schenken können. So war Makepeace die letzte Hürde, und er ließ Rickie keinen Ausweg. Rickie mußte ihn k. o. schlagen. Also hat Rickie es getan. Er hat es tun müssen, Titch, ganz klar.

***

Ich mühe und recke mich, ich stoße mit jedem Muskel meiner Vorstellungskraft, so tief ich nur wage, hinunter in die schweren Schatten meiner eigenen Vorgeschichte. Ich lege die Feder nieder und höre so deutlich wie Miss Dubbers Fernsehgerät im Erdgeschoß die heftig miteinander streitenden Stimmen von Rick und Sir Makepeace Watermaster. Ich sehe den dunklen Salon von The Glades, den ich so selten betreten durfte, und ich stelle mir die beiden Männer vor, die an jenem Abend unter vier Augen dort redeten, und meine arme Dorothy, wie sie zitternd in unserem düsteren Zimmer im Oberstock die gleichen handgestrickten Geleitsprüche, die jetzt Miss Dubbers Korridore zieren, liest, während sie Trost zu saugen sucht aus Gottes Blumen, Gottes Liebe, Gottes Willen. Und ich könnte dir wohl bis auf ein paar Sätze genau sagen, was zwischen den beiden unten in Fortsetzung ihrer nicht beendeten Unterhaltung vom Vormittag vorging.

Rick ist wieder der alte, denn das Schnappmesser zeigt sich nie lange, und er hat bereits das Ziel erreicht, das für ihn wichtiger ist als irgendein anderes seines ganzen Handelns und Wandelns, auch wenn er selber das noch nicht weiß. Er hat Makepeace so weit, daß er zwei völlig gegensätzliche Ricks sieht, vielleicht auch mehr. Er hat ihm die offizielle und die inoffizielle Version seiner Identität gezeigt. Er hat ihn gelehrt, Rick in seiner Vielfalt zu respektieren und ebensosehr mit Ricks verborgener wie mit Ricks offenkundiger Welt zu rechnen. Es ist, als lege in der Abgeschlossenheit jenes Raumes jeder Spieler die vielen Karten auf, egal ob falsch oder echt, aus denen seine Hand besteht und Makepeace sei blank gewesen. Aber inzwischen sind sie beide tot, jeder nahm sein Geheimnis mit ins Grab, Sir Makepeace dreißig Jahre vor Rick. Und die einzige Person, die es kennen könnte, kann nicht sprechen, denn wenn sie überhaupt noch existiert, dann als Gespenst, das in ihrem eigenen Leben und dem meinen spukt, nachdem sie vor vielen Jahren an den Folgen jenes schicksalsschweren abendlichen Dialogs der beiden Männer gestorben war.

Die Geschichte verzeichnet zwei Begegnungen zwischen Rick und meiner Dorothy vor jenem Sabbat. Die erste, als sie dem Club junger Liberaler, wo Rick damals ein Amt bekleidete, ich glaube – Gott sei ihnen gnädig – das des Schatzmeisters, ihren hohen Besuch abstattete. Die zweite, als Rick Kapitän der Fußballmannschaft unserer Kirche und ein gewisser Morrie Washington, Abendschüler und einer von Ricks Adjutanten, Torwart war. Dorothy, als Schwester des Parlamentariers, war gebeten worden, den Pokal zu überreichen. Morrie erinnert sich an die Zeremonie, wie Dorothy die Front der Kämpfer abschritt und eine Medaille an jede Siegerbrust heftete, angefangen bei Rick, dem Kapitän. Es scheint, daß sie ungeschickt mit der Nadel hantierte oder daß Rick nur so tat. Jedenfalls stieß er einen gespielten Wehlaut aus, fiel auf ein Knie nieder, schlug beide Hände vor die Brust und behauptete, sie habe ihm das Herz durchbohrt. Es war eine kühne und ziemlich unpassende Nummer, und ich wundere mich, daß er es soweit getrieben hat. Sogar im Übermut war Rick normalerweise auf seine Würde bedacht, und bei Maskenbällen, die bis zu Kriegsbeginn sehr im Schwang waren, ging er lieber als Lloyd George, als sich der Gefahr der Lächerlichkeit auszusetzen. Aber er kniete nieder, Morrie erinnert sich, als sei es gestern gewesen, und Dorothy lachte, sie, die noch nie jemand hatte lachen sehen. Welche Zusammenkünfte folgten, können wir nicht wissen, außer daß laut Morrie Rick einmal prahlte, für ihn werde in The Glades mehr bereitgehalten als Kuchen und Zitronenlimonade, wenn er das Kirchenblatt ablieferte.

Syd weiß, glaube ich, mehr als Morrie. Syd hat eine Menge gesehen. Und die Leute erzählen ihm manches, weil er schweigen kann. Syd kennt, glaube ich, die meisten der Geheimnisse, die in dem umwaldeten Haus, von Makepeace Watermaster als sein Heim bezeichnet, verborgen lagen, auch wenn er als alter Mann alles getan hat, sie sechs Fuß tief zu begraben. Er weiß, warum Lady Nell trank und warum Makepeace sich in seiner Haut so unbehaglich fühlte und warum seine feuchten Äuglein so gequält blickten und sein Mund mit seinen Gelüsten in solchem Mißverhältnis stand und warum er die Sünde mit so frenetischer Kennerschaft züchtigte. Und warum er von aller erdenklichen Liebe schrieb, als er seinen elenden Namen in Dorothys Bibel setzte. Und warum Dorothy den entferntesten Winkel des Hauses als Schlafzimmer wählte, weit weg von Lady Nells Räumen und noch weiter von denen Makepeaces. Und warum Dorothy eine so leichte Beute war für den zungenfertigen Aufsteiger aus der Fußballmannschaft, der redete, als könne er ihr eine Straße nach überallhin bauen und sie in seinem Bus hinfahren. Aber Syd ist ein guter Mensch und Freimaurer. Er liebte Rick und gab die besten Jahre seines Lebens hin, folgte ihm durch dick und dünn. Syd lachte gern, er erzählte gern das eine oder andere, vorausgesetzt, daß es niemandem wehtat. Aber an die dunkle Seite wollte Syd nicht rühren.

Die Geschichte verzeichnet ferner, daß Rick zu jenem Treffen keine Kontobücher mitbrachte, obwohl Mr. Muspole, der große Buchhalter und gleichfalls Abendschüler, anbot, sie für ihn anzufertigen und es vermutlich auch tat. Muspole konnte Abrechnungen erfinden, wie andere Leute Urlaubspostkarten schreiben oder Anekdoten in ein Mikrophon plappern. Und daß Rick, um sich vorzubereiten, einen Spaziergang über Brinkley Cliffs machte, allein, soviel ich weiß den ersten bekannten Gang dieser Art, denn Rick unternahm, wie später ich selber, immer gern größere Wanderungen auf der Suche nach einer Entscheidung oder einer Stimme. Und daß er bei seiner Rückkehr von The Glades eine bedeutende Miene zur Schau trug, nicht unähnlich der von Makepeace Watermaster, nur daß sie mehr von jenem natürlichen Strahlen zeigte, das angeblich aus reinen Herzen kommt. Die Spendensache sei erledigt, hatte er seinem Gefolge mitgeteilt. Das Liquiditätsproblem sei gelöst, sagte er. Jeder sollte zu seinem Recht kommen. Wie? drängten sie ihn: wie, Rickie? Aber Rick zog es vor, ihr großer Zauberer zu bleiben und ließ sich von niemandem in die Karten gucken. Weil ich ein Auserwählter bin, weil ich die Dinge lenken kann. Weil ich dazu bestimmt bin, einer der Höchsten im Lande zu werden.

Seiner anderen guten Nachricht wurden sie nicht teilhaftig. Es war ein Scheck über fünfhundert Pfund, gezogen auf Watermasters Privatkonto, damit Rick ein neues Leben beginnen könne – vermutlich, sagte Syd, im hintersten Australien. Rick indossierte den Scheck, Syd kassierte ihn, da Ricks Bankkonto, wie in späteren Jahren so häufig, indisponiert war. Ein paar Tage danach war Rick dank dieser Geldspritze Gastgeber bei einem üppigen, wenn auch melancholischem Bankett im Hotel Brinkley Towers. Geladen waren sein gesamter Hofstaat in der damaligen Besetzung und eine Anzahl von Lovelies der Stadt, die immer zur Ausstattung gehörten. Syd erinnert sich, daß die ganze Veranstaltung unter dem Eindruck einer historischen Wende gestanden habe, obwohl niemand genau wußte, was zu Ende ging oder was seinen Anfang nahm. Reden wurden gehalten, meist zu dem Thema alte Kumpel müssen zusammenhalten, komme, was da wolle. Aber als man auf Ricks Wohl trank, dankte er mit untypischer Kürze, und es wurde von einem Aufruhr der Gefühle geraunt, denn man sah, daß er weinte, was er häufig tat, schon damals, er konnte auf ein Handzeichen hin eimerweise Tränen vergießen. Perce Loft, der große Anwalt, war zur Überraschung einiger Gäste mit von der Partie, und zu ihrer noch größeren Überraschung hatte er eine junge Musikstudentin namens Annie Lippschitz mitgebracht, eine eigenwillige Schönheit, die alle anderen Lovelies in den Schatten stellte, obwohl sie kaum ein ordentliches Kleidungsstück besaß. Man nannte sie bald Lippsie. Sie war aus Deutschland geflüchtet und hatte Perce in irgendeiner Einwanderungssache konsultiert, und Perce in seiner Herzensgüte hatte beschlossen, ihr eine helfende Hand zu reichen, etwa so, wie er sie Rick gereicht hatte. Zum Abschluß der Sitzung sang Morrie Washington, der Hofnarr, ein Lied, und Lippsie fiel mit den übrigen Mädchen in den Refrain ein, obwohl sie viel zu gut sang und als Ausländerin die schlüpfrigen Stellen nicht mitbekam. Inzwischen graute bereits der Morgen. Ein elegantes Taxi entführte Rick, und er wurde viele Jahre lang nicht mehr in der Gegend gesehen.

Die Geschichte vermeldet schließlich, daß Richard Thomas Pym, ledig, und Dorothy Godchild Watermaster, ebenfalls ledig, beide nur vorübergehend in dieser Pfarrei ansässig, am folgenden Tag feierlich und in aller Stille getraut wurden, in Anwesenheit zweier hinzugezogener Zeugen in einem neuen Standesamt in der Nähe der Westumgehungsstraße, dort, wo man links zum Flugplatz Northolt abbog. Und daß den beiden nach nicht ganz sechs Monaten ein kleiner Junge geboren wurde, der die Taufnamen Magnus Richard erhielt und nur ein paar Pfund auf die Waage brachte, der Herr möge ihn beschützen. Auch das Handelsregister, das ich eingesehen habe, verzeichnet das freudige Ereignis, wenn auch in abweichendem Wortlaut. Innerhalb von achtundvierzig Stunden nach der Geburt hatte Rick die Magnus Star Equitable Insurance Company Limited, Gründungskapital zweitausend Pfund, aus der Taufe gehoben. Als Zweck der Firma ist der Abschluß von Lebensversicherungen für bedürftige, behinderte und ältere Personen angegeben. Buchhalter Mr. Muspole, Syndikus Perce Loft. Morrie Washington wurde Geschäftsführer der Firma und der verstorbene Ratsherr Thomas Pym, liebevoll TP genannt, ihr Schutzpatron.

***

»Hat es nun wirklich einen Autobus gegeben, oder war alles nur kalter Kaffee?« fragte ich Syd.

Syd ist immer vorsichtig mit seinen Antworten. »Also, es könnte einen Wagen gegeben haben, Titch. Ich sag nicht nein, da müßt ich lügen. Ich sag nur, daß ich nie was von einem Autobus gehört hab, bis dein Vater damals in der Kirche davon angefangen hat. Sagen wir so.«

»Was hat er denn mit dem Geld gemacht – falls es keinen Wagen gegeben hat?«

Syd weiß es wirklich nicht. So viele tausend Pfund sind seitdem den Bach hinuntergeschwommen. So viele große Visionen aufgetaucht und verschwunden. Vielleicht hat Rick es verschenkt, sagt Syd linkisch. Dein Dad hat zu niemandem nein sagen können, schon gar nicht zu den Lovelies. Hat sich nie wohlgefühlt, wenn er nicht hat geben können. Vielleicht hat es ihm ein Schwindler abgeluchst. Dein Dad hat immer eine Schwäche für Schwindler gehabt. Hier errötet Syd zu meiner Verblüffung. Und aus seinem Mundwinkel höre ich schwach aber unverkennbar das Ratta-tat-tat, das ich als Kind zu hören bekam, wenn ich ihn bat, Pferdegetrappel nachzumachen.

»Soll das heißen, er hat das Spendengeld verwettet?« frage ich.

»Titch, ich will nur sagen, vor diesem Wagen hätte ein Pferdchen laufen können. Mehr will ich damit nicht sagen, was, Meg?«

***

Oh, aber es gab tatsächlich einen Wagen und es war keineswegs ein Pferd davor gespannt. Dieser Wagen war der prächtigste und stärkste, den es je gab. Auf den spiegelnden Seiten glänzte die goldene Aufschrift der Pym and Salvation Coach Company wie die illuminierten Kapitelüberschriften aller Bibeln aus Ricks Jugend. Er war grün wie der grüne Rennrasen Englands. Sir Malcolm Campbell persönlich würde ihn lenken. Die Höchsten im Land würden darin fahren. Wenn die Leute in unserer Stadt diesen Wagen zu sehen bekämen, würden sie niederknien und Gott und Rick zu gleichen Teilen dafür preisen. Die dankbaren Massen würden sich vor Ricks Haus scharen und ihn bis spät in die Nacht auf den Balkon rufen. Ich sah, wie er sich in Erwartung dieses Ereignisses im Winken übte; mit beiden Händen, als wolle er mich über seinen Kopf schwingen, während er in die mittlere Distanz strahlt und weint. »Das alles schulde ich dem alten TP.« Und sollte es sich, was zweifellos der Fall war, herausstellen, daß Balham aus Brinkley, der zu den treuesten Liberalen im Land gehörte, genaugenommen nie etwas von Ricks Wagen gesehen, geschweige denn ihn aus reiner Herzensgüte zum Selbstkostenpreis lackiert hatte, dann befand er sich eben genauso wie der Wagen im Zustand der provisorischen Realität. Beide warteten darauf, daß Ricks Zauberstab sie ins Leben rufe. Erst als lästige Ungläubige wie Makepeace Watermaster Schwierigkeiten hatten, diesen Stand der Dinge zu akzeptieren, sah Rick sich mit einem Religionskrieg konfrontiert, und war, wie schon viele andere vor ihm, gezwungen, seinen Glauben mit unerfreulichen Mitteln zu verteidigen. Er forderte nur eines: uneingeschränkte Liebe. Sie ihm blindlings zu gewähren, war das Mindeste, was man tun konnte. Und darauf warten, daß er sie als Gottes Bankier innerhalb von sechs Monaten verdoppelte.