6
Ein dunkler Seeregen hüllte Pyms England ein, und er schritt wachsam darin fürbaß. Es war früher Abend, und er hatte länger geschrieben als jemals in seinem ganzen Leben, und jetzt war er leer und wehrlos und fürchtete sich. Ein Nebelhorn tutete, einmal kurz, zweimal lang – ein Leuchtturm oder ein Schiff. Er blieb unter einer Laterne stehen und sah wieder auf die Uhr. Noch einhundertzehn Minuten vor ihm, dreiundfünfzig Jahre hinter ihm. Musikpavillon leer, Bowlingrasen unter Wasser. Schaufenster noch immer hinter dem fliegenverschmierten gelben Zellophan gegen die Sommersonne.
Er strebte stadtauswärts. Er hatte im Herrengeschäft Blandy einen Plastikumhang gekauft. »Guten Abend, Mr. Canterbury, Sir, was darf es sein?« Die Kapuze knatterte im Regen um ihn wie ein Blechdach. Unter dem Umhang trug er die Einkäufe für Miss Dubber: den Speck von Mr. Aitken, vergessen Sie nicht, ihm zu sagen, daß er Nummer fünf einstellen soll, sonst schneidet er ihn garantiert dicker. Und sagen Sie diesem Mr. Crosse, letzte Woche waren drei verfaulte Tomaten dabei, nicht nur schlecht, verfault. Wenn ich sie nicht ersetzt kriege, geh ich nie wieder zu ihm. Pym hatte ihre Anweisungen bis aufs Wort befolgt, wenn auch nicht so scharf, wie sie es gewünscht hätte, denn sowohl Crosse wie Aitken gehörten zu den Empfängern seiner geheimen Subventionen und schickten Miss Dubber seit Jahren Rechnungen über nur die Hälfte des tatsächlichen Betrages. Außerdem hatte er beim Reisebüro Farways die Einzelheiten einer Seniorenfahrt nach Italien erhalten, die in sechs Tagen von Gatwick aus starten sollte. Ich rufe ihre Cousine Melanie in Bognor an, dachte er. Wenn ich auch für Melanie bezahle, kann Miss Dubber nicht gut ablehnen.
Einhundertsechs Minuten. Erst vier vorbei. Cousine Melanie und Miss Dubber waren vergessen. Aus zahllosen Erinnerungen, die sich in seinem Kopf drängten und ungestüm Anerkennung begehrten, wählte Pym statt ihrer Washington und den Ballon. Unter all den verrückten Methoden, in denen wir je miteinander redeten, hat der Ballon wirklich den Vogel abgeschossen. Du wolltest ein Gespräch, ich wollte dich nicht treffen. Mir war mulmig geworden, und ich hatte dich zu meiner Unperson ernannt. Aber du wolltest nicht nachgeben, hast du nie gewollt. Mir zuliebe hast du einen Miniatur-Gas-Ballon mit silberner Hülle über den Dächern von Washington D. C. steigen lassen. Fünfzig Zentimeter Durchmesser, Tom kriegt sie manchmal in Supermärkten geschenkt. Als wir, jeder in seinem Auto, auf entgegengesetzten Seiten der Stadt fuhren, sagtest du mir auf deutsch, was für ein Narr ich sei, dir gegenüber Starallüren an den Tag zu legen. Über Handfunkgeräte, die wie rasend die Frequenzen wechselten und die Lauscher ebenso rasend gemacht haben mußten.
Er stieg den Klippenpfad hinauf, vorbei an erleuchteten Bungalows, die in abgezwackten Gartenparzellen eines großen Besitzes standen. Ich rufe ihren Hausarzt an, er soll sie überzeugen, daß sie unbedingt einen Tapetenwechsel braucht. Oder den Vikar, auf ihn wird sie hören. Unter ihm im Nebel glommen die bunten Lämpchen des Vergnügungs-Palastes wie dicke Beeren. Daneben konnte er die blau-weiße Neonschrift der Eisdiele Softa erkennen. Penny, dachte er. Du wirst mich nicht wiedersehen, allenfalls mein Bild in den Zeitungen. Penny war Mitglied seiner Geheimarmee von Anbeterinnen, so geheim, daß sie nicht einmal etwas von ihrer Zugehörigkeit wußte. Vor fünf Jahren hatte sie in einer Bude an der Promenade »Fish and Chips« verkauft und war in einen Ledertyp namens Bill verliebt gewesen, der sie braun und blau schlug, bis Pym die Zulassungsnummer von Bills Motorrad durch den Firmencomputer laufen ließ und feststellte, daß Bill in Taunton Frau und Kinder hatte. Er teilte dies in verstellter Handschrift dem Vikar mit, und ein Jahr später war Penny mit einem netten italienischen Eisverkäufer namens Eugenio verheiratet. Aber nicht heute abend. Als Pym an diesem Abend zu ihrem Café kam, um seine gewohnten zwei Kugeln Gemischtes zu essen, saß sie im Tête-à-tête mit einem stämmigen Mann da, der einen weichen Filzhut trug und Pym nicht im geringsten gefiel. Ein ganz normaler Reisender, hatte er sich gesagt, während eine Windbö unter seinen Umhang fuhr. Ein Lebensmittelvertreter, jemand von der Steuer. Wer jagt heutzutage allein, außer Jack? Und Jack ist es nicht, da fehlen dreißig Jahre. Es muß das Auto gewesen sein, dachte er. Die sauberen Kotflügel, die raffinierte Antenne. Die Neigung seines Kopfes, während er zuhörte.
»Jemand dagewesen, Miss D.?« sagte Pym und legte seine Päckchen auf die Anrichte.
Miss Dubber saß in der Küche, sah sich eine amerikanische Seifen-Oper an und trank ihren Einen pro Tag. Toby saß auf ihrem Schoß.
»Alle sind so gemein, Mr. Canterbury«, sagte sie. »Es ist nicht einer dabei, den wir auch nur für eine einzige Nacht hier haben möchten, wie, Toby? Was haben Sie da für einen Tee gebracht? Ich habe gesagt, Assam, Sie ungeschickter Mensch, bringen Sie ihn zurück.«
»Es ist Assam«, sagte Pym geduldig, beugte sich zu ihr herab und zeigte ihn ihr. »Er hat nur eine neue Verpackung und kostet drei Pence weniger. Jemand dagewesen, während ich fort war?«
»Nur der Gasmann zum Ablesen.«
»Derselbe wie immer? Oder ein neuer?«
»Ein neuer. Heutzutage sind sie alle neu.« Er küßte sie leicht auf die Wange und zog den neuen Schal über ihren Schultern zurecht.
»Genehmigen Sie sich einen ordentlichen steifen Wodka, Darling«, sagte sie.
Aber Pym lehnte dankend ab und sagte, er müsse arbeiten.
In seinem Zimmer musterte er sofort die Papiere auf dem Schreibtisch. Hefter zum Henkel der Teetasse. Buch im Verhältnis zum Bleistift. Burnbox in einer Linie mit Tischbein, in Ordnung. Miss Dubber ist keine Mary. Beim Rasieren ertappte er sich dabei, daß er an Rick dachte. Ich habe deinen Geist gesehen, dachte er. Nicht hier, sondern in Wien. So wie ich dich leibhaftig in Denver sah, in Seattle, San Francisco, Washington. Ich hab deinen Geist in jedem Schaufenster und herbstlichen Torbogen gesehen, während ich versuchte, den kribbelnden Rücken freizukriegen. Du hast deinen Kamelhaarmantel getragen und Zigarre geraucht und wie immer bei jedem Zug die Stirn gerunzelt. Ja, du bist mir nachgegangen, und deine blauen Augen waren halb geschlossen wie die Augen eines Ertrunkenen, die Pupillen gegen die Oberlider verdreht, um mir Angst zu machen. »Wohin des Wegs, Sohn? Wohin tragen deine schönen Beine dich so spät in der Nacht? Zu einer schönen Dame, wie? – die größte Stücke auf dich hält? Na, mach schon, Sohn, deinem alten Herrn kannst du’s sagen. Komm an mein Herz.« Du lagst auf dem Sterbebett in London, aber ich wollte nicht zu dir, wollte nichts über dich hören, nicht über dich sprechen, es war meine Art, um dich zu trauern. »Nein, ich will nicht. Nein, ich will nicht«, sagte ich, sooft meine Ferse aufs Pflaster aufsetzte. Also kamst du zu mir. Nach Wien und spieltest meinen Wentworth. Hinter jeder Ecke, um die ich bog, warst du. Bis ich deinen liebenden Blick wie Feuer auf dem Rücken fühlte, den ich nie freibekam. Laß mich in Ruhe, geh zum Teufel, flüsterte ich. Welchen Tod ich dir gewünscht habe? Jeden, der Reihe nach. Stirb, sagte ich zu dir. Auf offener Straße, wo es jeder sehen kann. Hör auf, mich zu bewundern. Hör auf, an mich zu glauben. Wolltest du Geld? Nicht mehr. Du hattest deine Forderungen eingestellt zugunsten der größten aller Forderungen. Du wolltest Magnus. Du wolltest, daß mein lebender Geist deinen sterbenden Leib aufnahm und dir das Leben zurückgab, das ich dir verdanke. »Uns ein bißchen amüsieren, wie, Sohn? Poppy ist spitze, das sehe ich auf den ersten Blick. Was heckt ihr beide da zusammen aus? Los, deinem alten Kumpel kannst du’s sagen. Irgendein Geschäft am Laufen, wie? Ein paar Taler in deine Taschen locken, ja, so wie es dir dein alter Herr beigebracht hat?«
Drei Minuten. Ich bin immer gern pünktlich. Pym wischte sich das Gesicht ab und zog aus einer Innentasche sein getreues Exemplar von Grimmelshausens Simplicissimus, in abgeschabtes braunes Steifleinen gebunden und weit gereist. Er legte es auf dem Schreibtisch bereit neben Block und Bleistift, ging durchs Zimmer und kniete vor dem Walnußgehäuse des lieben alten Winston-Radios nieder, drehte an der Bakelitscheibe, bis er die Wellenlänge hatte.
Leise stellen. Einschalten. Warten. Ein Mann und eine Frau diskutierten in Tschechisch über die wirtschaftliche Lage einer Obstbau-Genossenschaft. Diskussion wird mitten im Satz ausgeblendet. Das Zeitzeichen vor den Abendnachrichten. Achtung. Pym ist ruhig. Wie bei einem Einsatz.
Aber er ist auch ein klein wenig erregt. Eine Heiterkeit herrscht, die nicht ganz von dieser Welt ist, ein Hauch mystischer Affinität in seinem jugendlichen, liebenden Lächeln, es sagt »Hallo, du« zu irgendwem, der nicht ganz von dieser Erde ist. Von allen seinen Bekannten – diesen extraterrestrischen Fremden ausgenommen – hat vielleicht nur Miss Dubber diesen Ausdruck je an ihm gesehen.
Erster Beitrag: Suada gegen die amerikanischen Imperialisten im Anschluß an das Scheitern der jüngsten Runde der Abrüstungsgespräche. Rascheln einer Seite, die umgeblättert wird, Signal, sich bereitzuhalten. Zur Kenntnis genommen. Du wirst jetzt zu mir sprechen. Ich bin dankbar. Ich weiß diese Geste zu schätzen. Zweiter Beitrag kommt. Sprecher stellt Universitätsprofessor aus Brünn vor. Guten Abend, Professor, und wie geht’s dem tschechischen Geheimdienst heute abend? Der Professor spricht. Alle Nerven angespannt, mein ganzes Ich voll konzentriert. Erster Satz: Die Gespräche endeten ohne Ergebnis. Uninteressant. In einem weiteren Anlauf – aufschreiben. Langsam. Nicht hasten. Wieder Geduld, während wir auf das erste Zahlwort warten. Jetzt: Ein fünfundfünfzigjähriger Schweißer aus Pilsen. Er schaltete das Radio ab und ging mit dem Block in der Hand wieder zum Schreibtisch, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er schlug seinen Grimmelshausen auf Seite fünfundfünfzig auf, fand Zeile fünf ohne zu zählen und schrieb auf ein leeres Blatt Papier die ersten zehn Buchstaben dieser Zeile; dann setzte er sie in die Zahlen um, die jedem Buchstaben im Alphabet entsprachen. Subtrahieren ohne Übertrag. Denk nicht nach, tu es. Er addierte wieder, auch dies ohne Übertrag. Er verwandelte Zahlen zurück in Buchstaben. Nicht nachdenken. KE INES OR GEEW … Das gibt nichts her. Leeres Stroh gedroschen. Um zehn Uhr nochmals hören und neu lesen. Er lächelte. Er lächelte wie ein Heiliger, der ausgelitten hat. Die Tränen traten ihm in die Augen. Sollen sie. Er stand da und hielt das Blatt mit beiden Händen über den Kopf. Er weinte. Er lachte. Er konnte kaum lesen, was er geschrieben hatte. KEINE SORGE, E. WEBER LIEBT DICH EWIG. POPPY.
»Du freches Aas«, flüsterte er laut und wischte weitere Tränen weg. »O Poppy. O du meine Güte.«
***
»Stimmt etwas nicht, Mr. Canterbury?« erkundigte Miss Dubber sich streng.
»Ich möchte Sie um einen Wodka schädigen, Miss D. Wodka. Wodka und irgendwas.«
Er war bereits beim Mixen.
»Sie waren nur eine Stunde oben, Mr. Canterbury. Wir nennen das nicht arbeiten, wir nicht, wie, Toby? Kein Wunder, daß es im Land solche Geschichten gibt.«
Pyms Lächeln wurde breiter. »Was für Geschichten?«
»Die Fußball-Rowdies. Geben den Ausländern ein so schlechtes Beispiel. Sie hätten das nie zugelassen, nicht wahr, Mr. Canterbury?«
»Natürlich nicht.«
Warmer Orangensaft aus der Flasche, wie köstlich! Kalkiges Wasser aus der Leitung, wo sonst würde man es finden? Er blieb eine Stunde lang bei ihr sitzen, plapperte unentwegt über die Schönheiten Neapels und kehrte dann zu seiner Aufgabe, das Land zu retten, zurück.
***
Wie Rick den Frieden gewann, werde ich nie genau wissen, Tom, aber er gewann ihn, wie üblich über Nacht, und keiner von uns wird sich je wieder Sorgen machen müssen, Sohn, es ist reichlich da für alle, und dein alter Herr hat es beschafft. Im Eifer des neuen Wohlstands ergriffen Vater und Sohn den Beruf von Landedelleuten. Der Sieg in Europa war noch naß an den Plakatsäulen, als der heranwachsende Pym sich bei Harrods einen anthrazitgrauen Anzug mit den heißbegehrten langen Hosen kaufte, eine schwarze Krawatte und einen steifen weißen Kragen, alles auf Geschäftskosten, und allen Mut zusammennahm, um sich Sefton Boyds angedrohte Angelhaken durch die Ohrläppchen stecken zu lassen. Indessen erwarb Rick in seiner ungeheueren Reife ein Haus mit zwanzig Morgen Grund in Ascot und weißen Zäunen entlang der Auffahrt und eine Reihe Tweedanzüge, die auffälliger waren als der des Admirals, und ein paar verrückte rote Setter und ein Paar derbe zweifarbige Schuhe, um sie spazierenzuführen, und ein paar Purdey-Gewehre, um sich mit den Hunden portraitieren zu lassen, und eine meilenlange Bar, um sich die ländlichen Abende mit Schampus und Roulette zu vertreiben, und TPs Bronzebüste auf einem Sockel in der Halle, neben einer größeren Büste von ihm selber. Ein Aufgebot verschleppter Polen wurde als Personal herbeigeschafft, eine neue und sehr feine Mutter trug auf dem Rasen hohe Absätze, schrie die Dienstboten an und gab Pym Tips über Hygiene und Ausdrucksweise der Oberschicht. Ein Bentley kam und wurde mehrere Wochen lang weder umgetauscht noch versteckt, obwohl ein ergrimmter Pole eines Nachts den Gartenschlauch durchs Fenster schob und das Wageninnere unter Wasser setzte, so daß Ricks Würde beinahe baden gegangen wäre, als er am nächsten Morgen den Schlag öffnete. Mr. Cudlove bekam eine maulbeerfarbene Uniform und ein Cottage auf dem Grundstück, wo Ollie Geranien pflanzte, den Mikado sang und seinen Nerven zuliebe die Küche tünchte. Eine Viehherde und ein mürrischer Knecht gaben dem Ganzen den Status eines landwirtschaftlichen Anwesens, denn Rick war zum Steuerzahler geworden, was, wie ich jetzt weiß, den Gipfel seines heroischen Kampfes um Liquidität bedeutete. »Es ist eine Affenschande, Maxie«, erläuterte er stolz einem Major Maxwell Cavendish, der als Berater in Rennfragen zugezogen worden war. »Herr im Himmel, wenn ein Mann heutzutage die Früchte seiner Arbeit nicht genießen darf, wofür zum Teufel haben wir dann in diesem Krieg gekämpft?« Der Major, der ein getöntes Monokel trug, sagte: »Ja, wofür?« und schürzte die Lippen zu einer Rosette. Und Pym, der von ganzem Herzen zustimmte, füllte das Glas des Majors aufs neue. Während er noch darauf wartete, ins Internat geschickt zu werden, durchlief er eine gesichtslose Periode und hätte alles aufs neue gefüllt.
In London requirierte der Hofstaat eine säulenbewehrte Reichskanzlei an der Chester Street, besetzt mit einer Truppe Lovelies, die abgelöst wurden, sobald sie verschlissen waren. Ein fett gewordener Jockey in den Pymschen Stallfarben schwang seine kleine Peitsche über ihnen; Fotos von Ricks Fernerliefens und eine Ehrentafel, die an die nicht gefallenen Kompanien des jüngsten Rick T. Pym & Son-Imperiums gemahnte, vervollständigten die Ruhmesmauer. Auch mein Gedächtnis scheint eine solche Gedenktafel zu sein, die meisten Firmennamen weiß ich noch heute, denn es hat Jahre gedauert, bis ich die Nichtigkeit meiner Beteiligung gerichtlich erwirkt hatte. Die besten Namen feiern die Waffensiege, die Rick nun überzeugt war, im Alleingang für uns errungen zu haben: die Alamein Sickness & Health Company, der Military & Permanent Pension Fund, die Dunkirk Mutual & General, die T.P. Veteran Alliance Company – alle scheinbar unbeschränkt und doch alle nur Satelliten der großen Rick T. Pym & Son Holding-Gesellschaft, deren legale Beschränkungen als Sammelbecken der Witwenscherflein nur ganz allmählich offenbar wurden. Ich habe nachgeforscht, Tom. Ich habe Anwälte befragt, die sich auskennen. Ein Gründungskapitel von hundert englischen Pfund reichte für die ganze Pracht aus. Und was für Bücher wir hatten! Winfield über Schadenersatz, Mac Gillivray über Versicherungsrecht, Snell über Billigkeitsrecht und irgendwen über Römisches Recht; gerissene alte Juristen waren sie und immer die ersten, die verschwanden, wenn’s hart auf hart ging. Und die ersten, die lächelnd zurückkamen, wenn der Kampf gewonnen war. Und hinter Chester Street lagen die Clubs, wie sichere Häuser steckten sie in den stilleren Winkeln von Mayfair. Der Albany, der Burlington, der Regency, der Royalty-Club – die klingenden Namen waren nichts im Vergleich zu der Pracht, die uns drinnen erwartete. Gibt es solche Orte heutzutage noch? Nicht auf Firmenspesen, Jack, soviel steht fest. Und wenn, so in einer Welt, die sich bereits dem Vergnügen verschrieben hat, nicht mehr der Austerity. Im illegalen Spielsalon werden keine illegalen Wetten angenommen. Es gibt keine illegalen Mütter mehr in ausgeschnittenen Kleidern, die schwören, daß du eines Tages reihenweise Herzen brechen wirst. Und keine echten, lebenden Mitglieder unserer geliebten Crazy Gang, die trübselig an der Bar herumhängen, eine Stunde, ehe sie uns in den Logen Lachtränen entlocken. Oder Jockeys, die um den Billardtisch trippeln, der zu hoch für sie war, ein Hunderter pro Corner, und Magnus, warum bist du noch nicht in der Schule und wo ist der verdammte Chevalet. Oder Mr. Cudlove, der in Maulbeerfarbe draußen wartet und Das Kapital studiert mit dem Lenkrad des Bentley als Lesepult, bis wir zu unserer nächsten wichtigen Besprechung mit einem unseligen männlichen oder weiblichen Wesen brausen, das es nach der göttlichen Berührung gelüstet. Hinter den Clubs lagen die Pubs. Beadles in Maidenhead, Sugar Island in Bray, hier The Clock, dort The Goat, The Bell irgendwo anders, alle mit ihren silbernen Grills, ihren silbernen Klavierspielern und silbernen Damen an der Bar. In einem von ihnen wurde Mr. Muspole von einem kleinen Kellner, den er beleidigt hatte, ein dreckiger Schieber genannt, und Pym gelang es gerade noch, mit einem Scherz einzuspringen und die Auseinandersetzung zu beenden. Was für ein Scherz es war, weiß ich nicht mehr, aber Mr. Muspole hatte mir einmal einen Messing-Schlagring gezeigt, den er immer zu den Rennen mitnahm, und ich wußte, daß er ihn an jenem Abend bei sich hatte. Und ich weiß, daß der Kellner Billy Craft hieß und daß er mich in seine Arme-Leute-Wohnung am Rand von Slough zu seiner unterernährten Familie mitnahm, und daß Pym einen lustigen Abend mit ihnen verbrachte und auf einem knochenharten Sofa, zugedeckt mit der wollenen Unterkleidung sämtlicher Crafts, genächtigt hat. Denn fünfzehn Jahre später, bei einer Etatbesprechung im Stammhaus, wer taucht da wohl aus der Menge auf, wenn nicht eben dieser Billy Craft, Häuptling der Inlands-Überwachung. »Ich dachte, ich will Sie lieber beschatten, als bedienen, Sir«, sagte er mit schüchternem Lachen, als er mir ungefähr fünfzigmal die Hand schüttelte. »Nichts gegen Ihren Vater natürlich, er war ein großartiger Mann.« Pym war, wie sich herausstellte, nicht der Einzige gewesen, der Mr. Muspoles schlechtes Benehmen gutzumachen gesucht hatte. Rick hatte Billy eine Kiste Schampus geschickt und ein Dutzend Nylonstrümpfe für Mrs. Craft.
Nach den Pubs fielen wir, wenn wir Glück hatten, im Morgengrauen in Covent Garden ein, zu einer Portion Eier mit Speck, um auf Draht zu sein vor dem Vollgas-Spurt zu den Ställen, wo die Jockeys braune Mützen und Reithosen anzogen und sich in die Tempelritter verwandelten, die sie in Pyms Augen schon immer gewesen waren, und die Fernerliefens im Galopp über die mit Tannenzweigen markierten frostigen Pisten jagten, bis sie in Pyms getreuer Phantasie in den Himmel ritten und die Schlacht um England nochmals für uns gewannen.
Schlafen? Ich erinnere mich nur an einen Fall. Wir fuhren nach Torquay zu einem netten ruhigen Wochenende im Imperial, wo Rick in einer Suite auf der Seeseite ein illegales Chemin-de-fer-Spiel eingerichtet hatte, und es muß in einer jener Perioden gewesen sein, da Mr. Cudlove den Dienst quittiert hatte, denn plötzlich befanden wir uns inmitten eines mondbeschienenen Kornfelds, das Rick, der stark nach den Sorgen seiner Ämter roch, fälschlich für die Landstraße gehalten hatte. Seite an Seite auf dem Dach des Bentley liegend, ließen Vater und Sohn sich die Gesichter vom heißen Mond versengen.
»Bist du in Ordnung?« fragte Pym – was hieß, bist du liquide, sind wir auf dem Weg ins Gefängnis? Rick ergriff Pyms Hand und drückte sie ungestüm. »Sohn. Mit dir an meiner Seite und Gott dort oben bei den Sternen und dem Bentley unter uns bin ich ganz außerordentlich in Ordnung.« Und er meinte es ernst, jedes Wort, wie immer, und es würde sein stolzester Tag sein, wenn Pym am Old Bailey in der vollen Amtstracht des Lordoberrichters auf der richtigen Seite der Schranke sitzen und die Urteile verhängen würde, die einst über Rick verhängt worden waren, in jenen Tagen, die wir uns niemals eingestanden hatten.
»Vater«, sagte Pym. Und stockte.
»Was gibt’s, Sohn? Deinem alten Herrn kannst du’s sagen.«
»Es ist nur –, also, wenn du die Internatsgebühren für das erste Quartal nicht im Voraus zahlen kannst, das macht nichts. Ich meine, dann gehe ich eben in die Tagesschule. Ich glaube nur, irgendwo sollte ich hingehen.«
»Ist das alles, was du mir sagen willst?«
»Es macht nichts, wirklich.«
»Du liest meine Briefe, wie?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Hast du jemals etwas entbehren müssen? In deinem ganzen Leben?«
»Nie.«
»Na also«, sagte Rick und hätte Pym ums Haar in einem Doppelnelson das Genick gebrochen.
***
»Und woher ist das Geld gekommen, Syd?« bohre ich immer wieder. »Warum ist es je ausgegangen?« Noch heute sehne ich mich in meiner unheilbaren Ernsthaftigkeit danach, für das Chaos jener Jahre einen greifbaren Anhaltspunkt zu finden, auch wenn er nur das eine große Verbrechen sein sollte, das, laut Balzac, hinter jedem Vermögen steckt. Aber Syd war nie ein objektiver Chronist. Seine klaren Augen verschleiern sich, ein fernes Lächeln erhellt das kleine Vogelgesicht, während er einen zwitschert. Tief innen sieht er Rick noch immer als einen gewaltigen dahinziehenden Strom, von dem jeder von uns nur jene Strecke kennen kann, die das Schicksal ihm zuweist. »Unser Hit war Dobbsie«, erinnert er sich. »Ich will nicht sagen, daß er der einzige war, Titch. Es hat noch andere gegeben. Tolle Projekte, viele sehr visionär, sehr phantastisch. Aber Dobbsie war unser Hit.«
Bei Syd mußte es immer einen Hit geben. Wie Glücksspieler und Schauspieler lebte er sein Leben lang dafür, tut es noch immer. Aber die Dobbsie-Story, so, wie er sie mir in jener Nacht bei Gott weiß wievielen Schlückchen erzählte, paßt so gut wie irgendeine andere, auch wenn sie die dunkelsten Sphären unerforscht ließ.
Eine Zeitlang, Titch – sagt Syd, während Meg uns noch einen Happen Pastete gibt und das Kaminfeuer aufdreht –, als die Gezeiten des Krieges, mit Gottes Hilfe, versteht sich, zunehmend die Alliierten begünstigten, war dein Dad eifrig auf der Suche nach einer neuen Verwendungsmöglichkeit für seine phantastischen Talente, die wir alle kennen und schätzen. Ab 1945 konnte man nicht damit rechnen, daß die Rationierung ewig dauert, Mangelwaren sind, ehrlich gesagt, Titch, ein Risikogeschäft geworden. Mit den drohenden Wolken des Friedens über uns konnten Süßigkeiten, Nylons, Trockenfrüchte und Benzin in einem einzigen Tag den Markt überschwemmen. Die Zukunft, Titch, sagt Syd – und Ricks Tonfall klingt aus jedem Wort wie eine Melodie, die mir nicht aus dem Ohr geht – gehört dem Wiederaufbau. Und dein Dad mit seinem Grips ist so entschlossen wie jeder wahre Patriot, seinen Teil davon zu kriegen, was nur rechtens ist. Der Haken dabei ist wie immer, den Einstieg zu finden, denn nicht einmal Rick kann den britischen Immobilienmarkt ohne einen Penny Kapital aufkaufen. Und ganz zufällig, sagt Syd, bietet sich dieser Einstieg dank der unwahrscheinlichen Vermittlung von Mr. Muspoles Schwester Flora – na, du erinnerst dich doch an Flora! – Und ob. Flora ist ein flotter Dampfer, beliebt bei allen Jockeys wegen ihres stattlichen Busens und der Großzügigkeit, mit der sie ihn zum Einsatz bringt. Aber in wahrer Treue ist sie, wie Syd mich erinnert, einem Herrn namens Dobbs verbunden, der für die Regierung arbeitet. Und eines Abends in Ascot, bei einem Gläschen – dein Dad war gerade zu einer Besprechung weg, Titch –, läßt Flora ganz nebenbei fallen, daß ihr Dobbsie von Beruf Städtebauer ist und daß er kürzlich diesen wichtigen Job ergattert hat. Was für einen Job, Liebes? erkundigt der Hofstaat sich artig. Flora zögert. Lange Wörter sind nicht ihre Stärke. Entschädigungsfestsetzung, zitiert sie, ein Begriff, den sie nicht so ganz verstanden hat. Entschädigung wofür, Liebes? fragt der Hofstaat und spitzt die Ohren, denn Entschädigung hat noch nie jemand geschadet. Entschädigung für Bombenschäden, sagt Flora und blickt mit wachsender Unsicherheit umher.
»Es war eine sichere Sache, Titch«, sagt Syd. »Dobbsie schwingt sich aufs Fahrrad, strampelt zu einem zerbombten Haus, klingelt in Whitehall an. ›Hier Dobbs‹, sagt er. ›Ich brauch spätestens Donnerstag zwanzig Mille und keine Widerrede.‹ Und die Regierung zahlt alles wie eine Lady. Warum?« Syd stupst mich mit dem Zeigefinger ans übergeschlagene Knie – Rick auf und nieder. »Weil Dobbsie unparteiisch ist, daß du mir das nie vergißt.«
Undeutlich erinnere ich mich auch an Dobbsie, einen unbedeutenden verschlagenen Menschen, der nach zwei Gläsern Schampus betrunken war. Ich erinnere mich, daß ich Anweisung bekam, nett zu ihm zu sein, und wann wäre Pym das nicht gewesen? »Sohn, wenn Mr. Dobbs hier irgend etwas möchte – wenn er dieses schöne Bild dort an der Wand möchte –, dann gibst du’s ihm. Verstanden?«
Pym sah das Bild mit den Schiffen auf einer roten See von Stund an in anderem Licht, aber Dobbsie sagte nie, daß er es haben wolle.
Sobald Floras erstaunliches Geheimnis aus dem Sack war, fährt Syd fort, läuft der Motor der Geschäfte auf Hochtouren. Rick wird von seiner Besprechung zurückgerufen, ein Treffen mit Dobbsie arrangiert, eine Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen eingeleitet. Beide Männer sind Liberale oder Freimaurer oder die Söhne großer Männer, beide setzen auf Arsenal, bewundern Joe Louis, halten Noël Coward für schwul oder teilen die Vision, wie Männer und Frauen aller Rassen Arm in Arm dem einen großen Himmel entgegenmarschieren, der ehrlich groß genug ist für uns alle, gleich welcher Farbe und welchen Glaubens – das ist eine von Ricks Standardansprachen, bei der er garantiert zu weinen anfängt. Dobbs wird Ehrenmitglied des Hofstaats und bringt schon nach ein paar Tagen einen lieben Kollegen namens Fox mit, der gleichfalls der Menschheit Gutes tun möchte und den Job hat, geeignetes Bauland für das Nachkriegs-Utopia ausfindig zu machen. So mehren sich die Kräuselwellen der Verschwörung, finden zueinander und breiten sich aus.
Als nächster wird Perce Loft des Segens teilhaftig. Während er in den Midlands allerlei Geschäften nachgeht, hört Perce von einem in den letzten Zügen liegenden Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit munkeln, der auf einem Vermögen sitzt, und stellt Nachforschungen an. Der Vorsitzende des Vereins, ein gewisser Higgs – das Schicksal will, daß Verschwörer immer einsilbige Namen tragen – erweist sich als treuer Baptist. Wie Rick. Nie hätte Rick sonst dorthin gelangen können, wo er heute ist. Das Vermögen stammt von einem Familientrust, den ein Provinznotar namens Crabbe verwaltete, und Crabbe zog genau zu dem Zeitpunkt in den Krieg, als die Vermögensmasse verfügbar wurde, so daß der Trust sich recht und schlecht selber verwalten mußte. Als Baptist kann Higgs keine Gelder veruntreuen, wenn Crabbe ihn nicht deckt. Rick sorgt für Crabbes Entlassung aus dem Kriegsdienst, rauscht im Bentley mit ihm zur Chester Street, wo Crabbe die Ruhmesmauer besichtigen kann, die juristischen Bücher und die Lovelies, und von dort in den lieben alten Albany-Club, wo man gemütlich beisammensitzen und reden kann.
Crabbe erweist sich als blöder Giftzwerg, der beim Trinken den Ellbogen abspreizt, Sir, mit dem Schnurrbart wackelt, um den alten Militär zu spielen, und nach ein paar Gläsern wissen will, was ihr lahmärschigen Schlipsträger eigentlich getan habt, während ich an einer gewissen Auseinandersetzung teilnahm, Sir, und mir die Kugeln um die Ohren pfeifen ließ? Ein paar Drinks später jedoch, in The Goat, erklärt er, Rick sei genau der Mann, den er sich als Kommandeur gewünscht und für den er notfalls sein Leben gelassen hätte, wozu es mehrmals verdammt beinah gekommen sei. Aber Schwamm drüber. Er nennt Rick sogar »Colonel«, womit er ein bizarres Satyrspiel im Aufstieg des großen Mannes einleitet, denn Rick gefällt dieser Dienstrang so gut, daß er beschließt, ihn sich allen Ernstes selber zu verleihen, so, wie er sich in späteren Jahren selber einredet, er sei insgeheim vom Herzog von Edinburgh geadelt worden, und für Leute, die dieses Vertrauens würdig sind, entsprechende Visitenkarten benutzt.
Doch keine dieser zusätzlichen Verpflichtungen unterbricht Ricks atemraubenden Walzer auch nur einen Augenblick lang. Die ganze Nacht, das ganze Wochenende empfängt das Haus in Ascot ein Gala-Ensemble der Großen, der Schönen und der Leichtgläubigen, denn Rick hat sich auf das Sammeln von Berühmtheiten verlegt, wie auf das Sammeln von Narren und Pferden. Cricketspieler der Nationalmannschaft, Jockeys, Fußballer, Staranwälte, korrupte Parlamentarier, strahlende Unterstaatssekretäre aus nützlichen Whitehall-Ressorts, griechische Reeder, Cockney-Coiffeurs, obskure Maharadschas, betrunkene Richter, käufliche Bürgermeister, regierende Fürsten nicht mehr existierender Staaten, Prälaten mit Wildlederstiefeln und Brustkreuz, Radiokomödianten, Sängerinnen, aristokratische Müßiggänger, Kriegsmillionäre und Filmstars – alle ziehen über unsere Bühne als die benebelten Nutznießer von Ricks großer Vision. Aalglatte Bankmanager und Präsidenten von Bauunternehmen, die noch nie getanzt hatten, werfen das Jackett ab, gestehen frustrierte Leben ein und verehren Rick, der Sonne und Regen spendet. Ihre Ehefrauen bekommen unerschwingliche Nylons, Parfums, Benzinscheine, diskrete Abtreibungen, Pelzmäntel und, wenn sie zu den Glücklichen zählen, Rick selber – denn jeder muß etwas bekommen, jeder muß versorgt werden, jeder muß größte Stücke auf ihn halten.
Haben sie Ersparnisse, Rick wird sie verdoppeln. Wetten sie gern, wird Rick bessere Quoten für sie herausholen als die Buchmacher, gebt mir das Bare, ich besorge den Rest. Ihre Kinder werden an Pym weitergereicht, der sie unterhält, sie werden dank der Vermittlung des lieben alten Soundso vom Militärdienst befreit, bekommen goldene Uhren, Karten für das Cup-Finale, rote Setterhündchen und, wenn ihnen etwas fehlt, die besten Ärzte. Es gab eine Zeit, als solche Freigebigkeit dem heranwachsenden Pym mißfiel und seinen Neid erregte. Heute nicht. Heute würde ich sie höchstens als normale Agentenbetreuung bezeichnen.
Und mitten unter ihnen streichen, lässig wie Katzen, die schweigsamen Männer des erweiterten Hofstaats herum, die Männer von Mr. Muspoles Seite, mit breitschultrigen Anzügen und steifen braunen Hüten, sie nennen sich Berater und halten den Telefonhörer ans Ohr, sprechen aber nicht in die Muschel. Wer sie waren, wie sie zu uns kamen, wohin sie gingen – bis zum heutigen Tag wissen es nur der Teufel und Ricks Geist, und Syd weigert sich schlankweg, von ihnen zu sprechen, aber mit der Zeit habe ich mir eine, wie ich glaube, zutreffende Vorstellung von ihrer Tätigkeit gebildet. Sie sind die Schlächter in Ricks Tragikomödie, bald knieweich und in falsches Lächeln gehüllt, bald wie Shakespearesche Wachen rings um seine Bühne postiert, wo sie schurkisch im Halbdunkel warten, ihn auszuweiden.
Und auf leisen Sohlen in dieser ganzen Menagerie – wie zwischen ihren Beinen durchschlüpfend, obwohl er schon so groß war wie viele von ihnen – erblicke ich wiederum Pym, den willigen Pikkolo, den unschuldigen Novizen, den künftigen Lordoberrichter, der ihre Zigarren abschneidet und allen die Gläser nachfüllt. Pym, der seinem alten Herrn Ehre macht, der Diplomat in der Puppe, der auf jeden Zuruf herbeieilt: »Heh, Magnus, was haben sie denn in dieser neuen Schule mit dir angestellt – dich mit Stallmist gedüngt? Heh, Magnus, wer hat dir nur die Haare geschnitten? Heh, Magnus, erzähl mal von dem Taxifahrer, der seine Frau in Umstände gebracht hat!« Und Pym – der für sein Alter und Gewicht unwiderstehlichste raconteur von ganz Greater Ascot – steht zu Diensten, lächelt und schlängelt sich durch das Sammelsurium abstruser Erscheinungen, besucht zur Erholung spätabends Kurse in radikaler Politik bei Ollie und Mr. Cudlove in deren Cottage, wo man bei geklauten Sandwiches und Kakao einhellig zu dem Schluß kommt, daß alle Menschen Brüder seien, aber nichts gegen deinen Dad. Und obwohl politische Doktrinen für mich im Grund heute noch genauso bedeutungslos sind, wie sie es damals für Pym waren, erinnere ich mich an die schlichte Menschlichkeit unserer Diskussionen, in denen wir gelobten, die Wunden der Welt zu heilen, und an die Aufrichtigkeit, mit der wir einander vor dem Zubettgehen Frieden wünschten im Geiste Joe Stalins, der, ehrlich, Titch, und kein Wort gegen deinen Dad, für alle diese Kapitalistenschweine den Krieg gewonnen hat.
Zum regulären Ablauf gehören auch wieder Ferien für den Hofstaat, denn niemand kann ohne Entspannung ständig sein Bestes geben. St. Moritz ist von der Landkarte getilgt, seit Ricks Angebot, noch offenstehende Rechnungen durch den Kauf des ganzen Kurorts zu erledigen, auf Ablehnung gestoßen war; aber als Entschädigung – das damalige Lieblingswort – haben Rick und seine Ratgeber Südfrankreich ins Herz geschlossen, sie rauschen im Train bleu nach Monte, schmausen während der Reise im Speisewagen aus Messing und Samt und nehmen sich nur die Zeit, dem französischen Lokführer, einem erstklassigen Liberalen, ein Trinkgeld zu verabreichen, ehe sie zum Casino stürmen, verbotene Devisen in den Taschen. Pym, der in der Grande salle an Ricks Seite steht, sieht innerhalb von Sekunden das Schulgeld für ein ganzes Jahr verschwinden, ohne daß irgendwer irgendwas gelernt hätte. Wenn er lieber in die Bar geht, kann er mit einem Major de Widman von Gott weiß wessen Armee Ansichten austauschen. Der Major bezeichnet sich selber als König Faruks Stallmeister und behauptet, eine private Telefonleitung nach Kairo zu haben, sodaß er die Gewinnzahlen dorthin durchgeben und königliche, von Wahrsagern ausgeknobelte Orders entgegennehmen kann, um den Reichtum Ägyptens unter die Leute zu bringen. Für unsere mediterranen Tagesanbrüche haben wir den Trauermarsch zu den rund um die Uhr geöffneten Pfandleihen am Strand, wo Ricks goldene Uhr, sein goldenes Zigarettenetui, sein goldener Sektquirl und die goldenen Manschettenknöpfe der wankelmütigen Gottheit Liquidität geopfert werden. Für unsere besinnlichen Nachmittage haben wir den tir aux pigeons, wobei der Hofstaat nach reichlichem Mittagsmahl bäuchlings am Schießstand liegt und auf unglückliche Tauben ballert, die aus ihren Tunnels auftauchen und in den blauen Himmel flattern, ehe sie als wirbelnde Federklumpen ins Meer stürzen. Dann, nachdem alle Rechnungen erledigt, will heißen, unterschrieben, und die Portiers und Oberkellner mit reichlichen Trinkgeldern aus unserer letzten Barschaft versorgt sind, wieder heim nach London, um aufs neue die stetig zunehmenden Sorgen des Pym & Son-Imperiums zu schultern.
Denn nichts darf stillstehen, zuviel ist nicht genug, wie Syd selber zugibt. Kein Einkommen ist so sakrosankt, daß die Ausgaben es nicht übersteigen könnten; keine Ausgabe ist so bedeutend, daß nicht weitere Kredite aufgenommen werden könnten, um den totalen Dammbruch zu verhindern. Wenn der Bauboom vorübergehend durch ein mißliches neues Gesetz stagniert, so hat Major Maxwell Cavendish einen Plan, der Ricks Sportgeist zutiefst anspricht: es geht darum, jeden auszukaufen, der im Irish Sweep ein Pferd gezogen hat, und so automatisch erste, zweite und dritte Preise zu gewinnen. Mr. Muspole kennt einen insolventen Zeitungsbesitzer, der sich mit üblen Leuten eingelassen hat und schnell verkaufen muß; Rick hat sich von jeher als Bildner der menschlichen Seele gesehen. Perce Loft, der große Anwalt, möchte tausend Häuser in Fulham kaufen, Rick kennt eine Baugesellschaft, deren Vorsitzender den rechten Glauben hat. Mr. Cudlove und Ollie sind eng befreundet mit einem jungen Modedesigner, der die Konzession für das Eselsreiten beim geplanten Festival of Britain erworben hat. Rick tut nichts lieber, als unseren englischen Kindern eine Freude zu machen, und, mein Gott, Sohn, wenn’s jemand verdient hat, dann sind sie’s. Morrie Washingtons Neffe hat ein amphibisches Automobil erfunden, ein nationales Cricket-Toto, das dem Winterfußball-Toto entspricht, wird ins Auge gefaßt, Perce hat außerdem den Plan, ein irisches Dorf vertraglich zur Lieferung von Menschenhaar für die Perückenfertigung zu verpflichten, ein Markt, der rapide wächst dank der Großzügigkeit des neugeschaffenen nationalen Gesundheitsdiensts. Automatische Orangenschäler, Federn, die unter Wasser schreiben können, die leeren Patronenhülsen aus vorübergehend unterbrochenen Kriegen: jedes Projekt erfreut sich des Interesses unseres großen Denkers, zieht Experten und Alchimisten an, fügt der Ehrentafel von Pym & Son im Haus an der Chester Street eine weitere Zeile hinzu.
Was also ist schiefgegangen? frage ich Syd nochmals, während ich vorausblicke auf das unvermeidliche Ende. In welchem Fallstrick des Schicksals hat des großen Mannes Fuß sich verfangen? Meine Frage entfacht ungewöhnlichen Zorn. Syd setzt sein Glas ab.
»Dobbsie ist schiefgegangen, das war’s. Flora hat ihm nicht mehr genügt. Er hat alles haben müssen. Dobbsie ist dumm und dämlich geworden von den ganzen Weibern, stimmt’s, Meg?«
»Dobbsie hat sich übernommen«, sagt Meg, von jeher eine gründliche Kennerin menschlicher Schwächen.
Der arme Dobbsie ist, wie schließlich herauskam, so verblödet, daß er hunderttausend Pfund Entschädigung für einen Häuserblock verbuchte, der erst ein Jahr nach Beendigung des Bombenkriegs erbaut worden war.
»Dobbsie hat’s für alle vermasselt«, sagte Syd, überschäumend von moralischer Entrüstung. »Dobbsie war eigennützig, Titch. Ja, das war Dobbsie. Eigennützig. Ein Egozentriker.«
Zu dieser kurzen aber ruhmreichen Hochblüte von Ricks vielseitigen Unternehmungen ist noch eines nachzutragen, nämlich, daß er im Oktober 1947 seinen Kopf verkauft hat. Ich erfuhr davon erst, als ich auf den Stufen des Krematoriums stand und insgeheim versuchte, einige der weniger vertrauten Trauergäste einzuordnen. Ein atemloser junger Mann, der angeblich von einem Lehrkrankenhaus geschickt wurde, schwenkte ein Stück Papier vor meiner Nase und verlangte, daß die Zeremonie ausgesetzt werde. »Gegen Erhalt des Betrags von fünfzig Pfund Sterling in bar erkläre ich, Richard T. Pym, wohnhaft Chester Street, W., mich damit einverstanden, daß nach meinem Tod mein Kopf dem Zweck der Föderung medizinischer Forschungsarbeiten nutzbar gemacht wird.« Es regnete leicht. Im Schutz des Vordachs schrieb ich dem Jungen hastig einen Scheck über einhundert Pfund aus und riet ihm, er solle sich irgendwo einen anderen Kopf kaufen. Falls der Junge ein Bauernfänger war, überlegte ich, so wäre Rick der erste gewesen, der diesen Trick bewundert hätte.
***
Und immer klingelt irgendwo durch diesen Tumult leise der Name Wentworth in Pyms geheimem Ohr, wie ein Passwort, der nur den Eingeweihten bekannt ist: Wentworth. Und Pym, der Außenseiter, steht nicht auf der Liste und müht sich um Aufnahme, um Wissen. Wie wenn die älteren Mitarbeiter sich an der Bar in Fachchinesisch unterhalten und Pym, der Neue, auf dem äußersten Platz zuhört und nicht weiß, ob er Verständnis oder Taubheit mimen soll: »Wir haben Wentworth geknackt. Top secret und Wentworth. Haben Sie Wentworth-Clearing?« Bis dieser Name für Pym zum quälenden Symbol für vorenthaltenes Wissen wurde, zum Prüfstein für seine eigene Zugehörigkeit. »Der Hundsfott zieht eine Wentworth-Nummer ab«, hört er Perce Loft eines Abends leise grollen. »Diese Wentworth ist die reinste Tigerin«, sagt Syd einmal. »Schlimmer, als ihr Blödmann jemals war.« Jedesmal spornte dieser Name Pym zu neuerlichen Recherchen an. Doch weder Ricks Taschen noch seine Schreibtischschubladen oder sein Nachttisch oder das ledergebundene Adressenbüchlein oder das Telefonregister aus Plastik und nicht einmal seine Aktenmappe, die Pym wöchentlich mit Hilfe des Schlüssels von Ricks Asprey-Schlüsselkette inspizierte, lieferten auch nur einen einzigen Hinweis. Und schon gar nicht der unergründliche grüne Aktenkasten, der wie eine Reise-lkone zum Herzen von Ricks Glaubensexpeditionen geworden war. Kein bekannter Schlüssel paßte ins Schloß, und weder mit Geduld noch mit Gewalt war ihm beizukommen.
***
Und endlich kam Pym ins Internat. Der Scheck war abgeschickt, der Scheck wurde eingelöst. Der Zug fuhr an. Vor dem Fenster hielten Mr. Cudlove und mehrere Schülermütter die Taschentücher an die Augen und verschwanden. In seinem Abteil saßen Jungen, größer als er, die schnieften und an den Manschetten ihrer neuen grauen Jacken kauten. Pym jedoch blickte mit einer einzigen Kopfbewegung zurück auf sein bisheriges Leben und vorwärts auf den eisernen Pfad der Pflicht, der sich in den Herbstnebel schlängelte, und er dachte: Jetzt komm ich, der beste Rekrut, den ihr je hattet, ich bin der, nach dem ihr sucht, also nehmt mich. Der Zug hielt, die Schule war ein mittelalterliches Verlies ewigen Zwielichts, aber Sankt Pym, Apostel der Selbstlosigkeit, stand sogleich zu Diensten und half seinen Kameraden, riesige Koffer zu schultern und Schachteln die steinerne Wendeltreppe hochzuzerren, ungewohnte Kragenknöpfe zu bändigen, ihre Betten, Spinde und Kleiderhaken zu finden, und wies sich selber von jedem das schlechteste zu. Und als die Reihe an ihn kam, vor seinem Hausvorsteher zu einem ersten Gespräch zu erscheinen, machte Pym aus seiner Freude kein Hehl. Mr. Willow war ein großer schlichter Mann mit Tweedanzug und Cricket-Schlips, und die christliche Kargheit seines Zimmers bedeutete für Pym nach dem Haus in Ascot sofort eine Garantie für Rechtschaffenheit.
»Na, was mag denn da drin sein?« fragte Mr. Willow freundlich, als er das Päckchen an sein großes Ohr hielt und es schüttelte.
»Für Mrs. Willow, Sir. Aus Monte. Parfum. Soll ungefähr das beste sein, das die Franzmänner machen«, fügte er hinzu, ein Zitat von Major Maxwell Cavendish, Gentleman.
Mr. Willow hatte einen sehr breiten Rücken, und der war plötzlich alles, was Pym sah. Willow bückte sich, man hörte eine Schublade auf- und wieder zugehen, und das Päckchen war in dem riesigen Schreibtisch verschwunden. Es war, als hätte er Pyms Geschenk nicht einmal mit einem langen Enterhaken anfassen mögen.
»Nimm dich vor Tit Willow in acht«, hatte Sefton Boyd gewarnt. »Er prügelt freitags, damit du dich übers Wochenende erholen kannst.«
Doch Pym bemühte sich auch weiterhin, litt, meldete sich freiwillig zu jeder Arbeit und folgte jeder Glocke, die ihn rief. Trimesterlang. Lebenslang. Lief vor dem Frühstück, betete vor dem Laufen, duschte vor dem Beten, entleerte sich vor dem Duschen. Warf sich in den flandrischen Schlamm des Rugbyfeldes, robbte über glitschige Steinplatten, lernte, was als lernenswert galt, exerzierte so hart, um ein tüchtiger Soldat zu werden, daß ihm der Rückstoß seines langen Lee Enfield-Gewehrs das Schlüsselbein brach, und ließ sich im Boxring verdreschen bis zum Gehtnichtmehr. Und auch dann noch brachte er ein Grinsen zustande und hielt die Pfote hin, um den Verliererpreis in Empfang zu nehmen, ehe er in die Garderobe taumelte, und du hättest ihn geliebt, Jack; du hättest gesagt, Kinder und Pferde müssen kirre gemacht werden, die Public School sei mein Glück gewesen.
Ich finde das gar nicht. Ich glaube, die Schule hat mich fast umgebracht. Aber Pym glaubte das nicht – Pym fand alles ganz wunderbar und konnte nie genug davon kriegen. Und wenn die harten Gesetze einer Willkürjustiz es von ihm verlangten, was rückblickend jeden Abend der Woche der Fall gewesen zu sein scheint, dann preßte er das weiche Stirnhaar in ein schmutziges Waschbecken, umklammerte mit jeder zitternden Hand einen Wasserhahn und sühnte eine Reihe von Verbrechen, von denen er nicht wußte, daß er sie begangen hatte, bis sie ihm von Mr. Willow oder dessen Vertretern nach jedem Hieb leutselig erklärt wurden. Aber wenn er endlich im bebenden Dunkel des Schlafsaals lag und dem Knarzen und Hecheln Jugendlichen Sehnens lauschte, vermochte er sich trotz allem einzureden, daß er zum Prinzen erzogen werde und wie Jesus zum Ruhm des göttlichen Vaters leiden müsse. Und seine Aufrichtigkeit, die Sympathie für seine Mitmenschen gediehen unbeirrt.
An einem einsamen Nachmittag konnte er bei Noakes, dem Platzwart, in dessen Cottage neben der Mostfabrik sitzen, Kuchen und Kekse essen und mit erfundenen Anekdoten über die Streiche der großen Athleten, die sich bei den Festlichkeiten in Ascot keinen Zwang angetan hatten, den alten Sportsmann zu Tränen entzücken. Alles Unsinn, und doch für ihn alles reine Wahrheit, wenn er seine Märchen spann. »Doch nicht der Professor?« rief Noakes dann ungläubig. »Der große Professor Bradman persönlich hat auf dem Küchentisch getanzt? Bei dir zuhause, Pymmie? Erzähl weiter.« »Und er hat dazu gesungen: ›Als Knäblein klein an der Mutterbrust‹«, sagte Pym. Dann, während Noakes noch über diese Einblicke strahlte, wanderte Pym stracks hügelan zum ältlichen Mr. Glover, dem Hilfs-Zeichenlehrer, der Sandalen trug, half ihm beim Reinigen der Paletten und entfernte den täglichen Farbpulver-Belag von den Genitalien des marmornen Cherub in der Haupthalle. Mr. Glover war indes das absolute Gegenteil von Noakes. Ohne Pym hätte es zwischen den beiden nichts Gemeinsames gegeben. Für Mr. Glover war der Schulsport eine Tyrannei, schlimmer als die Tyrannei Hitlers, und ich wollte, sie würden ihre verdammten Fußballstiefel in den Fluß schmeißen, jawohl, und ihre Spielfelder umpflügen und lieber mehr für die schönen Künste tun. Und Pym wollte das auch und schwor, sein Vater werde eine Schenkung machen, damit ein neuer Zeichensaal von doppelter Größe gebaut werden könne, vermutlich ein paar Millionen, aber es muß unter uns bleiben.
»Ich an deiner Stelle würde nicht mit deinem Vater angeben«, sagte Sefton Boyd. »Für Schieber haben sie hier nichts übrig.«
»Für geschiedene Mütter auch nicht«, konterte Pym ausnahmsweise. Aber im allgemeinen verfolgte er die Strategie, zu befrieden und zu versöhnen und alle Fäden selber in der Hand zu behalten.
Eine weitere Eroberung war Bellog, der Deutschlehrer, den die Sünden seines Adoptivvaterlands offenbar physisch verkrüppelt hatten. Pym bombardierte ihn mit Fleißarbeiten, kaufte ihm auf Ricks Rechnung bei Thomas Goode einen teuren deutschen Bierkrug, führte seinen Hund spazieren und lud ihn nach Monte ein, alle Ausgaben inbegriffen, was Bellog barmherzigerweise ablehnte. Heute würde ich über ein derart naives Werben erröten und mir das Hirn zermartern, ob Bellog sauer geworden und abgesprungen sei. Nicht so Pym. Pym liebte Bellog, wie er sie alle liebte. Und er brauchte die deutsche Seele, er war seit Lippsie hinter ihr her. Er mußte sich dieser Seele hingeben, geradewegs in Mr. Bellogs bestürzte Hände, obwohl Deutschland ihm nichts bedeutete, es sei denn Flucht in ein allseits gemiedenes Gehege, wo man seine Talente zu schätzen wüßte. Er brauchte die Umarmung, das Geheimnis, den Schlupfwinkel einer anderen Seite des Lebens. Er brauchte die Möglichkeit, hinter seinem Englischsein, so sehr er es lieben mochte, die Tür zu schließen und sich irgendwo anders einen neuen Namen zu machen. Er ging gelegentlich sogar so weit, daß er sich einen leichten deutschen Akzent zulegte, was Sefton Boyd zu Ausbrüchen rasenden Zorns trieb.
Und Frauen? Jack, niemand verstand die möglichen Vorzüge eines richtig manipulierten weiblichen Agenten besser zu würdigen als Pym, aber in dieser Schule war es teuflisch schwer, an sie heranzukommen, und irgendeine Person, einschließlich der eigenen, zu manipulieren, war ein strafwürdiges Vergehen. Mrs. Willow, die Pym jederzeit zu lieben bereit war, schien ständig in anderen Umständen zu sein. Pyms schmachtende Blicke waren an ihr verloren. Die Hausmutter war eine recht ansehnliche Frau, aber als er sie eines Nachts unter dem Vorwand starker Kopfschmerzen in der vagen Hoffnung aufsuchte, ihr einen Heiratsantrag machen zu können, schickte sie ihn mit scharfen Worten wieder ins Bett. Nur die kleine Miss Hodges, die Violinlehrerin, stellte eine kurzlebige Verheißung dar: Pym verehrte ihr einen schweinsledernen Geigenkasten von Harrods und erklärte, er wolle Violinvirtuose werden, aber sie weinte und riet ihm, ein anderes Instrument zu wählen.
»Meine Schwester will es mit dir machen«, sagte Sefton Boyd eines Nachts, als sie in lustloser Umarmung in Pyms Bett lagen. »Sie hat dein Gedicht in der Schulzeitung gelesen. Hält dich für Keats.«
Pym war nicht besonders überrascht. Sein Gedicht war zweifellos ein Meisterwerk, und Jemima Sefton Boyd hatte ihm verschiedentlich finstere Blicke durch die Windschutzscheibe zugeworfen, wenn der Landrover der Familie ihren Bruder am Wochenende abgeholt hatte.
»Sie ist scharf drauf«, erklärte Sefton Boyd. »Sie macht es mit jedem. Sie ist nympho.
« Pym schrieb ihr sofort einen Brief, ein Stück Poesie.
»Ein Märchen webt in Deinem seidnen Haar. Ist Dir denn nicht bewußt, auch Schönheit könne eine Sünde sein? Zwei Schwäne nisten auf dem Klosterweiher. Ich sehe ihnen zu und träum von Deinem Haar. Ich liebe Dich.«
Sie antwortete postwendend, doch inzwischen hatte Pym ob seiner Kühnheit bereits Höllenqualen der Reue gelitten.
Vielen Dank für Deinen Brief. Ab dem fünfundzwanzigsten, an dem Ihr auch ein freies Wochenende habt, bekomme ich einen längeren Urlaub von der Schule. Ein Wink des Schicksals. Mama will Dich für Sonntag Abend einladen und Mr. Willow bitten, daß Du bei uns übernachten darfst. Denkst Du an eine Entführung?
Ein zweiter Brief ging mehr in die Details:
Die Dienertreppe ist absolut sicher. Ich werde eine Kerze anzünden und Wein bereithalten, falls Du durstig bist. Bring alle Gedichte mit, an denen Du gerade arbeitest, und bitte streichle mich zuerst. An meiner Tür findest Du die rote Rosette, die ich in den letzten Ferien beim Springen auf Smokey gewonnen habe.
Pym war starr vor Angst. Wie konnte er vor einer so erfahrenen Frau bestehen? Brüste kannte und liebte er. Aber Jemima schien keine zu haben. Alles übrige an ihr war ein wirres Dickicht aus Gefahren und Krankheit, und seine Erinnerungen an Lippsie im Badezimmer wurden mit jeder Minute nebelhafter. Eine Karte kam:
Wir würden uns alle sehr freuen, wenn Du uns am Wochenende des fünfundzwanzigsten in Hadwell besuchen könntest. Ich schreibe gesondert an Mr. Willow. Kein großes Gepäck, denn im Sommer kleiden wir uns nicht zum Dinner an.
Elizabeth Sefton Boyd.
Auf dem Hügel über Mr. Willows Haus stand eine Mädchenschule, voll brauner Vestalinnen. Jungen, die in dieses Gelände eindrangen, wurden geprügelt und flogen aus der Schule. Aber Elphick vom Nelson House behauptete, wer sich unter den Steg stellte, den die Mädchen auf ihrem Weg zum Hockey überquerten, könne viel lernen. Doch ach, alles, was Pym sah, als er diesen Rat befolgte, waren einige kalte Knie, die sich kaum von seinen eigenen unterschieden. Schlimmer noch, er mußte den derben Spott einer Turnlehrerin erdulden, die sich über das Geländer beugte und ihn zum Mitspielen aufforderte. Angewidert stelzte Pym zurück zu seinen deutschen Dichtern. Die Stadtbücherei wurde von einem ältlichen Fabler geleitet, einem von Pyms Agenten. Pym verzichtete aufs Mittagessen und pirschte sich unbemerkt durch die Reihen mit der Aufschrift »Nur für Erwachsene«. Leitfaden für die vollkommene Ehe schien ein Nachschlagewerk über Hypotheken zu sein. Das chinesische Kopfkissenbuch begann vielversprechend, verfiel jedoch alsbald in eine Beschreibung von Pfeilspielen und springenden weißen Tigern. Amor und das Weib im Rokoko indessen, reich illustriert, war ganz anderer Art, und als Pym in Hadwell eintraf, erwartete er, nackte Grazien im Park mit ihren Galanen schäkern zu sehen. Beim Dinner, das zu seiner Erleichterung bekleidet eingenommen wurde, nahm Jemima von Pym keinerlei Notiz, verbarg ihr Gesicht hinter den Haaren und las Jane Austen. Ein reizloses Mädchen namens Belinda, als Jemimas beste Freundin bezeichnet, blieb aus Corpsgeist ebenfalls stumm.
»So ist Jem immer, wenn sie geil wird«, erklärte Sefton Boyd in Belindas Hörweite, worauf Belinda versuchte, ihn zu knuffen, und dann wütend davonstürmte.
Als Pym zu Bett geschickt wurde, erklomm er die große gewundene Treppe, während ein Dutzend Glocken sein Totengeläut bimmelten. Wie oft hatte Rick ihn vor Frauen gewarnt, die es nur auf sein Geld abgesehen hatten? Wie sehnte er sich nach der Geborgenheit seines Schulbetts. Als er über den Treppenabsatz ging, sah er im schwachen Licht eine Rosette blutrot schimmern. Er stieg noch ein Stockwerk höher und sah Belinda grimmig aus ihrer Tür glotzen. »Du kannst hier rein kommen, wenn du magst«, sagte sie ruppig.
»Schon gut, vielen Dank«, sagte Pym. Er ging in sein Zimmer. Auf dem Kopfkissen lagen seine 8 Liebesbriefe und 4 Gedichte an Jemima, sie waren gebündelt und rochen nach Sattelseife.
»Bitte nimm Deine Briefe zurück, die mich bedrücken, weil wir leider nicht mehr harmonieren. Ich weiß nicht, was Dich überkommen hat, daß Du Dir das Haar in die Stirn geklebt hast wie ein Laufbursche, aber von nun an begegnen wir uns als Fremde.«
Niedergeschmettert vor Demütigung und Verzweiflung eilte Pym zurück in die Schule, und noch am selben Abend schrieb er an jede Mutter, aktiv oder außer Diensten, deren Namen und Adresse er habhaft werden konnte.
»Liebste Toppsie, Cherry, meine liebe Mrs. Ogilvie, Mabel, meine liebe Violet, ich werde unmenschlich geschlagen, weil ich Gedichte schreibe, und ich bin sehr unglücklich. Bitte hol mich aus dieser gräßlichen Schule fort.« Aber als sie seinen Hilferuf beantworteten, empörte ihn die Bereitwilligkeit ihrer Liebe, und er warf die kaum gelesenen Briefe weg. Und als eine von ihnen, die Beste, alles liegen und stehen ließ und hundert kostspielige Meilen weit reiste, um ihm in The Feathers eine Portion Mixed Grill zu kaufen, begegnete Pym ihren Fragen mit kühler Höflichkeit. »Ja, danke, die Schule ist super, alles bestens. Wie geht’s dir?« Dann brachte er sie eine Stunde zu früh an den Bahnhof, sodaß er rechtzeitig zum Fußballtraining kam.
»Liebe Belinda«, schrieb er in flüssiger Dichterschrift. »Vielen Dank für den Brief, worin Du erklärst, daß Jem unbeständig sei. Ich weiß, Mädchen in diesem Alter sind schrecklich sensibel und machen alle möglichen Entwicklungen durch, es ist also wirklich kein Wunder. Unser Haus hat das Junioren-Match gewonnen, eine kleine Sensation. Ich denke oft an Deine schönen Augen. Magnus.«
»Lieber Vater«, schrieb er in schroffem edwardischen Stil, den er von Sefton Boyd übernommen hatte. »Ich bin hier gesellschaftlich sehr aktiv, was genau das Richtige ist und mich weiterbringt. Alle sind mir dafür sehr dankbar, aber die Preise in der Konditorei sind gestiegen, und ob Du mir wohl nochmals fünf Pfund schicken kannst, damit ich hinkomme.«
Zu seiner Überraschung schickte Rick ihm nichts, sondern kam persönlich vom Berge herab und brachte kein Geld mit, aber viel Liebe, und darum hatte Pym in seinem Brief vor allem gebeten.
***
Es war Ricks erster Besuch. Bisher hatte Pym ihn mit der Erklärung ferngehalten, vornehme Eltern würden als schlechter Stil betrachtet. Und Rick hatte seine Zurückweisung mit ungewohnter Schüchternheit hingenommen. Jetzt kam er mit derselben Schüchternheit an, adrett und liebevoll und seltsam demütig. Er wagte sich nicht in die Schule, sondern schickte einen handgeschriebenen Brief, worin er ein Treffen an der Straße nach Farleigh Abbot vorschlug, das am Meer lag. Als Pym laut Anweisung per Fahrrad dort eintraf und erwartete, den Bentley und den halben Hofstaat vorzufinden, kam statt dessen Rick allein um die Ecke gefahren, ebenfalls per Rad, lächelte so liebevoll, daß Pym es meilenweit hätte sehen können, und summte leise und falsch Underneath the Arches. Im Gepäckkorb hatte er ein Picknick aus ihren Lieblingsgerichten mitgebracht, eine Flasche Ingwerlimonade für Pym, Schampus für sich selber und einen Fußball, der vom Paradies übriggeblieben war. Sie fuhren mit ihren Rädern über den Sand und ließen Kiesel über die Wellen tanzen. Sie lagen in den Dünen und aßen foie gras und Knäckebrot. Sie schlenderten durch das Städtchen und überlegten, ob Rick es kaufen solle. Sie betrachteten die Kirche und gelobten, nie aufs Beten zu vergessen. Sie bauten aus einem zerbrochenen Zaun ein Tor und schossen den Fußball quer durch die ganze Welt. Sie küßten sich und weinten, umarmten einander und schworen, daß sie ihr Leben lang Freunde bleiben und jeden Sonntag radfahren wollten, auch wenn Pym dereinst Lordoberrichter und verheiratet sein und Enkelkinder haben würde.
»Hat Mr. Cudlove den Dienst quittiert?« fragte Pym.
Rick hörte es gerade noch, obwohl sein Gesicht bereits den träumerischen Ausdruck trug, den es jedesmal bekam, wenn eine direkte Frage anstand.
»Ja, Sohn«, gab er zu, »unser Cuddie hat im Lauf der Jahre so manches erlebt, und er meint, es sei an der Zeit, daß er sich ein bißchen Ruhe gönnt.«
»Wie geht’s mit dem Swimmingpool voran?«
»Fast fertig. Fast fertig. Wir müssen Geduld haben.«
»Super.«
»Sag mal, Sohn«, sagte Rick, verehrungswürdiger denn je, »hast du nicht irgendwelche Kameraden, die so nett sein würden, dir Bett und Unterkunft während der Schulferien zu geben, die schon am Horizont aufziehen?«
»Jede Menge«, sagte Pym und bemühte sich, gleichgültig zu klingen.
»Dann glaube ich, daß du gut daran tätest, ihre Einladungen anzunehmen, denn mit all der Bauerei in Ascot kannst du dort schwerlich die Ruhe und Entspannung finden, die dir nach deinen geistigen Anstrengungen zustehen.«
Pym sagte sofort, das werde er tun, und machte noch viel mehr Aufhebens um Rick, damit Rick nicht etwa auf die Idee käme, Pym sei mit irgend etwas nicht einverstanden.
»Ich bin übrigens in ein super Mädchen verliebt«, sagte er, als der Abschied nahte – ein weiterer Versuch, Rick vom bestmöglichen Stand der Dinge zu überzeugen. »Ein Riesenspaß. Wir schreiben einander täglich.«
»Sohn, es gibt nichts Besseres im Leben als die Liebe einer guten Frau, und wenn einer sie verdient, dann bist du’s.«
***
»Sag mal, Junge«, sagte Willow eines Abends während eines Privatissimums, »was macht dein Vater eigentlich genau?«
Worauf Pym mit natürlichem Gespür für den Weg zu Willows Herzen erwiderte, er scheine eine Art, na ja, selbständiger Geschäftsmann zu sein, Sir, ich weiß es nicht. Willow wechselte das Thema, aber bei ihrer nächsten Sitzung zwang er Pym, Auskunft über seine Mutter zu geben. Pyms erster Impuls war zu sagen, sie sei an Syphilis gestorben, eine Krankheit, die in Mr. Willows Aufklärungsunterricht eine große Rolle spielte. Aber er beherrschte sich.
»Sie ist praktisch einfach verschwunden, als ich noch klein war, Sir«, gestand er, wahrheitsgetreuer, als er beabsichtigt hatte.
»Mit wem?« sagte Mr. Willow. Also sagte Pym, aus keinem besonderen Grund, den er sich später hätte erklären können, mit einem Sergeant der Army, Sir, er war schon verheiratet, deshalb ist er mit ihr nach Afrika durchgebrannt.
»Schreibt sie dir, Junge?«
»Nein, Sir.«
»Warum nicht?«
»Ich glaube, sie schämt sich zu sehr, Sir.«
»Schickt sie dir Geld?«
»Nein, Sir. Sie hat keines. Er hat ihr alles abgeschwindelt.«
»Wir sprechen noch immer von dem Sergeant, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
Mr. Willow dachte nach.
»Weißt du über die Aktivitäten der Firma The Muspole Friendly & Academic Limited Bescheid?«
»Nein, Sir.«
»Du scheinst einer der Direktoren dieser Firma zu sein.«
»Das wußte ich nicht, Sir.«
»Dann weißt du vermutlich auch nicht, wieso diese Firma deine Schulgebühren bezahlt? Oder sie vielleicht nicht bezahlt?«
»Nein, Sir.«
Mr. Willow schob das Kinn vor und kniff die Augen zusammen, ein Zeichen, daß er beim Verhör eine schärfere Gangart anschlagen würde.
»Und lebt dein Vater in einem gewissen Luxus, was meinst du, verglichen mit dem Lebensstandard der Eltern anderer Schüler?«
»Ich glaube schon, Sir.«
»Mißbilligst du seinen Lebensstil?«
»Ein bißchen, glaube ich.«
»Hast du schon einmal daran gedacht, daß du eines Tages gezwungen sein könntest, zwischen Gott und dem Mammon zu wählen?«
»Ja, Sir.«
»Hast du darüber mit Hochwürden Murgo gesprochen?«
»Nein, Sir.«
»Dann tu’s.«
»Ja, Sir.«
»Hast du je daran gedacht, Geistlicher zu werden?«
»Oft, Sir«, sagte Pym und setzte seine salbungsvolle Miene auf.
»Wir haben hier einen Fonds für mittellose Knaben, Pym, die Geistliche werden wollen. Der Quästor hat den Eindruck, daß du für Zuwendungen aus diesem Fonds infrage kommen könntest.«
»Ja, Sir.«
Father Murgo war ein großzahniger umgetriebener Geist und hatte die, angesichts seiner proletarischen Herkunft aussichtslose Aufgabe, in den Public Schools als Gottes reisender Talentsucher zu wirken. Während Willow donnernd und schroff war, eine Art Makepeace Watermaster ohne ein Geheimnis, wand Murgo sich unter seinem Habit wie ein Frettchen in einem Sack. Während Willows furchtloses Auge von keinem Wissen getrübt wurde, verriet Murgos Blick die einsame Pein der Zelle.
»Er spinnt«, erklärte Sefton Boyd. »Schau dir den Schorf an seinen Knöcheln an. Das Schwein kratzt ihn beim Beten dauernd auf.«
»Er kasteit sich«, sagte Pym.
»Magnus?« echote Murgo in seinem scharfen Nordland-Dialekt.
»Wer hat dir diesen Namen gegeben? Gott ist Magnus. Du bist Parvus.« Sein rasches rotes Lächeln blitzte auf wie ein Schnitt, der nicht heilen wollte. »Komm heute abend«, drängte er. »Allenby-Treppe. Gästezimmer für Lehrer. Klopfen.«
»Du blöder Hund, er wird dich abtatschen«, schrie Sefton Boyd außer sich vor Eifersucht. Aber Murgo tatschte niemanden, wie Pym richtig angenommen hatte. Seine einsamen Hände blieben durch unsichtbare Handschellen in den Ärmeln gefesselt und erschienen nur zum Essen oder zum Beten. Den Rest dieses Sommertrimesters schwebte Pym auf Wolken ungeahnter Freiheit. Kaum eine Woche zuvor hatte Willow geschworen, er werde einen Jungen verprügeln, der es gewagt hatte, Cricket als Erholung zu bezeichnen. Jetzt brauchte Pym nur zu erwähnen, daß er einen Spaziergang mit Murgo machen wolle, um von jedwedem Sport befreit zu werden. Verbummelte Aufsätze wurden wie durch ein Wunder nicht eingefordert, Prügel, die ihm eigentlich zugestanden hätten, auf später verschoben. Auf atemlosen Märschen, Radfahrten, in kleinen ländlichen Teestuben oder des Abends in einer Ecke von Murgos elendem Zimmer hockend, gab Pym eifrig Versionen seiner selbst zum besten, die beide abwechselnd schockierten und begeisterten. Der eitle Materialismus seines Zuhause. Seine Suche nach Glauben und Liebe. Sein Kampf gegen die Dämonen der Selbstbefleckung und gegen Versucher wie Kenneth Sefton Boyd. Seine Bruder-Schwester-Beziehung zu dem Mädchen Belinda.
»Und die Ferien?« begann Murgo eines Abends, als sie einen Reitweg entlangtrabten, vorbei an Pärchen, die im Gras schmusten. »Viel Spaß, wie? Üppiges Leben?«
»Die Ferien sind eine Wüste«, sagte Pym getreulich. »Für Belinda auch, Ihr Vater ist Börsenmakler.«
Die Beschreibung wirkte auf Murgo wie ein Köder. »Oh, eine Wüste, sagst du? Eine Wildnis? Dann bedenke: auch Christus war in der Wüste, Parvus. Verflixt lang. Und der heilige Antonius. Zwanzig Jahre hat er in einem dreckigen kleinen Fort am Nil gedient. Vielleicht hast du das vergessen.«
»Nein, hab ich nicht.«
»Also, so war’s. Und es hat nicht verhindert, daß er mit Gott gesprochen hat und Gott zu ihm. Antonius war nicht vom Schicksal begünstigt. Er hatte kein Geld und keinen Besitz oder noble Autos oder Maklerstöchter. Er betete.«
»Ich weiß«, sagte Pym.
»Komm nach Lyme. Folg dem Ruf. Tu es Antonius gleich.«
»Was hast du mit deinen verschissenen Stirnhaaren gemacht?« kreischte Sefton Boyd an diesem Abend vor Lachen.
»Abgeschnitten.«
Sefton Boyd hörte auf zu lachen. »Du willst ein zweiter Murgo werden«, sagte er leise. »Du bist in ihn verliebt, du blöde Schnalle.«
Sefton Boyds Tage waren gezählt. Aufgrund erhaltener Informationen – noch jetzt erröte ich, wenn ich an deren Quelle denke – hatte Mr. Willow entschieden, daß Jung-Kenneth allmählich ein bißchen zu alt für die Schule sei.
***
Hier, Jack, hast du also noch einen weiteren Pym, und ich rate dir, nimm ihn zu meinen Akten, auch wenn er für dich weder bewundernswert noch, wie ich argwöhne, verständlich ist. Poppy allerdings kannte ihn vom ersten Tag an durch und durch. Es ist der Pym, der keine Ruhe findet, ehe die Leute ihn ins Herz geschlossen haben, und der dann nicht ruht, bis er sich einen Weg wieder herausgebahnt hat, je drastischer, desto besser. Der Pym, der nichts aus Zynismus tut, nichts ohne Überzeugung. Der Ereignisse auslöst, um dann ihr Opfer zu werden, was er als Entscheidung bezeichnet, und sich in sinnlose Beziehungen verstrickt, was er Loyalität nennt. Dann auf das nächste Ereignis wartet, das ihn aus dem letzten herausholt, was er Schicksal nennt. Er ist der Pym, der eine Einladung ablehnt, vierzehn Tage bei den Sefton Boyds in Schottland zu verbringen, alles frei einschließlich Jemima, weil er versprochen hat, im Schlepp eines besessenen Eiferers aus Manchester über die Hügel Dorsets zu stürmen und sich auf ein Leben vorzubereiten, das zu führen er nicht die leiseste Absicht hat, inmitten von Leuten, die ihm im Innersten zuwider sind. Es ist der Pym, der täglich an Belinda schreibt, weil Jemima seine Göttlichkeit angezweifelt hat. Es ist Pym, der Samstagabend-Gaukler, der um den Tisch hüpft und einen Unsinn nach dem anderen serviert, weil er es nicht ertragen kann, irgendwen auch nur eine Sekunde lang zu enttäuschen und so dessen Achtung zu verlieren. Also geht er hin und erstickt fast am Weihrauch und schläft in einer Zelle, die stinkt wie ein nasser Hund, und stirbt fast an Brennesselsalat, um fromm zu werden und sein Schulgeld zu bezahlen und Murgos Bewunderung zu erringen.
Inzwischen häuft er neue Versprechen auf alte und redet sich ein, auf dem Pfad zum Himmel zu sein, während er sich immer tiefer in seinen eigenen Sumpf buddelt. Nach Ablauf einer Woche hat er sich für ein Jugendlager in Hereford verpflichtet, zu ökumenischen Exerzitien in Shropshire, einer Gewerkschafter-Wallfahrt in Wakefield und einem Gebetstreffen unter freiem Himmel in Derby. Nach Ablauf einer zweiten Woche gibt es in ganz England keine Grafschaft mehr, wo er nicht auf sechs verschiedene Arten seine Heiligmäßigkeit gelobt hätte – womit nicht in Abrede gestellt wird, daß er sich gelegentlich als ausgemergelten Apostel der Weltentsagung sah, der schöne Frauen und Millionäre zur christlichen Armut bekehren würde. Es dauerte einen vollen Monat, ehe Gott den Ausweg öffnete, auf den Pym gewartet hatte.
Sofortige ANWESENHEIT CHESTER STREET NOTWENDIG IN SACHEN HÖCHSTER NATIONALER UND INTERNATIONALER BEDEUTUNG. RICHARD T. PYM GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR PYMCORP.
»Du mußt hin«, sagte Murgo, und Tränen des Jammers rollten ihm über die hohlen Wangen, als er Pym nach der Terz das verhängnisvolle Telegramm aushändigte.
»Ich glaube nicht, daß ich es ertrage«, sagte Pym, nicht weniger betroffen. »Es geht nur um Geld, immer um Geld.«
Sie gingen an der Druckerwerkstatt und der Flechtwerkstatt vorbei durch die Küchengärten zu dem kleinen Pförtchen, das Ricks Welt aussperrte.
»Du hast es doch nicht selber abgeschickt, wie, Parvus?« fragte Murgo.
Pym schwor, er habe es nicht getan, was der Wahrheit entsprach.
»Du begreifst nicht, welche Kraft du bist«, sagte Murgo. »Ich glaube nicht, daß ich je wieder der selbe Mensch sein werde.«
Nie wäre Pym auf den Gedanken gekommen, daß Murgo der Veränderung fähig sei.
»Well«, sagte Murgo mit einer letzten traurigen Zuckung.
»Auf Wiedersehen«, sagte Pym. »Und vielen Dank.«
Aber beiden leuchtet ein Licht in der Zukunft. Pym hat versprochen, Weihnachten zurück zu sein, wenn die Landstreicher kommen.
Tolle Wechselfälle, Tom. Tolle Sprünge und Lieben, jedesmal noch toller. Irgendwann damals schrieb ich auch an Dorothy, per Adresse Sir Makepeace Watermaster im House of Commons, obwohl ich wußte, daß er gestorben war. Ich wartete eine Woche, dann vergaß ich es, bis mein Geniestreich eines schönen Tages aus heiterem Himmel durch ein armseliges Briefchen belohnt wurde, auf liniertem Papier, von einem Notizblock abgerissen, fleckig von Schnaps oder Tränen, ohne Absender, nur der Poststempel East London, ein Land, das ich nie aufgesucht hatte. Der Brief liegt vor mir.
»Deine Stimme kam über viele Jahre zu mir, mein Herz, ich habe Deinen Brief im Küchenschrank bei meinem Geschirr verwahrt, um ihn nach Herzenslust anzusehen. Ich bin Donnerstag drei Uhr nachmittags am Bahnhof Euston Bahnsteig nach London ohne meinen Herbie und halte ein Sträußchen Lavendel in der Hand, den Du immer gern hattest.«
Pym, der seinen Schritt bereits bereute, kam zu spät zum Bahnhof und bezog Posten in der dunklen Ecke unter einem Eisenbogen neben einigen Postsäcken. Eine ganze Schar von Müttern wimmelte herum, einige annehmbar, andere weniger, aber es war keine dabei, die er wollte, und mehrere waren betrunken. Und eine von ihnen schien ein Blumensträußchen zu umklammern, in Zeitungspapier gewickelt, aber inzwischen war er zu dem Schluß gelangt, daß er auf dem falschen Bahnsteig stand. Pym hatte seine geliebte Dorothy sehen wollen, nicht ein watschelndes altes Suppenhuhn mit einem komischen Hut.
***
Der Abend eines Wochentags, Tom. Der Verkehr in der Chester Street rumpelt und knattert im Regen, aber in der Reichskanzlei herrscht Sonntagsfrieden. Noch erfüllt von Klosterfrömmigkeit drückt Pym auf die Klingel, hört aber drinnen kein Glockenspiel ertönen. Er läßt den Messingklopfer gegen den Beschlag knallen. Eine Spitzengardine teilt und schließt sich. Die Tür geht auf, aber nicht weit.
»Ich bin Cunningham, junger Herr«, sagt ein schwerer Mann in breitestem Exilanten-Cockney und schließt rasch hinter Pym die Tür, als fürchte er, Bakterien hereinzulassen. »Und Sie dürften der Sohn und Erbe sein. Habe die Ehre, junger Herr, Salaam.«
»How do you do?« sagt Pym.
»Ich bin optimistisch, junger Herr, danke«, erwidert Mr. Cunningham mit mitteleuropäischer Wörtlichkeit. »Ich meine, wir sind auf dem besten Weg, uns zu verstehen. Ein bißchen Widerstand zu Anfang ist zu erwarten. Aber ich glaube, ich sehe schon einen Lichtschein.«
Das ist mehr, als Pym von sich sagen könnte, denn der Korridor, den Mr. Cunningham ihn so zielsicher entlangführt, ist stockdunkel, und das einzige Licht kommt von den hellen Stellen an der Wand, die von den verschwundenen juristischen Büchern zurückgelassen wurden.
»Sie studieren Deutsch, soviel ich weiß, junger Herr«, sagt Mr. Cunningham noch breiiger, als habe die Anstrengung seine Polypen überfordert. »Eine schöne Sprache. Was das Volk angeht, bin ich da nicht so sicher. Aber eine hübsche Sprache, wenn sie in den richtigen Händen ist, ich weiß, was ich sage.«
»Warum gehen wir nach oben?« sagt Pym, der inzwischen einige vertraute Vorzeichen des drohenden Pogroms erkannt hat.
»Der Lift streikt, junger Herr«, erwidert Mr. Cunninham. »Soviel ich weiß, ist ein Techniker angefordert worden und schon unterwegs.«
»Aber Ricks Arbeitszimmer ist im Erdgeschoß.«
»Dafür ist’s oben gemütlicher, junger Herr«, erklärt Mr. Cunningham und öffnet eine Doppeltür. Sie betreten ein leergeräumtes Parade-Apartment, das vom Schein der Straßenlaternen beleuchtet ist. »Ihr Sohn, Sir, frisch aus dem Kloster«, verkündet Mr. Cunningham und läßt Pym mit einer Verbeugung den Vortritt.
Zunächst sieht Pym nur Ricks Stirn im Kerzenlicht schimmern. Dann formt sich um sie der große Kopf, die breite Masse des Körpers erscheint, als sie rasch auf Pym zukommt und ihn in eine feuchte und inbrünstige Umarmung schließt.
»Wie geht’s dir, mein Sohn?« fragt er eifrig. »Wie war die Eisenbahnfahrt?«
»Schön«, sagt Pym, der aufgrund eines vorübergehenden Liquiditätsproblems per Anhalter gereist ist.
»Hast du auch etwas zu essen bekommen? Was hat es gegeben?«
»Nur ein Sandwich und ein Glas Bier«, sagt Pym, der sich mit einem Stück steinharten Brotes aus Murgos Refektorium hat begnügen müssen.
»Genau wie mein Junge«, ruft Mr. Cunningham freudig. »Essen geht ihm über alles.«
»Sohn, nimm dich in acht vor dem Alkoholteufel«, sagt Rick, ein fast unbewußter Reflex, während er Pym unterfaßt und über nackte Bodenbretter zu einem monumentalen Bett steuert. »Fünftausend Pfund in bar warten auf dich, wenn du nicht rauchst und nicht trinkst, bevor du einundzwanzig bist. Nun, meine Liebe, wie gefällt Ihnen mein Junge?«
Eine dunkel gekleidete Gestalt hat sich wie ein Schatten vom Bett erhoben.
Es ist Dorothy, denkt Pym. Es ist Lippsie. Es ist Jemimas Mutter, die sich über mich beschwert. Doch als die Dunkelheit sich lichtet, stellt der Mönchsaspirant fest, daß die Gestalt weder Lippsies Kopftuch noch Dorothys Glockenhut trägt und auch nicht über die einschüchternde Autorität einer Lady Sefton Boyd verfügt. Wie Lippsie trägt sie die klassische Uniform des Vorkriegs-Europa, aber damit endet die Gemeinsamkeit. Der schwingende Rock ist eng in der Taille. Sie trägt eine Bluse mit Spitzenkrause und als Hut ein winziges Ding aus Federn, das dem ganzen Aufzug etwas Frivoles verleiht. Ihre Brüste sind in der besten Tradition von Amor und das Weib im Rokoko, und die schwache Beleuchtung schmeichelt ihrer Fülle.
»Sohn, ich darf dich einer edlen und heroischen Dame vorstellen, die große Höhen und Mißgeschicke erlebt und große Kämpfe bestanden hat und der das Schicksal grausam mitspielte. Und die mir das größte Kompliment gemacht hat, das eine Frau einem Mann machen kann, indem sie mich in der Stunde ihrer Bedrängnis aufsucht.«
»Rothschilt, Darling«, sagt die Dame leise und hebt die weiche Hand gerade so hoch, daß Pym sie küssen oder drücken kann.
»Den Namen schon mal gehört, Sohn, wie, bei deiner feinen Erziehung? Baron Rothschild? Lord Rothschild? Graf Rothschild? Rothschild-Bank? – Oder willst du mir erzählen, du wärst nicht vertraut mit dem Namen einer gewissen großen jüdischen Familie, die über alle Reichtümer Salomons verfügt?«
»Doch, ja, natürlich kenne ich den Namen.«
»Na also. Jetzt setz dich hierher und hör zu, was sie zu sagen hat, sie ist nämlich die Baronin. Setzen Sie sich, meine Liebe. Hier zwischen uns. Wie finden Sie ihn, Elena?«
»Schön, Darling«, sagt die Baronin.
Er verkauft mich an sie, denkt Pym, keineswegs unwillig. Ich bin sein letztes verzweifeltes Geschäft.
Da haben wir’s, Tom. Jeder ständig auf Trab, der Wahnsinn ortsfest. Dein Vater und Großvater sitzen Backe an Backe mit einer Baronin im kaum noch möblierten Direktorentrakt eines West End-Palasts, wo der Strom gesperrt ist und Mr. Cunningham, wie mir langsam klar wird, an der Tür Wache hält. Eine Atmosphäre alberner Verschwörung – nur vergleichbar späteren albernen von der Firma angezettelten Verschwörungen –, als ihre sanfte Stimme zu einem jener geduldigen Flüchtlingsmonologe ansetzt, denen dein Onkel Jack und ich öfter lauschten, als wir uns erinnern können, nur daß heute abend Pym in diesen Dingen ein Novize ist und der Schenkel der Baronin sich traulich an den des Mönchsaspiranten schmiegt.
»Ich bin eine schlichte Witwe aus einfacher aber frommer Familie und war glücklich, aber ach so kurz nur mit dem seligen Baron Luigi Swoboda-Rothschild, dem letzten der großen tschechischen Linie verheiratet. Ich war siebzehn, er einundzwanzig, man stelle sich Plaisir vor. Mein größter Kummer ist, daß ich ihm kein Kind schenkte. Unser Landsitz war die Nymphenburg in Brünn, die zuerst die Deutschen und dann die Russen schänden, schlimmer als eine Frau, buchstäblich. Meine Cousine Anna heiratet den ersten Mann von de Beers in Kapstadt, hat Häuser, ganz unvorstellbar, zu viel Luxus billige ich nicht.« Pym billigt das auch nicht, wie er versucht, ihr mit klosterbrüderlichem Grinsen mitzuteilen. »Mit meinem Onkel Wolfram spreche ich nie, und ich sage gottlob. Er hat mit den Nazis kollaboriert. Die Juden hängen ihn an den Füßen auf.« Pym spannt die Kiefermuskeln in grimmiger Zustimmung. »Mein Großonkel David, er gibt alle seine Gobelins dem Prado. Jetzt ist er arm wie ein Kulake, warum gibt das Museum ihm nicht etwas, damit er essen kann?« Pym schüttelt den Kopf in Verzweiflung über die Schäbigkeit der spanischen Seele. »Mein Tantchen Waldorf –«, sie bricht wunderschön zusammen, während Pym überlegt, ob sie den Aufruhr seines Körpers im Dunkeln wahrnehmen könne.
»Es ist eine Affenschande«, ruft Rick aus, während die Baronin sich wieder faßt. »Mein Gott, Sohn, diese Bolschewiken könnten morgen über Ascot herfallen ohne ein Mit-Verlaub-Sir und sich ein Vermögen aneignen. Weiter, meine Liebe. Sohn, sag ihr, sie soll weitersprechen. Nenn sie Elena, das ist ihr lieber. Sie ist kein Snob. Sie ist eine der Unsrigen.«
»Weiter, bitte«, sagte Pym auf deutsch.
»Weiter«, echot die Baronin zustimmend und tupft sich die Augen mit Ricks Taschentuch. »Jawohl, Darling. Sehr gut.«
»Hört euch seine Aussprache an«, ruft Mr. Cunningham von der Tür her. »Tadellos, ich muß es wissen, genau wie mein eigener Junge.«
»Was sagt sie, Sohn?«
»Es geht schon wieder«, sagt Pym. »Sie schafft es.«
»Sie ist ein Juwel. Ich werde für sie sorgen, du kannst mich beim Wort nehmen.«
Pym auch. Er wird sie zumindest heiraten. Aber zunächst muß er sich zu seiner Verärgerung weitere Lobsprüche über den lieben toten Ehemann anhören. Mein Luigi war nicht nur Besitzer von großem Palast, er war Finanzgenie und bis zum Krieg der Vorstand des Hauses Rothschild in Prag.
»Sie waren die reichsten von der ganzen Sippschaft«, sagt Rick. »Stimmt’s, Sohn? Du hast Geschichte studiert. Wie lautet dein Urteil?«
»Sie konnten’s nicht mehr zählen«, bestätigt Mr. Cunningham von der Tür her, stolz wie ein Impresario. »Was, Elena? Fragt sie. Nur nicht schüchtern.«
»Wir geben solche Konzerte, Darling«, vertraut die Baronin Pym an. »Fürsten aus allen Ländern. Wir haben Haus aus Marmor. Wir haben Spiegel, Kultur. Wie hier«, fügt sie liebenswürdig hinzu und weist auf das unbezahlbare Ölbild von Prinz Magnus in seiner Pferdekoppel, das nach einem Foto gemalt ist. »Wir verlieren alles.«
»Nicht alles«, sagt Rick leise.
»Wenn die Deutschen kommen, mein Luigi will nicht fliehen. Er tritt vor die Nazischweine auf dem Balkon mit Pistole in der Hand, und nie mehr hat man von ihm gehört.«
Es folgt eine weiter notwendige Pause, während der die Baronin sich ein zierliches Schlückchen Brandy aus einer der Karaffen auf dem Fußboden genehmigt, und zu Pyms Erbitterung erzählt jetzt Rick die Geschichte weiter – zum Teil, weil er genug hat vom Zuhören, aber vor allem, weil jetzt ein Geheimnis kommt und nach der Etikette des Hofstaats steht nur Rick das Recht zu, Geheimnisse zu lüften.
»Dieser Baron war ein vortrefflicher Mann und ein vortrefflicher Gatte, Sohn, und er tat, was jeder gute Gatte tun würde, und glaub mir, wenn es deiner Mutter noch nützen könnte, ich würde es morgen für sie tun –«
»Das weiß ich«, sagt Pym.
»Der Baron hat einige der kostbarsten Schätze aus dem Palast geschafft, sie in eine Kiste gepackt und die Kiste gewissen sehr guten Freunden gegeben, die auch Freunde dieser Dame hier sind, und angeordnet, wenn die Briten den Krieg gewinnen, sollte diese Kiste seiner reizenden jungen Gattin ausgehändigt werden mit allem, was darin ist, egal, wie sehr es inzwischen im Wert gestiegen ist.«
Die Baronin hat die Liste im Kopf und wählt wiederum Pym als Publikum, wozu es nötig ist, daß sie seine Aufmerksamkeit bannt, indem sie ihre zarten Finger liebevoll auf sein Handgelenk legt.
»Eine Gutenberg-Bibel, gut erhalten, Darling, ein früher Renoir, zwei Leonardos, anatomisch. Eine Erstausgabe Goya Caprichos, Kommentare des Künstlers, dreihundert beste amerikanische Golddollars, ein paar Rubenszeichnungen.«
»Cunningham sagt, ein Bombenvermögen«, sagt Rick, als sie fertig zu sein scheint.
»Hiroshima«, sagt Mr. Cunningham von der Tür her.
Pym produziert ein überirdisches Lächeln, das besagen soll, große Kunst kenne keinen Preis. Die Baronin erhascht es und versteht.
***
Es ist eine Stunde später. Die Baronin und ihr Beschützer sind weg und haben Vater und Sohn in dem großen unbeleuchteten Raum alleingelassen. Der Verkehr unter dem Fenster ist abgeflaut. Schulter an Schulter auf dem Bett sitzend essen sie »Fish and Chips«, die Pym mit einem kostbaren Pfund aus Ricks hinterer Hosentasche besorgt hat. Sie spülen ihr Mahl mit einer Flasche Château d’Yquem aus einer Harrods-Kiste hinunter.
»Sind sie noch immer da, Sohn?« sagt Rick. »Haben sie dich gesehen? Diese Männer im Riley. Schwer gebaut.«
»Leider ja«, sagt Pym.
»Du glaubst an Elena, nicht wahr, Sohn. Schone mich nicht. Glaubst du an diese edle Frau oder hältst du sie für eine abgefeimte Lügnerin und eine Abenteuerin obendrein?«
»Sie ist fabelhaft«, sagt Pym.
»Du klingst nicht überzeugt. Sprich dich aus, Sohn. Sie ist unsere letzte Chance, offengestanden.«
»Ich weiß nur nicht recht, warum sie nicht zu ihren eigenen Leuten gegangen ist.«
»Du kennst die Juden nicht so, wie ich sie kenne. Sie sind die anständigsten Menschen von der Welt. Aber es gibt auch andere, die würden ihr noch das letzte Hemd nehmen, wenn sie sich blicken ließe. Ich habe ihr die gleiche Frage gestellt. Ich war auch nicht zimperlich.«
»Wer ist Cunningham?« sagt Pym mit kaum verhohlenem Mißfallen.
»Cunnie ist klasse. Ich nehm ihn ins Geschäft, wenn diese Sache ausgestanden ist. Export und Außenhandel. Der wird ein Senkrechtstarter. Allein sein Humor ist für uns fünftausend im Jahr wert. Heute abend war er nicht in Form. Er war befangen.«
»Worum geht es also?« sagt Pym.
»Um Glauben an deinen alten Herrn, darum geht es. ›Rickie‹, sagt sie zu mir – so nennt sie mich, sie ist auch nicht zimperlich – ›Rickie, ich möchte, daß Sie diese Kiste für mich holen, den Inhalt verkaufen und das Geld in eines von Ihren großartigen Unternehmen investieren, und ich möchte, daß Sie mir die Sorgen abnehmen und mir zehn Prozent pro Jahr auf Lebenszeit geben, mit allen notwendigen Vorkehrungen und Versicherungen für den Fall, daß Sie vor mir scheiden. Ich will, daß Sie dieses Geld nehmen, um für die Welt zu sorgen, so, wie Sie es in Ihrer Weisheit für richtig halten.‹ Das ist eine schwere Verantwortung, Sohn. Wenn ich einen Paß hätte, würde ich selber fahren. Ich würde Syd schicken, wenn er verfügbar wäre. Syd würde es tun. Rindvieh und Schweine. Das werde ich anschließend machen. Nur ein paar Morgen Land und einen kleinen Viehbestand. Ich will mich zurückziehen.«
»Was ist mit deinem Paß?« sagt Pym.
»Sohn, von Mann zu Mann, wie immer. In deiner Larifari-Schule sind sie harte Geschäftsleute. Sie wollen es in bar, und sie wollen es auf den Tag genau und basta. Du sprichst Elenas Sprache, das ist das Entscheidende. Sie mag dich. Sie vertraut dir. Du bist mein Sohn. Ich könnte Muspole schicken, aber ich müßte darauf gefaßt sein, daß er nicht zurückkommt. Perce Loft ist zu juristisch. Vor ihm hätte sie Angst. Jetzt schleich ans Fenster und schau, ob der Riley weg ist. Paß auf, daß kein Licht auf dein Gesicht fällt. Sie können nicht rein. Sie haben keinen Durchsuchungsbefehl. Ich bin ein ehrlicher Bürger.«
Halb hinter dem ramponierten grünen Aktenkasten versteckt späht Pym steil nach unten auf die Straße, ein verdeckter Gegen-Observant. Der Riley ist noch da.
Es sind keine Bettdecken vorhanden, also behelfen sie sich mit Vorhängen und Staubbezügen. Pym schläft unruhig und friert, er träumt von der Baronin. Einmal fällt Ricks Arm schwer auf ihn, einmal weckt ihn Ricks erstickte Stimme, die Schmähungen gegen eine Hure namens Peggy ausstößt. Und irgendwann in den frühen Morgenstunden spürt er das weiche weibliche Gewicht von Ricks unteren Regionen in Seidenhemd und Slip, das ihn unerbittlich an den Bettrand drängt, was ihn zu der Einsicht bringt, er werde auf dem Fußboden mehr Ruhe finden. Am Vormittag will Rick das Haus noch immer nicht verlassen, also wandert Pym allein zum Victoria-Bahnhof, seine wenigen Habseligkeiten in einem prächtigen weißen Boxcalf-Koffer mit Ricks Initialen in Messing unter dem Handgriff. Er trägt einen von Ricks Kamelhaarmänteln, obwohl er ihm zu groß ist. Die Baronin, begehrenswerter aussehend denn je, wartet schon auf dem Bahnsteig. Mr. Cunningham ist auch da und winkt ihnen nach. In der Zugtoilette öffnet Pym das Kuvert, das Rick ihm gegeben hat, und entnimmt ihm ein Bündel weißer Zehnpfund-Noten sowie die ersten Instruktionen seines Lebens für ein geheimes Treffen.
Du fährst nach Bern und nimmst Zimmer im Grand Palace Hotel. Mr. Bertl, der Zweite Direktor, ist klasse, die Rechnung wird geregelt. Signor Lapadi wird sich mit der Baronin in Verbindung setzen und euch bis an die österreichische Grenze bringen. Wenn Lapadi Dir die Kiste übergeben hat und Du in unserer Sprache bestätigt hast, daß alles noch vorhanden ist, entlohne ihn mit Beiliegendem, aber erst dann. Dies wird unsere Rettung sein, Sohn. Das Geld, das Du bei Dir trägst, ist schwer verdient, aber wenn dies ausgestanden ist, wird keiner von uns je wieder Sorgen haben.
***
Ich werde mich kurz fassen, was die Einzelheiten der Operation Rothschild betrifft, Jack – die Tage der Hoffnung, die Tage des Zweifels, die jähen Sprünge vom einen zum anderen. Und ich weiß ehrlich nicht mehr, welche Straßenecken oder Codewörter dem langsamen Versinken in Unschlüssigkeit vorangingen, das inzwischen zu meiner Erinnerung an so viele Operationen gehört –, so, wie ich vergaß, falls ich es je gewußt haben sollte, mit wieviel Skepsis und blindem Glauben Pym seinen Auftrag zum unvermeidlichen Ende führte. Gewiß, ich erinnere mich heute an viele Einsätze, die mit ebensowenig Aussicht auf Erfolg unternommen wurden und sehr viel mehr gekostet haben als nur Geld. Signor Lapadi sprach nur mit der Baronin, die seine Information voll Verachtung weiterleitete.
»Lapadi, er spricht mit seinem Vertrauensmann, Darling.« Sie lächelt nachsichtig, als Pym fragt, was ein Vertrauensmann sei. »Der Vertrauensmann ist ein Mann, dem wir trauen. Nicht gestern, vielleicht nicht morgen. Aber heute trauen wir ihm jederzeit.«
»Lapadi, er braucht hundert Pfund, Darling« – ein paar Tage später – »der Vertauensmann kennt einen Mann, dessen Schwester den Zollinspektor kennt. Besser, er zahlt ihm schon jetzt etwas für Freundschaft.«
Im Gedanken an Ricks Anweisungen leistet Pym pro forma Widerstand, aber die Baronin hat schon die Hand ausgestreckt und reibt in entzückender Zeichensprache Daumen und Zeigefinger aneinander. »Du willst Haus tünchen, Darling, du mußt zuerst Bürste kaufen«, erklärt sie, und zu Pyms Erstaunen hebt sie den Rock bis zur Taille und stopft die Banknoten in ihren Strumpf. »Morgen kaufen wir dir hübschen Anzug.«
»Du hast ihr das Geld gegeben, Sohn?« brüllt Rick abends über den Ärmelkanal. »Gott im Himmel, wofür hältst du uns. Gib mir Elena.«
»Schreien Sie mich nicht an, Darling«, sagt die Baronin ruhig ins Telefon. »Sie haben einen reizenden Jungen, Rickie. Ist sehr streng mit mir. Ich glaube, wird einmal großer Schauspieler.«
»Die Baronin sagt, du bist klasse, Sohn. Sprichst du mit ihr dort draußen in unserer Sprache?«
»Die ganze Zeit«, sagt Pym.
»Hast du schon einen guten alten englischen Mixed Grill gekriegt?«
»Nein, wir sparen ihn sozusagen auf.«
»Dann eßt einen auf meine Rechnung. Heute abend.«
»Gern, Vater. Danke.«
»Gott segne dich, Sohn.«
»Dich auch, Vater«, sagt Pym höflich und hält wie ein Butler Knie und Füße geschlossen, während er den Hörer auflegt.
Bei weitem wichtiger sind mir meine Erinnerungen an Pyms erste platonische Flitterwochen mit einer klugen Frau. An Elenas Seite durchstreifte Pym die Altstadt von Bern, trank die leichten Landweine aus dem Wallis, sah bei den Thés dansants in den feinen Hotels zu und ließ seine Vergangenheit in die Geschichte eingehen. In parfümierten und aufgedonnerten Boutiquen, die Elena instinktiv zu finden schien, vertauschten sie ihre abgetragene Garderobe gegen Pelzcapes und Reitstiefel à la Anna Karenina, die auf dem vereisten Pflaster ausglitten, und Pyms faden Institutshabit gegen eine Lederjacke und Hose ohne Knöpfe für die Hosenträger. Auch noch so leicht geschürzt wollte die Baronin nie auf Pyms Urteil verzichten, winkte ihn in das kleine Spiegelkabinett, damit er ihr auswählen helfe und gönnte ihm wie unabsichtlich entzückende Einblicke in ihre Rokokoreize: hier eine Brustspitze, dort die Rundung eines lässig entschleierten Popos, dann einen erstaunlichen Schatten zwischen den vollen Schenkeln, wenn sie hurtig von einem Rock in den nächsten schlüpfte. Sie ist Lippsie, dachte er erregt; sie ist, wie Lippsie sein würde, wenn sie den Tod nicht vorgezogen hätte.
»Gefall ich dir, Darling?«
»Du gefällst mir sehr.«
»Wenn du einmal hübsches Mädchen hast, sprich so zu ihr, sie wird verrückt sein. Findest du’s nicht zu nuttig?«
»Ich find’s tadellos.«
»Okay, wir kaufen zwei. Einen für meine Schwester Zsa-Zsa, hat meine Größe.«
Ein Zurechtrücken der weißen Schultern, ein lässiges Einholen eines entschlüpften Wäschesaums, die Rechnung wurde gebracht, Pym unterschrieb und adressierte sie an den fürsorglichen Herrn Bertl, wobei er Elena den Rücken wandte und sich vorbeugte, um den augenfälligen Beweis seiner Verwirrung zu verbergen. Bei einem Juwelier in der Herrengasse kauften sie eine Perlenkette für eine weitere Schwester in Budapest, und dann fiel ihr noch ein, daß sie ihrer Mutter in Paris einen Topasring mitbringen könne. Und ich sehe diesen Ring nun an Elenas frisch manikürtem Finger blitzen, als sie im Grill Room unseres Grand Hotel das Hin und Her einer Forelle im Fischtank verfolgt, während der Ober mit gezücktem Netz neben ihr steht.
»Nein, nein, Darling, nicht die, die andere! – ja, ja, prima.«
Es war bei einem solchen Diner, übrigens ihrem letzten, daß Pym sich, überwältigt von Liebe und Verwirrung, zu dem Geständnis hinreißen ließ, er beabsichtige, ein Klosterleben zu führen. Die Baronin legte Messer und Gabel klirrend nieder.
»Kein Wort von Mönchen«, gebot sie ihm erzürnt. »Ich sehe zu viel von Mönchen. Ich sehe kroatische Mönche, serbische, russische. Gott verdirbt die verdammte Welt mit Mönchen.«
»Nun ja, es steht noch nicht endgültig fest«, sagte Pym.
Er mußte eine Menge Stimmen imitieren und eine Menge Geständnisse erfinden, ehe das Leuchten langsam wieder in ihre braunen Augen zurückkehrte.
»Und sie hieß Lippsie?«
»So haben wir sie genannt. Ihren richtigen Namen darf ich nicht verraten.«
»Und sie hat mit einem so kleinen Jungen wie dir geschlafen? – du bist so jung mit ihr ins Bett gegangen? – Ich glaube, sie war eine Hure.«
»Wahrscheinlich nur einsam«, sagte Pym weise.
Doch sie blieb nachdenklich, und als Pym sie wie üblich bis vor ihre Zimmertür begleitete, betrachtete sie ihn eingehend, ehe sie seinen Kopf in beide Hände nahm und ihn auf den Mund küßte. Plötzlich öffneten sich ihre Lippen, Pyms Lippen auch. Der Kuß wurde intensiv, und er fühle, wie ein nie gekannter Hügel sich an seinen Schenkel preßte. Er fühlte dessen Wärme, fühlte, wie weiches Haar sich an Seide rieb, während sie rhythmisch preßte. Sie flüsterte »Schatz«, er hörte einen kleinen Seufzer und überlegte, ob er ihr vielleicht wehgetan habe. Ihr Kopf wandte sich ab, ihr Hals drückte sich an seinen Mund. Mit zutraulichen Fingern reichte sie ihm ihren Zimmerschlüssel und blickte weg, während er aufschloß. Er fand das Schlüsselloch, drehte den Schlüssel und hielt ihr die Tür auf. Er legte den Schlüssel in ihre Hand und sah das Licht in ihren Augen schwinden.
»So, mein Lieber«, sagte sie. Sie küßte ihn auf die eine Wange, auf die andere, sie blickte ihn lange an, als suche sie etwas, das sie verloren hatte. Erst am nächsten Morgen entdeckte er, daß es ihr Abschiedskuß gewesen war.
Darling – schrieb sie – Du bist ein guter Mann, hast Körper von Michelangelo, aber Dein Papi hat schwere Probleme. Besser, Du bleibst in Bern. Nichts für ungut. E. Weber liebt Dich ewig.
Im Kuvert waren die goldenen Manschettenknöpfe, die wir für ihren Cousin Victor in Oxford gekauft hatten, und zweihundert von den fünfhundert Pfund, die Pym ihr für den unsichtbaren Signor Lapadi gegeben hatte. Ich trage die Manschettenknöpfe jetzt beim Schreiben. Gold mit einer Krone aus Diamantsplittern. Die Baronin hatte schon immer eine Schwäche für’s Königliche gehabt.
***
Auch in Miss Dubbers Haus war Morgen. Durch die geschlossenen Gardinen hörte Pym den Milchwagen auf seiner Runde vorbeischeppern. Mit der Feder in der Hand zog er einen rosa Ordner mit der Aufschrift R.T.P. heran, leckte Daumen und Zeigefinger ab und begann, sich methodisch durch den Inhalt zu arbeiten, bis er etwa ein halbes Dutzend Einträge ausgesondert hatte. Kopie eines Briefes von Richard T. Pym an Pater Guardian, Lyme Regis, datiert 1. Oktober 1948, mit Androhung gerichtlichen Vorgehens wegen Entführung seines Sohnes Magnus. (Aus R.T.P.s Akten.)
Vermerk vom 15. September 1948. Betrugsdezernat an Paßbehörde, mit Empfehlung, R.T.P.s Paß wegen anhängiger strafrechtlicher Ermittlungen einzubehalten. (Unter Umgehung des Amtswegs durch Polizei-Verbindungsstelle des Stammhauses erhalten.)
Brief des Internatsquästors an R.T.P. Weigert sich, Trockenobst, Dosenpfirsiche oder andere Warenlieferungen als teilweise oder vollständige Begleichung der Schulgebühren entgegenzunehmen und bedauert, daß die Schulleitung keine Möglichkeit sehe, Pym unentgeltlich zu unterrichten. »Ich stelle ferner mit Bedauern fest, daß Sie es ablehnen, als mittelloser Erziehungsberechtigter zu gelten, dessen Sohn für die geistliche Laufbahn bestimmt ist.« (Aus R.T.P.s Akten.)
Erbittertes Schreiben der Anwälte von Herrn Eberhard Bertl, ehemals Zweiter Direktor des Grand Palace Hotel in Bern, adressiert an Colonel Sir Richard T. Pym, DSO. – eines von mehreren Schreiben mit der Forderung über elftausend und achtzehn Schweizer Franken und vierzig Rappen, zuzüglich Zinsen von vier Prozent monatlich. (Aus R. T. P.s Akten)
Auszug aus der London Chronicle vom 8. November 1949 mit Anzeige der persönlichen Bankrotterklärung des Richard T. Pym und Zwangsliquidation der dreiundachtzig Firmen des Pym-Imperiums, vermutlich einschließlich Muspole Friendly & Academic Limited.
Auszug aus dem Daily Telegraph vom 9. Oktober 1948, mit der Meldung des im Truro Hospital, Cornwall, erfolgten Todes eines gewissen John Reginald Wentworth, nach langer Krankheit seinen Verletzungen erlegen, betrauert von seiner Gattin Peggy.
Und ein wunderlicher kleiner Zeitungsausschnitt unbekannter Herkunft meldet die auf hoher See an Bord des Luxusliners SS Grande Bretagne erfolgte Festnahme der einschlägig bekannten Hochstapler Weber und Woolfe, alias Cunningham, die dort als Herzog und Herzogin von Sevilla auftraten.
Stück für Stück numerierte Pym mit Rotstift jedes Dokument in der rechten oberen Ecke, dann trug er die gleichen Zahlen bei den entsprechenden Stellen seines Textes als Beleghinweise ein. Nach bester Bürokratenart heftete er die Unterlagen zusammen und legte sie in einen Ordner mit der Aufschrift »Anhang«. Er klappte den Ordner zu, stieß einen ungehemmten Seufzer der Erleichterung aus und beugte die Arme weit nach rückwärts, wie ein Mann, der sich einer Rüstung entledigt. Die gespenstische Formlosigkeit der Jünglingsjahre war überstanden. Mannhaftigkeit und Reife winkten, die er allerdings beide nie erreichte. Er war endlich in seiner geliebten Schweiz, der geistigen Heimat geborener Spione. Er trat zum Fenster und nahm eine letzte Inspektion des Platzes vor, und während er Ausschau hielt, erloschen die müden Lichter Englands. Ernst zog er sich aus, trank einen letzten Wodka, ernst warf er einen letzten Blick auf sein Spiegelbild und schickte sich an, ins Bett zu gehen. Aber leise. Sehr leise. Fast auf Zehenspitzen. Fast, als fürchte er, sich aufzuwecken. Unterwegs machte er am Schreibtisch halt und las noch einmal die entschlüsselte Botschaft, die er dieses einzige Mal nicht vernichtet hatte.
Poppy, dachte er, bleib, wo du bist.