11

Eine solche Abgeordnetennachwahl hatte es noch nie gegeben, Tom, es hatte überhaupt noch nie eine solche Wahl gegeben. Wir werden geboren, heiraten, lassen uns scheiden, sterben. Irgendwann dazwischen sollten wir uns, wenn es sich fügt, als Kandidat der Liberalen im alten Fischer- und Weberwahlkreis Gulworth North aufstellen lassen, in den entlegenen Mooren East Anglias, während der unerleuchteten Nachkriegsjahre, ehe das Fernsehen die Temperenzlerversammlung ersetzt hat und als die Verkehrsverbindungen noch so beschaffen waren, daß man hundertfünfzig Meilen nordöstlich von London ein zweites Leben beginnen konnte. Wenn wir nicht das Glück haben, selber zu kandidieren, so gilt es zumindest, alles liegen- und stehenzulassen, vom Krypto-Kommunismus bis zum nicht praktizierten Sexualwissen und den späteren Minnesängern, um an die Seite unseres Vaters zu eilen und ihm beizustehen in der Stunde seiner schwersten Prüfung, für ihn auf eisigen Vortreppen zu schlottern und, wie er es uns gelehrt hat, alten Damen die Wahlstimme abzuschmeicheln und alles für sie zu tun, auch wenn es uns umbringt, und der Welt über Lautsprecher zu sagen, daß er einsame Spitze ist und daß es ihr nie mehr an etwas fehlen werde, und vor uns selber das aufrichtige Versprechen abzulegen, sobald der Wahltag vorbei ist, alle anderen Leben hinter uns zu lassen und unseren Platz bei den werktätigen Klassen einzunehmen, wo unsere Herzen und Wurzeln schon immer gewesen sind, wie unser heimliches Eintreten für die Sache der Arbeiter während der prägenden Jahre des Studiums beweist.

Es war tiefer Winter, als Pym ankam, und es ist noch immer Winter, denn ich bin nie wieder dort gewesen, habe es nie gewagt. Derselbe Schnee liegt über Mooren und Marschen, und Quijotes Windmühlen verharren starrgefroren vor dem aschfarbenen flämischen Himmel. Dieselben spitztürmigen Städte hängen über dem Meereshorizont, die Brueghelgesichter unseres Wahlvolks sind so rosig vor Eifer, wie damals, vor drei Jahrzehnten. Der Konvoi unseres Kandidaten, angeführt vom lebenslangen Liberalen Mr. Cudlove und seiner kostbaren Fracht, bringt noch immer die Botschaft vom kreidigen Schulzimmer zur paraffinbeheizten Halle, schlittert und flucht auf den Landstraßen, während unser Kandidat brütet und noch einen kippt, und Sylvia und Major Maxwell Cavendish sich in gedämpften Tönen mit der Generalstabskarte herumschlagen. In meiner Erinnerung ist unser Wahlkampf die Tournee eines absurden Polit-Theaters, wie wir über Schnee und Sumpfland auf die majestätische Stadthalle von Gulworth zusteuern – die wir gegen den Rat all derer gemietet hatten, die sagten, wir würden sie nie vollkriegen, aber wir kriegten sie voll – zum unwiderruflich letzten Auftritt unseres Kandidaten. Dort nimmt die Komödie ein jähes Ende. Masken und Narrenschellen fallen scheppernd auf die Bretter, als Gott uns mit einer einzigen schlichten Frage Seine Rechnung für all unseren bisherigen Spaß präsentiert.

***

Beweise, Tom, Fakten.

Hier ist die gelbseidene Rosette, die Rick an seinem großen Abend trug. Sie wurde eigens für ihn von demselben glücklosen Schneider zusammengeschustert, von dem seine Stallfarben stammten. Hier ist die aufgeschlagene Mittelseite des Gulworth Mercury vom folgenden Tag. Lies sie selber. KANDIDAT VERTEIDIGT SEINE EHRE, SAGT, GULWORTH NORTH SOLL MICH RICHTEN. Siehst du das Bild des Podiums mit den beleuchteten Orgelpfeifen und der geschwungenen Treppe? Fehlt nur noch Makepeace Watermaster. Siehst du deinen Großvater, Tom, in der Bühnenmitte, wie er auf die gesprenkelten Strahlen der Scheinwerfer einhackt, und deinen Vater, der bescheiden hinter ihm hervorguckt, die Haarsträhne in der Stirn? Hörst du den Donner der Frömmigkeit unseres großen Heiligen zum Tonnendach aufsteigen? Pym kann jedes Wort von Ricks Rede auswendig, jede Komödiantengeste und -betonung. Rick bezeichnet sich selber als ehrlichen Makler, der dem Dienst an seinem Wahlkreis »mein Leben widmen werde, bis ans Ende meiner Tage, und solange Sie in Ihrer Weisheit glauben, daß Sie mich brauchen«, und er ist nahe daran, mit einem Hieb des linken Unterarms die Köpfe der Ungläubigen rollen zu lassen. Die Finger geschlossen und leicht eingezogen wie immer. Er sagt uns, daß er ein demütiger Christ ist und ein Vater und ein redlicher Kaufmann, und er wird Gulworth North von der doppelten Häresie des rechten Toryismus und des linken Sozialismus befreien – allerdings kriegt er sie in seinem abstinenzlerischen Eifer manchmal in die falsche Richtung. Er haßt auch Exzesse. Sie bringen ihn richtig auf die Palme. Jetzt kommt die gute Nachricht. Man hört es schon an seiner glaubensstarken Stimme. Mit Rick als seinem Abgeordneten wird Gulworth North eine ungeahnte Renaissance erleben. Der todgeweihte Heringshandel wird von seinem Bett aufstehen und wandeln. Für die notleidende Textilindustrie wird Milch und Honig fließen. Die Landwirte werden von der sozialistischen Bürokratie erlöst, und alle Welt wird sie beneiden. Die verrotteten Bahnstrecken und Kanäle werden wundersam aus den Fallstricken der industriellen Revolution befreit. Die Straßen werden überfließen von Liquidität. Die Alten sollen ihr Erspartes sicher wissen vor dem Zugriff des Staates, den Männern die Drangsale der Zwangsaushebung erspart bleiben. Schluß mit der leistungsfeindlichen Besteuerung und mit all den anderen im Liberalen Manifest aufgeführten Ungerechtigkeiten, das Rick zum Teil gelesen hat, aber zur Gänze glaubt.

So weit, so gut, aber heute ist unser letzter Vorhang, und Rick hat sich etwas Besonders ausgedacht. Furchtlos wendet er dem Publikum den Rücken und spricht zu seiner Mannschaft, die hinter ihm auf dem Podium sitzt. Er will uns danken. Paß auf. »Zuerst meiner lieben Sylvia, ohne die das alles nicht möglich gewesen wäre – danke, Sylvia, vielen Dank – Applaus für Sylvia, meine Königin.« – Das Publikum gehorcht begeistert. Sylvia läßt das gewinnende Lächeln aufstrahlen, das ihre letzte Amtshandlung darstellt. Pym erwartet, daß er jetzt an der Reihe sei, ist es aber nicht. Ricks blauer Blick ist stählern heute abend, der Geist leuchtet aus ihm. Stimmgewaltiger und weniger langatmig, kürzere Sätze, aber der Champion schleudert sie kraftvoller. Er dankt dem Vorsitzenden der Liberalen von Gulworth und seiner ganz reizenden Gattin – Marjory, meine Liebe, nicht schüchtern sein, wo sind Sie? – Er dankt unserem miserablen örtlichen Wahlkampfleiter, einem Ungläubigen namens Donald Soundso, siehe Bildtext, der sich seit der Ankunft des Hofstaats in seinem Revier in ein wütendes Schmollen gehüllt und es erst heute abend abgelegt hat. Er dankt unserer Transportleiterin, der sich Mr. Muspole nach eigener Aussage im Billardzimmer gewogen zeigte, und einer Miss Dingsda, die dafür sorgte, daß Ihr Kandidat kein einziges Mal zu spät zu einer Versammlung kam (Gelächter) – Morrie Washington allerdings behauptet, niemand sei auf dem Rücksitz neben ihr sicher. Er kommt zu »all meinen anderen tüchtigen und treuen Helfern«. Morrie und Syd feixen in der hintersten Reihe wie zwei freigesprochene Mörder, Mr. Muspole und Major Maxwell Cavendish halten finstere Mienen für angebracht. Alle hier auf dem Foto, Tom, sieh es dir selber an. Neben Morrie thront ein trunksüchtiger Radioclown, dessen verblassenden Ruhm Rick vor unseren Wagen spannen konnte, so, wie er in den letzten Wochen einfältige Cricketspieler und adelige Besitzer von Hotelketten und andere sogenannte liberale Persönlichkeiten angekarrt und wie Gefangene durch die Stadt geführt hat, um sie wieder nach London zurückzuschicken, wenn sie ihre kurze Spanne Nützlichkeit abgedient hatten. Jetzt sieh dir nochmals Magnus an, er sitzt zur Rechten seines Schöpfers. Rick spricht ihn als letzten an, und jedes Wort, das er gegen ihn schleudert, quillt über von geheimem Wissen und Tadel. »Er will es nicht selber sagen, also tu ich es. Er ist zu bescheiden. Mein Junge da ist einer der besten Jurastudenten in unserem Land, und nicht nur in unserem. Er könnte diese Rede in fünf verschiedenen Sprachen halten und in jeder besser als ich. (Gelächter, verschämte Rufe, nein, nein.) Aber das hat ihn nicht gehindert, sich in diesem Wahlkampf für seinen alten Herrn die Füße wundzulaufen. Magnus, du warst spitze, Sohn, und deinem alten Herrn der beste Kumpel. Bravo!«

Der tosende Beifall kann indes Pyms Qual nicht lindern. In der einsamen Wirklichkeit lauscht der reale Pym Ricks weiterer Rede, sein Herz hämmert vor Entsetzen, während er die Klischees zählt und auf die Explosion wartet, die den Kandidaten und sein schamloses Lügengewebe für immer vernichten wird. Sie wird das Tonnendach und die vergoldeten Stützen in den Nachthimmel jagen. Sie wird die Sterne ausblasen, die das große Finale von Ricks Rede liefern.

»Die Leute werden zu Ihnen sagen«, ruft Rick im Ton wachsender Bescheidenheit, »was sie auch zu mir sagen – sie haben mich auf der Straße angehalten – mich am Arm gefaßt – ›Rick‹, sagen sie, ›was ist der Liberalismus anderes als ein Haufen Ideale? Ideale können wir nicht essen, Rick‹, sagen sie. ›Von Idealen können wir uns keine Tasse Tee kaufen und kein gutes englisches Lammkotelett, Rick, alter Junge. Wir können unsere Ideale nicht in die Sammelbüchse stecken. Wir können die Ausbildung unseres Sohnes nicht mit Idealen bezahlen. Wir können ihn nicht in die Welt schicken, damit er seinen Platz in den höchsten Gerichten des Landes einnimmt, mit nichts als ein paar Idealen in der Tasche. Wozu also, Rick‹, sagen sie zu mir, ›taugt eine Partei der Ideale in unserer modernen Welt?‹« Die Stimme wird leise. Die Hand, die in ständiger Bewegung war, greift nach unten und legt sich auf den Kopf eines unsichtbaren Kindes. »Und ich antworte, was ich auch Ihnen, meine lieben Freunde von Gulworth antworte.« Die Hand fliegt wieder hoch und weist zum Himmel, und Pym sieht in seiner krankhaften Furcht den Geist Makepeace Watermasters von der Kanzel springen und die Stadthalle mit makabrem Glanz erfüllen. »Ich sage Folgendes. Ideale sind wie Sterne. Wir können sie nicht erreichen, aber ihr Vorhandensein bringt uns Segen.«

Rick war nie besser gewesen, leidenschaftlicher, aufrichtiger. Rasender Beifall springt auf, die Getreuen springen mit ihm auf. Pym springt mit den Getreuen auf und klatscht am lautesten von allen. Rick weint. Pym ist nahe dran. Die guten Leute haben ihren Messias, die Liberalen von Gulworth North sind schon allzu lange eine Herde ohne Hirten, seit dem Krieg hat hier kein liberaler Kandidat gestanden. Neben Rick patscht unser örtlicher liberaler Parteivorsitzender in seine Bauernpranken und rhabarbert hingerissen in Ricks Ohr. Hinter Rick folgt der ganze Hofstaat Pyms Beispiel, sie applaudieren stehend und skandieren »Rick für Gulworth«. Rick entsinnt sich ihrer, wendet sich abermals zu ihnen um, weist, wie er es in jeder Varietévorstellung gesehen hat, auf den Hofstaat und ruft dem Volk zu: »Ihnen müßt ihr danken, nicht mir.« Aber wiederum heften sich seine blauen Augen auf Pym und sagen: »Judas, Vatermörder, Mörder deines besten Kumpels.«

So jedenfalls scheint es Pym.

Denn genau in diesem Moment, genau da, als alle stehen und strahlen und klatschen, geht die Bombe los, die Pym gelegt hat: Rick mit dem Rücken zum Feind, das Gesicht Pym und den geliebten Helfern zugewandt, drauf und dran, glaube ich, ein zündendes Lied anzustimmen. Nicht Underneath the Arches, das ist zu weltlich, Vorwärts, christliche Soldaten wird ins Schwarze treffen. Als plötzlich das Getöse vor uns ermattet und im Stehen stirbt, und eisiges Schweigen sich nach ihm einschleicht, als habe jemand die Torflügel der Stadthalle aufgestoßen und die Racheengel aus der Vergangenheit eingelassen.

Unter der Sängerempore, wo die Presse sitzt, hat jemand etwas gesagt. Die Akkustik ist so schlecht, daß wir zuerst nur nörgelnde Töne hören, aber auch sie sind bereits bedrohlich. Die Sprechende fängt von neuem an, diesmal lauter. Sie ist noch keine bestimmte Person, nur ein verdammtes Frauenzimmer, mit jener piepsigen grellen irischen Stimme, die dem Mannsvolk instinktiv zuwider ist, aber auch durch ihre Hilflosigkeit sich und ihre Sache in Gunst bringt. »Ruhe bitte!« dann nur »Ruhe!« und dann »Halt die Klappe, blödes Weib!« Pym erkennt Major Blenkinshops Portweinstimme. Der Major ist für Freihandel, Faschist und Angehöriger des mißlichen rechten Flügels unserer Großen Bewegung. Aber die kratzige irische Stimme übertönt alles, wie eine hartnäckig quietschende Tür, da hilft kein Zuschlagen und kein Schmieren. Vermutlich eine lästige Anhängerin der Selbstbestimmung. Ah, gut, jetzt hat jemand sie zu fassen gekriegt. Es ist wieder der Major, du erkennst ihn am Kahlkopf und an der gelben Amts-Rosette. Er nennt sie tatsächlich Madam und bugsiert sie in Richtung Tür. Aber die Pressefreiheit hindert ihn daran. Die Journaille beugt sich über den Balkon und schreit: »Wie heißen Sie, Miss?« und sogar: »Nochmals, aber lauter!« Major Blenkinshop ist plötzlich kein Gentleman und kein Offizier mehr, nur noch ein Lümmel der gehobenen Kreise mit einer zeternden Irin im Schlepp. Jetzt kreischen ein paar Frauen: »Loslassen!« und »Hände weg, Dreckschwein!« Jemand schreit: »Irenschlächter!«

Dann hören wir sie, dann sehen wir sie, beides ganz deutlich. Sie ist klein und wütend, schwarz gekleidet, ein verwitweter Zankteufel. Sie trägt eine Pillbox. Ein Stück schwarzer Schleier hängt seitlich herunter, von ihr selber oder von jemand anderem halb abgerissen. Mit der perversen Neugier der Menge will jeder sie hören. Sie setzt zum vielleicht drittenmal zu ihrer Frage an. Ihr irischer Tonfall dringt von spitzen Lippen, fast als lächle sie, aber Pym weiß, daß es kein Lächeln ist, sondern Ausdruck eines Hasses, der so groß ist, daß er herausmuß. Sie spricht jedes Wort, wie sie es einstudiert hat, genau in der vorbedachten Reihenfolge. Die Formulierung ist allein durch ihre Klarheit eine Kampfansage.

»Ich bitte um Auskunft – ob es stimmt – wenn Sie so freundlich wären, Sir –, ob der Kandidat der Liberalen Partei für den Wahlkreis Gulworth North – eine Gefängnisstrafe wegen Betrugs und Unterschleifs verbüßt hat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«

Und Ricks Gesicht ist Pym zugewandt, während ihr Pfeil sich in seinen Rücken bohrt. Ricks blaue Augen sind weit aufgerissen unter der Wucht des Einschlags, aber sie bleiben auf Pym haften, genau wie vor fünf Tagen, als er mit gekreuzten Füßen und offenen Augen in der eisgefüllten Badewanne lag und sagte: »Mich töten genügt nicht, Sohn.«

***

Geh mit mir zehn Tage zurück, Tom. Der hochgestimmte Pym ist aus Oxford gekommen, beschwingt und entschlossen, sich als Beschützer der Nation mit seinem wechselnden Gewicht hinter den demokratischen Prozeß zu stellen und den Schnee zu genießen. Der Wahlkampf ist voll entbrannt, aber die Züge nach Gulworth schaffen es meist nur bis Norwich. Es ist ein Wochenende, und Gott hat bestimmt, daß englische Nachwahlen immer an einem Donnerstag stattzufinden haben, auch wenn ER längst vergessen hat, warum. Es ist Abend, der Kandidat und seine Kohorten laufen auf Hochtouren. Doch als Pym mit seiner Reisetasche am imposanten Bahnhof Norwich aussteigt, steht der getreue Syd Lemon an der Sperre, und ein Wahlauto mit den Pymschen Insignien wartet darauf, ihn zur Hauptversammlung des Abends zu bringen, die für neun Uhr angesetzt ist und in dem Dorf Little Chedworth on the Water stattfindet, wo laut Syd der letzte Missionar zum Tee verspeist wurde. Die Wagenfenster sind vollgepflastert mit Plaketten PYM, DER MANN DES VOLKES. Auf dem Heck klebt Ricks großer Kopf – derselbe, den er, wie ich jetzt weiß, höchstwahrscheinlich verkauft hatte. Ein Lautsprecher, gewaltiger als eine Schiffskanone, ist aufs Dach montiert. Am Himmel steht der Vollmond. Schnee bedeckt die Felder. Das Paradies ist komplett.

»Fahren wir nach St. Moritz!« sagt Pym, als Syd ihm eine von Megs Fleischpasteten reicht, und Syd lacht und zaust Pyms Haar. Syd ist kein aufmerksamer Fahrer, aber die Wege sind leer und der Schnee ist weich. Er hat eine Sprudelflasche voll Whisky mitgebracht. Während sie zwischen den schneebeladenen Hecken im Zickzack fahren, nehmen sie kräftige Schlucke. So gestärkt, erstattet Syd Bericht über den Stand der Schlacht.

»Wir sind für Religionsfreiheit, Titch, und kämpfen hundertprozentig um Wohneigentum für alle, ohne bürokratische Hürden.«

»Wie von jeher«, sagt Pym, und Syd mustert ihn scharf, falls es frech gemeint war.

»Wir halten nichts von sozialer Kriminalisierung, wie die Tories.

»Diskriminierung«, korrigiert Pym und trinkt nochmals aus der Flasche.

»Unser Kandidat ist stolz auf seine Vergangenheit als englischer Patriot und Anglikaner, er ist ein Kauffahrer Englands, der für sein Land gekämpft hat, denn der Liberalismus ist für Britannien das einzig Richtige. Er hat an der Hohen Schule der Welt studiert, nie im Leben einen Tropfen Schnaps angerührt und du auch nicht, denk daran.« Er grabschte sich die Flasche und trank einen langen Abstinenzlerschluck.

»Aber wird er gewinnen?« sagte Pym.

»Hör zu. Wenn du an dem Tag, als dein Dad sich beworben hat, mit genügend Geld angekommen wärst, hättest du noch fünfzig zu eins kriegen können. Als ich und Lord Muspole dazukamen, war er schon nur noch auf fünfundzwanzig, und wir haben jede Menge gesetzt. Am Tag nach seiner Aufstellung hast du noch zehn gekriegt. Jetzt steht er neun zu zwei, und es wird noch weniger, und ich mach mit dir jede Wette, daß er am Tag vor der Wahl auf gleich steht. Jetzt frag mich, ob er gewinnen wird.«

»Was ist mit der Konkurrenz?«

»Es gibt keine. Der Labour-Mann ist ein schottischer Lehrer aus Glasgow. Roter Vollbart, klein und doof. Schaut drein wie eine Maus, die einem roten Bären aus’m Hintern glotzt. Unser Muspole hat neulich ein paar von den Jungens in seine Versammlung geschickt, damit sie Leben in die Bude bringen. Hat sie in Kilts gesteckt und ihnen Rasseln mitgegeben, wie beim Fußball, und sie haben bis zum Morgen in den Straßen rumgebrüllt. Gulworth hat für Rowdies nichts übrig, Titch. Keine Sympathien für die besoffenen Labour-Fans, die nachts um drei auf den Kirchenstufen Little Nelly of the Glen grölen.«

Der Wagen schlittert elegant auf eine Windmühle zu. Syd korrigiert den Kurs, und es geht weiter.

»Und der Tory?«

»Der Tory ist ein Tory-Kandidat, wie er im Bilderbuch steht. Ein Indienrückkehrer, der einen Tag pro Woche in der City schuftet, Treibjagden reitet, den Eingeborenen Glasperlen schenkt und für leichte Vergehen wieder die Daumenschrauben einführen möchte. Seine Frau eröffnet Gartenfeste mit den Zähnen.«

»Aber wer sind unsere Stammwähler?« fragt Pym, der sich an seine Sozialgeschichte erinnert.

»Die Kirchenrutscher sind uns sicher, die Freimaurer auch und die alten Schachteln auch. Die Abstinenzler sind ein Kinderspiel, genau wie die Wettgegner, solange sie keine Leistungsbücher zu Gesicht kriegen, und ich wär dir dankbar, wenn du die Fernerliefens nicht erwähntest, Titch, sie sind zur Zeit aus dem Rennen. Die übrigen Wähler sind Glückssache. Der bisherige Abgeordnete war ein Roter, aber er ist gestorben. Hat zuletzt den Tory um fünftausend überrundet, aber sieh dir den Tory an. Wahlbeteiligung fünfunddreißigtausend, aber inzwischen sind fünftausend jugendliche Kriminelle wahlmündig geworden und zweitausend Senioren in ein besseres Leben eingegangen. Die Bauern sind mies, die Fischer sind pleite, und die breite Masse hat kein Hirn im Kopf.«

Syd knipst die Innenbeleuchtung an und läßt dem Wagen die Zügel, während er aus dem Fond eine eindrucksvolle gelbschwarze Wahlbroschüre mit einem Foto Ricks auf dem Umschlag angelt. Flankiert von jemandens bewunderndem Spaniel liest er vor einem unbekannten Kamin ein Buch, etwas, was er nie im Leben getan hat. »Brief an die Wähler von Gulworth North«, lautet die Überschrift. Das Papier ist, aller Austerity zum Trotz, Hochglanzqualität.

»Außerdem unterstützt uns der Geist von Sir Codpiece Makewater, W. C.«, fügt Syd mit besonderem Genuß hinzu. »Man beachte unsere Rückseite.«

Pym tat es, und sah ein schwarzumrandetes Geviert, ähnlich einer Schweizer Todesanzeige.

EINE LETZTE BEMERKUNG

Ihr Kandidat verdankt sein politisches Gedankengut dem Mentor und Freund seiner Kindheit, Sir Makepeace Watermaster M.P., dem weltberühmten Liberalen und Christlichen Arbeitgeber, dessen strenge aber gerechte Hand ihn nach dem frühen Tod des Vaters an den vielen Klippen der Jugend vorbeischiffte zu seiner jetzigen gesicherten Position, die ihn in täglichen Kontakt mit den Höchsten im Lande bringt.

Sir Makepeace war der Sproß einer gottesfürchtigen Familie, Abstinenzler, ein Prediger sondergleichen, ohne dessen glänzende Inspiration Ihr Kandidat gewißlich nie gewagt hätte, mich dem historischen Urteil der Bevölkerung von Gulworth North zu stellen, das für mich bereits zur wahren Heimat wurde, und im Falle meiner Wahl werde ich hier baldmöglichst einen größeren Besitz erwerben. Ihr Kandidat gedenkt, sich Ihren Interessen mit der gleichen Ergebenheit zu widmen, die stets Sir Makepeaces Devise war, welcher bis an sein Ende das moralische Recht der Menschen auf Besitz, Freihandel und die Gleichstellung der Frau predigte.

Ihr zukünftiger ergebener Diener

Richard T. Pym.

»Du hast eine Bildung, Titch. Was hältst du davon?« fragt Syd mit verletztlichem Ernst.

»Es ist schön«, sagt Pym.

»Klar«, sagt Syd.

Ein Dorf, dann gleitet ihnen ein Kirchturm entgegen. Als sie in die Hauptstraße einfahren, verkündet ein gelbes Transparent, daß Unser Liberaler Kandidat heute abend hier sprechen wird. Ein paar alte Landrover und Austin Seven stehen, schon eingeschneit, armselig auf dem Parkplatz. Syd nimmt einen letzten Schluck aus der Sprudelflasche und scheitelt sein Haar sorgfältig vor dem Spiegel. Pym stellt fest, daß er ungewöhnlich nüchtern gekleidet ist. Die eisige Luft riecht nach Kuhmist und Meer. Vor ihnen erhebt sich die ehrwürdige Stadthalle von Little Chedworth on the Water. Syd steckt Pym ein Pfefferminz zu, und sie treten ein.

***

Der Bezirksobmann spricht schon eine Weile, aber nur zur vordersten Reihe, und wir dort hinten hören nichts. Der Rest der Gemeinde starrt entweder zu den Deckenbalken hoch oder auf die Poster des Volkskandidaten: Rick an Napoleons Schreibtisch, hinter ihm die Reihen der juristischen Bücher. Rick auf dem Boden der Fabrik sitzend, wo er zum ersten und letzten Mal in seinem Leben mit dem Salz der Erde Tee trinkt. Rick als Sir Francis Drake, der vernebelten Armada von Gulworths sterbender Heringsflotte entgegenblickend. Rick als pfeifenschmauchender Ökonom, sachkundig eine Kuh taxierend. An einer Seite des Bezirksobmanns sitzt unter einer Girlande aus gelben Wimpeln eine Dame des Bezirkskomitees. An der anderen Seite steht eine Reihe leerer Stühle, die auf den Kandidaten und seine Begleitung warten. Während der Obmann sich weiterplackt, erhascht Pym von Zeit zu Zeit einzelne Wendungen, wie »Der Skandal der Wehrpflicht« oder »Der Fluch der Monopolwirtschaft« oder, noch schlimmer, banale Füller: »Wie ich bereits sagte.« Und zweimal, während aus neun Uhr halb zehn und nach zehn wird, hinkt ein Shakespearescher Bote mühsam aus einem Nebenraum, zupft an seinem Ohrläppchen und verkündet uns mit bebender Stimme, der Kandidat sei unterwegs, er habe heute abend eine Versammlung nach der anderen, der Schnee hält ihn auf. Bis, just als wir die Hoffnung fahren ließen, Mr. Muspole hereinmarschiert, begleitet von Major Maxwell Cavendish, beide picobello in ihren grauen Anzügen. Gemeinsam schreiten sie durch den Mittelgang und steigen aufs Podium, und während Muspole den Obmann und dessen Gattin begrüßt, zieht der Major ein Bündel Notizen aus einer Mappe und legt es auf den Tisch. Und obwohl Pym bis zum Ende des Wahlkampfs Rick nicht weniger als einundzwanzigmal zwischen jenem Abend und seinem letzten Auftreten in Gulworth Hall hatte sprechen hören, sah er ihn kein einziges Mal zu den Notizen des Majors greifen oder auch nur ihr Vorhandensein zur Kenntnis nehmen. So daß er mit der Zeit zu dem Schluß kam, es seien gar keine Notizen, sondern Bühnenrequisiten, die uns auf das Kommende einstimmen sollten.

»Was hat Maxie mit seinem Schnurrbart gemacht?« flüstert Pym aufgeregt Syd zu, der sich nach einem kleinen Nickerchen mit einem Ruck aufgerichtet hat. »Verpfändet?« Falls Pym als Antwort eine ähnliche Witzelei erwartet hat, wird er enttäuscht.

»Wurde für unpassend erachtet«, sagt Syd kurz. Im selben Moment sieht Pym das Licht der reinen Liebe Syds Züge erhellen, als Rick hereinfegt.

Die Reihenfolge des Auftretens ändert sich nie, die Verteilung der Aufgaben auch nicht. Nach Muspole und dem Major kommen Perce Loft und der arme Morrie Washington, der schon mit der Leber zu tun hat. Perce hält die Tür auf, Morrie tritt hindurch und bekommt manchmal, wie heute abend, ein bißchen Applaus, weil die Uneingeweihten ihn für Rick halten, kein Wunder, denn Morrie, der etwa ein Drittel von Ricks Volumen hat, verwendet sein halbes Leben und sein ganzes Geld darauf, in allen Stücken seinem Idol zu gleichen. Wenn Rick sich einen neuen Kamelhaarmantel kauft, stürzt Morrie los und kauft sich zwei. Trägt Rick zweifarbige Schuhe, so trägt auch Morrie welche, und weiße Socken dazu. Aber heute abend ist Morrie wie der übrige Hofstaat ganz in Kirchengrau. Aus Liebe zu Rick hat er es sogar fertiggebracht, nicht mehr ganz so versoffen auszusehen. Er tritt ein, bezieht auf der anderen Seite der Tür Posten und fummelt an seiner Rosette, damit sie auch richtig zur Geltung kommt. Dann verdrehen Morrie und Perce gleichzeitig die Hälse in die Richtung, aus der sie gekommen sind, um wie das Publikum einen ersten Blick auf ihren Champion zu erhaschen. Und schau! – sie klatschen! Und schau! wir auch! –, als Rick eintritt, flotten Schritts, denn wir Staatsmänner haben keine Zeit zu verlieren, und schon während er den Gang entlanggeht, konferiert er ernsthaft mit den Höchsten im Land. Ist das neben ihm Sir Laurence Olivier? – sieht mir mehr wie Bud Flanagan aus. Es ist keiner von beiden, wie wir alsbald erfahren. Es ist kein Geringerer als Bertie Tregenza, Vogelexperte der BBC und lebenslanger Liberaler. Auf dem Podium stellen Muspole und der Major dem Obmann die übrigen Honoratioren vor und geleiten sie zu ihren Stühlen. Endlich ist der Augenblick da, um dessentwillen wir gekommen sind: Nur ein Mann steht noch, es ist der Mann auf den Fotos. Syd beugt sich vor, er lauscht mit den Augen. Unser Kandidat beginnt zu sprechen. Eine bedächtige, banale Einleitung. Guten Abend und danke, daß Sie so zahlreich an diesem kalten Winterabend gekommen sind. Tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte.

Ein Späßchen für die alten Schachteln: angeblich habe ich meine Mutter eine volle Woche lang warten lassen. Gelächter der alten Schachteln, sobald sie den Scherz begriffen haben. Aber eines verspreche ich Ihnen, Leute von Gulworth North: Ihr nächster Parlamentsabgeordneter wird keinen von Ihnen warten lassen! Wieder Gelächter und ein bißchen Applaus von den Gläubigen, und jetzt wird der Ton des Kandidaten härter.

»Meine Damen und Herren, daß Sie sich an diesem ungastlichen Abend auf den Weg machten, hat nur einen einzigen Grund: Sie machen sich Sorgen um Ihr Land. Aber Sie sind nicht die einzigen, denn auch ich mache mir Sorgen. Sorgen um die Art und Weise, wie es regiert wird und wie es nicht regiert wird. Sorgen, denn die Politik, das sind die Menschen. Menschen mit einem Herzen, das ihnen sagt, was sie wollen, für sich selbst und für einander. Menschen mit einem Verstand, der ihnen sagt, wie man das erreicht. Menschen mit genügend Glauben und Courage, um Adolf Hitler dorthin zu schicken, woher er gekommen ist. Menschen wie wir. Wie sie heute hier versammelt sind. Sie sind das Salz der Erde, daran gibt’s nichts zu rütteln. Englische Menschen, vom rechten Schrot und Korn, die sich Sorgen machen um ihr Land und Ausschau halten nach dem Mann, der ihnen diese Sorgen abnimmt.«

Pym blickt sich in dem kleinen Saal um. Kein Gesicht, das sich nicht blumengleich Ricks Sonne zuwendete. Bis auf eines, eine kleine Frau mit Schleierhütchen, die dasitzt wie ihr eigener Schatten, ganz allein und das Gesicht vom schwarzen Schleier verhüllt. Sie ist in Trauer, denkt Pym sogleich voll Mitgefühl. Sie ist gekommen, um ein bißchen Leben um sich zu haben, die Arme. Auf dem Podium macht Rick die Bedeutung des Liberalismus denen klar, die mit den Unterschieden der drei großen Parteien nicht vertraut sind. Der Liberalismus ist kein Dogma, sondern eine Lebenshaltung, sagt er. Er ist Glaube an den seinem Wesen nach guten Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Rasse oder Religion, er ist gemeinsames Streben nach einem gemeinsamen Ziel. Nachdem somit die Feinheiten abgehandelt sind, kann er zum Kern seiner Rede übergehen, zu sich selber. Er schildert seine bescheidene Abkunft und die Tränen seiner Mutter, als sie ihn geloben hörte, daß er in die Fußstapfen des großen Sir Makepeace treten wolle. Wenn nur mein Vater heute abend hier sein könnte, unter Ihnen, meine lieben Zuhörer. Ein Arm hebt sich und weist zu den Deckenbalken, als deute er auf ein Flugzeug, aber er zeigt auf Gott.

»Und lassen Sie mich den Wählern von Little Chedworth heute abend etwas sagen. Ohne den Einen dort droben, der Tag und Nacht für mich wirkt, als mein Seniorpartner – lachen Sie ruhig, lieber will ich der Gegenstand Ihres Spotts sein als die Beute von Zynismus und Gottlosigkeit, die unser Land überschwemmen –, ohne die helfende Hand dieses Einen, und Sie alle wissen, wen ich meine, o ja, Sie wissen es! – würde ich nicht sein, wo ich heute bin, und meine ganze Person – und sei sie noch so unbedeutend – den Bewohnern von Gulworth North zur Verfügung stellen können.« Er spricht über den Exportmarkt und seinen Stolz, britische Erzeugnisse jenen Ausländern zu verkaufen, die niemals wissen werden, wieviel sie uns verdanken. Wieder schlägt sein Arm nach uns aus, er geht zum Angriff über. Er ist britisch bis ins Mark, und das soll jeder wissen. Er kann jedes Problem, das man ihm vorlegt, mit britischem Commonsense angehen. »Ausnahmslos«, flüstert Syd beifällig. Aber wenn wir einen besseren Mann für den Job wissen, dann sollen wir’s gleich sagen. Wenn uns die hochnäsigen Klassenvorurteile der Tories lieber sind, die sich für Auserwählte halten, während sie in Wahrheit nur Schmarotzer sind, dann sollen wir hier und jetzt aufstehen und es furchtlos und frei heraussagen, und dann wollen wir’s ausdiskutieren. Niemand meldet sich. Andererseits, wenn wir das Land lieber den Marxisten und Kommunisten ausliefern und den brutalen Gewerkschaften, die entschlossen sind, dieses Land auf die Knie zu zwingen – und machen wir uns nichts vor, genau darum geht es bei den Labour-Stimmen –, dann heraus damit, im vollen Licht der aufmerksamen Blicke des Wahlvolks von Little Chedworth und nicht im Dunkeln gewühlt wie elende Verschwörer.

Auch jetzt meldet sich niemand, obwohl Rick und alle auf dem Podium finsteren Blicks den Saal nach einer ruchlosen Hand oder einem schurkischen Gesicht durchforschen.

»Jetzt kommt Platte Sch … für Schönheit«, flüstert Syd verträumt und schließt die Augen, um intensiver zu genießen, wie Rick den langen Aufstieg zu den Sternen antritt, die wir wie die liberalen Ideale nicht erreichen können, die uns aber durch ihr Vorhandensein bereichern.

Wieder läßt Pym den Blick schweifen. Kein Gesicht, das nicht von Liebe zu Rick erfüllt wäre, bis auf diese Hinterbliebene mit ihrem Schleier. Deshalb bin ich hergekommen, sagt Pym sich erregt. Demokratie ist, wenn man seinen Vater mit der ganzen Welt teilt. Der Beifall klingt ab, aber Pym klatscht weiter, bis er merkt, daß er der einzige ist. Er glaubt, seinen Namen gehört zu haben und stellt überrascht fest, daß er ebenfalls steht. Gesichter wenden sich ihm zu, allzu viele. Einige lächeln. Er will sich setzen, aber Syd faßt ihn unter und reißt ihn wieder auf die Füße. Der Obmann spricht, und diesmal unbekümmert und hörbar.

»Ich glaube, der berühmte junge Sohn unseres Gandidaten, Maggus, ist heute abend anwesend, er hat eigens sein juristisches Studium in Oggsford unterbrochen, um seinem Vater in diesem großen Wahlgampf beizustehen«, sagte er. »Gewiß würden wir alle gern ein paar Worte von Ihnen hören, Maggus, wenn Sie so freundlich sein wollen. Maggus? Wo ist er?«

»Hier, Governor!« schreit Syd. »Nicht ich. Er.«

Falls Pym Widerstand leistet, wird er es nicht gewahr. Ich habe das Bewußtsein verloren. Syds Sprudelwasser hat mich umgeworfen. Die Menge teilt sich, kräftige Hände tragen ihn zum Podium, schwankende Wähler starren auf ihn nieder. Pym steigt hinauf, Rick schließt ihn in die Arme, eine gelbe Rosette wird Pym vom Obmann ans Schlüsselbein genagelt. Er spricht, und ein tausendköpfiges Ensemble starrt zu ihm hinauf – nun ja, mindestens ein sechzigköpfiges und lächelt bei seinen ersten tapferen Worten.

»Ich nehme an, Sie alle fragen sich –«, beginnt Pym, lang, ehe ihm etwas eingefallen ist – »ich nehme an, viele von Ihnen, die Sie heute abend hier sind, fragen sich auch noch nach dieser schönen Rede, welche Art Mann mein Vater ist.«

Sie fragen es sich wirklich. Er kann es ihren Gesichtern ansehen. Sie wollen die Bestätigung ihres Glaubens, und Maggus, der Rechtsgelehrte aus Oggsford, liefert sie, ohne zu erröten. Für Rick, für England und weil es ihm Spaß macht. Während er spricht, glaubt er wie immer jedes Wort. Er malt Rick, wie Rick sich selber gemalt hat, aber mit der Autorität eines liebenden Sohns und geschulten Juristen, findig, jedoch nicht spitzfindig. Er spricht von Rick als dem aufrichtigen Freund des einfachen Mannes – »und ich muß es wissen, er ist der beste Freund, den ich in den letzten zwanzig oder mehr Jahren hatte«. Er schildert ihn als den erreichbaren Stern an seinem Kinderhimmel, der ihm voranleuchtete als ein Beispiel ritterlicher Bescheidenheit. Das Bild Wolframs von Eschenbach wandert durch seinen sprudelwirren Sinn, und er erwägt, ihnen Rick als Little Chedworths Dichter-Soldaten darzustellen, der sich minnend und turnierend den Weg zum Sieg bahnt. Die Vorsicht behält die Oberhand. Er beschreibt den Einfluß unseres Schutzpatrons TP, »der weitermarschiert, lange nachdem der alte Soldat seinen letzten Kampf gekämpft hat«. Wie bei jedem unserer Wohnungswechsel – ein nervöser Augenblick – als erstes TPs Porträt wieder aufgehängt wurde. Er spricht von einem Vater, der mit dem Gerechtigkeitssinn des Ehrenmannes gesegnet ist. Mit Rick als meinem Vater, fragt er, wie hätte ich einer anderen Berufung folgen können als dem Recht? Er wendet sich an Sylvia, die mit Kaninchenkragen und festgezurrtem Lächeln an Ricks Seite thront. Mit erstickter Stimme dankt er ihr, daß sie die Bürde der Mutterschaft auf sich nahm, da meine arme leibliche Mutter sie niederlegen mußte. Dann ist es vorbei, so schnell, wie es begonnen hat, und Pym hastet hinter Rick durch den Mittelgang zur Tür, wischt sich die Tränen ab und die klatschenden Hände in Ricks Kielwasser beiseite. Er erreicht die Tür und wirft einen verschwimmenden Blick zurück. Wieder sieht er die Frau mit dem Schleierhütchen, die ganz allein sitzt. Er fängt das Funkeln ihrer Augen hinter der Maske auf, und es erscheint ihm böse und tadelnd, während alle anderen so voller Bewunderung sind. Seine Hochstimmung weicht schuldvollem Ärger. Sie ist keine Witwe. Sie ist die auferstandene Lippsie. Sie ist E. Weber. Sie ist Dorothy, und ihnen allen habe ich unrecht getan. Sie ist von der gommunistischen Partei Oggsford und soll meine verräterische Gonversion beobachten. Die Michaels haben sie geschickt.

»Wie war ich, Sohn?« – »Phantastisch.« – »Du auch, Sohn. Bei Gott, und wenn ich hundert Jahre lebe, werde ich nie stolzer sein. Wer hat dir die Haare geschnitten?«

Seit langer Zeit niemand, aber Pym überhört es. Sie überqueren den Parkplatz mit einiger Schwierigkeit, denn Rick hält Pym in einer ambulanten Umarmung fest und sie lehnen schräg aneinander wie zwei schlampig aufgehängte Mäntel. Mr. Cudlove hat die Tür des Bentley geöffnet und weint vor Stolz wie ein guter Lehrer. »Wunderschön, Mr. Magnus«, sagt er. »Ein zweiter Karl Marx. Wir werden’s nie vergessen.«

Pym dankt ihm zerstreut. Wie so oft auf dem Höhepunkt eines unechten Triumphs fühlt er undeutlich das Nahen der göttlichen Vergeltung. Was habe ich dieser Frau Böses getan? fragt er sich immer wieder. Ich bin jung und beredt und Ricks Sohn. Ich trage meinen neuen unbezahlten Anzug von Hall’s. Warum will sie mich nicht lieben, wie es alle tun? Wie jeder Künstler vor oder nach ihm denkt er an den einzigen Menschen im Publikum, der nicht applaudiert hat.

***

Es ist der folgende Samstag, es geht auf Mitternacht zu. Das Wahlfieber steigt rapid. In wenigen Minuten sind es nur noch vier Tage bis zur Wahl. Ein neues Plakat mit der Aufschrift »Er Braucht DICH am Donnerstag« klebt an Pyms Fenster, eine gelbe Girlande ist vom Fensterrahmen über die Straße bis zur Pfandleihe gespannt. Doch Pym liegt voll angekleidet und lächelnd auf dem Bett, und kein Gedanke an den Wahlkampf sucht ihn heim. Er ist im Paradies mit einem Mädchen namens Judy, der Tochter eines liberalen Landwirts, der sie uns geliehen hat, damit sie die alten Schachteln zu den Urnen fährt, und das Paradies ist der Vordersitz ihres auf der Straße nach Little Kimble geparkten Kombis. Der Geschmack von Judys Haut ist auf Pyms Lippen, der Geruch ihres Haars in seiner Nase. Und wenn er die Hände über den Augen wölbt, dann sind es dieselben Hände, die sich zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit über den Brüsten eines jungen Mädchens wölbten. Das Schlafzimmer ist im ersten Stock eines schäbigen Eckhauses, genannt Mrs. Searles Temperenzler-Rast, obwohl dort weder von Rast noch von Temperenzlern die Rede sein kann. Die Pubs sind geschlossen, Geschrei und Seufzer haben sich in einen anderen Stadtteil verzogen. In der Hintergasse plärrt eine Frauenstimme – »Hastn Bett für uns, Mattie? Ich bin’s, Tessie. Mach auf, alter Sack, wir erfriern.« Oben fliegt ein Fenster auf, und die heisere Stimme von Mr. Searle rät Tessie, sie solle ihren Freier hinter das Bushäuschen führen. »Was meinst du, was wir sind, Tess?« schimpft er. »Ein Nuttenbunker?«

Das sind wir natürlich nicht. Wir sind das Hauptquartier des liberalen Kandidaten, und der liebe alte Mattie Searle, unser Wirt, ist ein lebenslanger Liberaler, obwohl er es noch vor einem Monat nicht gewußt hat.

Auf Zehenspitzen, um sich nicht aus seinen erotischen Träumen zu wecken, schleicht Pym zum Fenster und blinzelt in den Hotelhof hinunter. Auf einer Seite die Küche. Auf der anderen der Speisesaal der Hausgäste, jetzt Sitz des Wahlkomitees. Hinter dem erleuchteten Fenster entdeckt Pym die grauen gebeugten Köpfe von Mrs. Alcock und Mrs. Barlow, unseren unermüdlichen Helferinnen, die resolut die letzten Umschläge des Tages zukleben.

Er legt sich wieder aufs Bett. Warten, denkt er. Sie können nicht die ganze Nacht aufbleiben. Tun sie nie. Seine Eroberung auf dem einen Gebiet inspiriert ihn zur Eroberung auf einem anderen. Da morgen Sabbat ist, gönnt unser Kandidat seinen Truppen Ruhe und begnügt sich mit frommen Auftritten in den meistbesuchten Baptistenkirchen, wo er jederzeit bereit ist, über Einfachheit und Dienen zu predigen. Morgen um acht Uhr wird Pym an der Bushaltestelle Nether Wheatley stehen, und Judy wird ihn dort mit dem Kombi ihres Vaters abholen, und im Laderaum wird sie den Schlitten mitbringen, den der Wildhüter für sie gemacht hat, als sie zehn war. Sie kennt den Hügel, sie kennt die Scheune daneben, und es ist eine ausgemachte Sache zwischen ihnen, daß irgendwann gegen halb elf, je nachdem, wie lange sie rodeln, Judy Barker den Magnus Pym mit zur Scheune und zu ihrem Liebhaber nehmen wird. Aber zunächst muß Pym einen anderen Hang hinauf – oder hinuntergelangen. Hinter dem Sitz des Komitees führt eine Treppe in den Keller, und im Keller steht – Pym hat ihn gesehen – der ramponierte grüne Aktenkasten, auf den er es schon Dreiviertel seines Lebens abgesehen hat und in den er schon zu oft vergebens einzudringen suchte. In Pyms Brieftasche unter dem Kopfkissen steckt der blaue stählerne Teilzirkel, mit dem die Michaels ihn billige Schlösser zu öffnen lehrten. In Pyms von wollüstigen Plänen erhitzter Vorstellung herrscht die ruhige Gewißheit, daß ein Mann, der Zugang zu Judys Brüsten fand, auch die Festung von Ricks Geheimnissen sprengen könne.

Er birgt das Gesicht wieder in den Händen und durchlebt noch einmal jeden köstlichen Augenblick des Tages. Er war wie üblich jäh von Syd und Mr. Muspole aus dem Schlaf gerissen worden, die vor seiner Tür Obszönitäten à la Crazy Gang schrien.

»Laß gut sein, Magnus, alles braucht mal Ruhe. Davon kann man blind werden.«

»Er fällt glatt runter, Magnus, wenn er nicht mal Pause machen darf. Der Doktor muß ihn mit einem Streichholz schienen. Was wird Judy dazu sagen?«

Beim zeitigen Frühstück bellt Major Maxwell Cavendish dem Hofstaat die Kampforder des Tages vor. Flugblätter sind überholt, erklärt er. »Die einzig wirksamen Waffen sind jetzt Lautsprecher und nochmals Lautsprecher, gestützt von Frontalangriffen direkt vor der Haustür. Die Leute wissen, daß wir hier sind. Sie wissen, daß wir nicht spaßen. Sie wissen, daß wir den besten Kandidaten und die beste Politik für Gulworth haben. Jetzt gilt es, jede einzelne Stimme zu erobern. Wir werden uns einen nach dem anderen vorknöpfen und durch schiere Willenskraft zur Urne schleppen. Ich danke Ihnen.«

Jetzt zum Detail. Syd übernimmt Lautsprecher Nummer eins und zwei Damen – Gelächter – und fährt hinunter ins Ödland neben der Rennbahn, wo die Tsigans kampieren – Tsigans haben die gleiche Wahlstimme wie jeder andere. Jemand ruft: »Dann kannst du auch gleich einen Fünfer für uns auf Prinz Magnus setzen!« Mr. Muspole und eine weitere Dame übernehmen Lautsprecher Nummer zwei und holen Major Blenkinsop und unseren miserablen Wahlkampfleiter um neun an der Stadthalle ab. Magnus fährt wieder mit Judy Barker und bearbeitet Little Kimble und die fünf umliegenden Dörfer.

»Dann kannst du auch gleich Judy bearbeiten«, sagt Morrie Washington. Der Witz erntet trotz seiner Brillanz nur einen Höflichkeitserfolg. Der Hofstaat ist wegen Judy beunruhigt. Er mißtraut ihrer Gelassenheit und mißbilligt ihren Zugriff auf sein Maskottchen. Die Barker ist eingebildet, nörgeln sie hinter Judys Rücken, die Barker ist nicht so kameradschaftlich, wie wir glaubten. Aber im Moment ist Pym die Meinung des Hofstaats noch gleichgültiger als sonst. Er ignoriert alle Sticheleien, und sobald die Räume des Komitees unbewacht sind, huscht er die Kellertreppe hinunter und steckt Michaels Teilzirkel in das Schloß des ramponierten grünen Aktenkastens. Eine Zinke hält die Feder zurück, die zweite dreht die Kammer. Das Schloß springt auf. Ich stehe vor einem Wunder, und das Wunder bin ich. Ich komme zurück. Hastig verschließt er den Kasten wieder und rennt hinauf, und nicht einmal eine Minute nach seinem Zugriff auf die Geheimnisse des Lebens steht er unschuldig vor dem Hoteleingang, und schon fährt Judys Kombi vor, der Lautsprecher ist mit Garbenseilen auf dem Dach befestigt. Sie lächelt, aber sie sagt nichts. Es ist ihr dritter gemeinsamer Vormittag, aber am ersten wurden sie von einer Helferin begleitet. Dennoch versuchte Pym mehrmals, Judys Hand mit der seinen zu streifen, wenn sie schaltete oder ihm das Mikrophon reichte, und als sie sich um Mittag trennten und er ihre Wange küssen wollte, dirigierte sie den Kuß kühn auf ihre Lippen um, indem sie ihm eine lange Hand ins Genick legte. Sie ist ein großes heiteres Mädchen mit heller Haut und bodenständiger Stimme. Sie hat einen großen Mund und schalkhafte Augen hinter ihrer strengen Brille.

»Wählt Pym, den Mann des Volkes!« trompetet Pym in den Lautsprecher, als sie durch die Vororte von Gulworth aufs Land fahren. Er hält in aller Offenheit Judys Hand fest, zuerst in ihrem Schoß, dann auf Judys Initiative in seinem. »Rettet Gulworth vor der Geißel der Parteienpolitik.« Dann sagt er einen Limerick über den Kandidaten der Konservativen auf, von Morrie Washington, dem großen Poeten gedichtet und vom Major als wirksamer Stimmenfang gepriesen.

Herr Gross von den Tories war einer

Der konnte schön tun wie keiner.

Jedoch Rickie Pym

Der besorgt es ihm,

Und dann ist Herr Gross sehr viel kleiner.

Judy greift über ihn weg und stellt den Lautsprecher ab.

»Dein Dad hat vielleicht Nerven«, sagt sie vergnügt, als sie die Stadt hinter sich haben. »Für was hält er uns? Für Dorftrottel?« Judy lenkt den Kombi in einen leeren Seitenweg, stellt den Motor ab, knöpft ihre Jacke auf, dann die Bluse. Und Pym, der weitere Hindernisse erwartet hatte, entdeckt ihre kleinen und vollendeten Brüste, deren Spitzen von der Kälte starr sind. Sie sieht stolz zu, wie er die Hände darüberlegt.

Den ganzen Tag lang wandelte Pym auf Wolken von Licht. Judy mußte nach Hause und ihrem Vater beim Melken helfen, also setzte sie Pym vor einem Gasthof an der Straße nach Norwich ab, wo er sich mit Syd und Morrie Washington und Mr. Muspole zu einem diskreten Schluck auf neutralem Gelände fern des Wahlvolks treffen wollte. Das Bevorstehen der Entscheidung hat die Runde mit Ferienvorfreude erfüllt, und nachdem sie bis zur Sperrstunde durchgehalten hatten, quetschten sich alle vier in Syds Wagen und sangen über den Lautsprecher Underneath the Arches, bis sie die Grenze des Wahlkreises erreichten, wo sie die Jacketts und ihre frommen Mienen wieder anlegten. Am frühen Abend lauschte Pym Ricks letzter zündender Ansprache an seine Helfer. Heinrich V. hätte es vor der Schlacht bei Azincourt nicht besser machen können. Nur nicht gefackelt vor dem letzten Strauß. Denkt an Hitler. Sich durchkämpfen bis zum Sieg, wacker drauflos, gebt Gott die Ehre und spart in der Zielgeraden nicht mit der Peitsche. Mit dieser Mahnung noch in den Ohren eilte das Team zu den Wagen. Inzwischen ist Pyms Rede zum integralen Bestandteil des Programms geworden. Die Wähler lieben ihn, und im Hofstaat hat er Starstatus. Im Bentley können die beiden Champions einander die Hände schütteln und einen Gedankenaustausch vornehmen, bei einem Glas warmem Schampus, um zwischen den Siegen munter zu bleiben.

»Diese finstere Person war wieder da«, sagte Pym. »Ich glaube, sie verfolgt uns.«

»Was für eine Person?« sagte Rick.

»Ich weiß nicht. Die Frau mit dem Schleier.«

Und irgendwo zwischen diesem Hasten und Handeln brachte Pym den gefährlichsten Raubzug seiner bisherigen sexuellen Laufbahn unter. Er hatte auf der anderen Seite der Stadt eine Apotheke mit Nachtdienst aufgespürt, fuhr jetzt mit der Tram hin und ging mehrmals an der Tür vorüber, um Observanten zu orten, ehe er kühn zum Ladentisch schritt und drei Präservative kaufte, ohne daß der abgebrühte Alte ihn festnahm oder auch nur fragte, ob er verheiratet sei. Und er trägt seine Siegestrophäe davon, in ihrem lila-weißen Päckchen blinzelt sie ihm aus einem Stapel »Wählt-Pym«-Flugblättern zu, als er wieder einmal an sein Schlafzimmerfenster schleicht und hinunterspäht.

Die Komitee-Räume liegen im Dunkeln. Los!

***

Die Luft ist rein, aber Pym ist ein viel zu alter Hase, um direkt auf sein Ziel zuzugehen. Zeit, die man auf Erkundung verwendet, ist nie verschwendet, sagte Jack Brotherhood immer. Ich will mich bis ins Herz des Feindes vorkämpfen, ich will Judy verdienen. Er fängt in der Hotelhalle an und tut, als lese er die Anschläge. Das Erdgeschoß ist jetzt verlassen. Matties schmutziges Büro ist leer, die Vordertür verriegelt. Pym beginnt seinen langsamen Aufstieg. Zwei Türen nach der seinen kommt der Aufenthaltsraum der Gäste. Pym öffnet die Tür und lächelt hinein. Syd Lemon und Morrie Washington spielen einen Vierer gegen zwei liebe alte Freunde von Mattie Searle, die aussehen wie Pferdediebe, aber auch Schafräuber sein können.

Syd hat den Hut auf. Zwei am Ort rekrutierte Lovelies reiben die Queues mit Kreide ein und spenden Trost. Es herrscht dicke Luft.

»Was spielt ihr?« sagt Pym, als wolle er mitmachen.

»Polo«, sagt Syd. »Verpiß dich, Titch, und sei nicht komisch.«

»Ich meine, wieviele Rahmen?«

»Neun«, sagt Morrie Washington.

Syd verfehlt seinen Stoß und flucht. Pym schließt die Tür. Die sind versorgt. Keine Gefahr, zumindest nicht in der nächsten Stunde. Er setzt seine Patrouille fort. Im nächsten Stockwerk verdichtet sich die Atmosphäre, ganz typisch für geheime Häuser. Hier ist das ruhige Zimmer, wo geladene Gäste die Schuhe ausziehen und sich bei einer Pokerpartie mit unserem Kandidaten entspannen können. Pym tritt ein, ohne anzuklopfen. An einem Tisch, der mit Bargeld und Brandygläsern übersät ist, bieten Rick und Perce Loft scharf gegen Mattie Searle. Der Einsatz ist ein Stapel aus Benzinscheinen, der bevorzugten Währung des Hofstaats. Mattie steigert Rick, und Rick hält mit. Rick schaut geduldig zu, wie Mattie den Pool einstreicht.

»Wie ich höre, hast du heute vormittag mit Colonel Barker in Little Kimble durchschlagenden Erfolg gehabt, Sohn.«

Ich weiß nicht mehr genau, warum Rick von Judy als vom »Colonel« sprach. Vielleicht hatte es mit dem Sensationsprozeß einer berühmten Lesbierin zu tun. Pym war es ohnehin egal.

»Die Leute waren ganz verliebt in den Jungen, Rickie«, bestätigt Perce Loft.

»Nicht bloß die Leute, wenn ihr mich fragt«, sagt Rick, und alle lachen, weil es Ricks Witz war.

Pym bückt sich zur Gute-Nacht-Umarmung und hört, wie Rick an seiner Backe schnuppert, die noch nach Judy riecht.

»Laß dich nur nicht von der Wahl ablenken, Sohn«, sagt Rick und versetzt der Backe einen warnenden Klaps.

Auf dem selben Korridor liegt Morrie Washingtons Werbeabteilung, die zugleich als Desinformationsstelle dient. Kisten voll Whisky und Nylons sind an der Wand gestapelt und warten darauf, den Weg zur letzten Wählergunst zu pflastern. Von Morries Schreibtisch war die Tatarenmeldung ausgegangen, wonach der Kandidat der Tories den Faschisten Sir Oswald Moseley unterstütze und der Labourkandidat seinen Schulkindern allzu liebevoll zugetan sei. Pym öffnet die Schlösser mit seinem Zirkel und filzt hastig die Schubladen. Ein Kontoauszug, ein Päckchen pornographische Spielkarten. Das Konto lautet auf den Namen Mr. Morrie Wurzheimer und ist um einhundertzwanzig Pfund überzogen. Die Spielkarten würden Eindruck machen, wenn Judys Wirklichkeit sie nicht in den Schatten stellte. Pym schließt alles wieder säuberlich ab und erklimmt die Hälfte der nächsten Treppenflucht; dort verharrt er und hört Mr. Muspole ins Telefon flüstern. Das oberste Stockwerk ist das Allerheiligste. Es ist Sicheres Haus, Chiffrierraum und Einsatzzentrale zugleich. Am Ende des Korridors liegen die Staatsgemächer Unseres Kandidaten, und nicht einmal Pym ist bis jetzt dorthin vorgedrungen, denn Sylvia liegt zu den unmöglichsten Zeiten im Bett und hat Migräne oder bräunt sich mittels einer Mr. Muspole abgekauften geheimnisvollen Lampe.

Ein unbemerkter Rückzug ist also nicht garantiert. Nebenan residiert das sogenannte Aktionskomitee, wo große Geldbeträge und Hilfeleistungen gesammelt und Versprechungen gehandelt werden. Welche Versprechungen, das ist mir noch heute unklar, obwohl Syd einmal den Plan erwähnte, das Hafenbecken mit Zement aufzufüllen und so einen Parkplatz zu schaffen, zur Freude vieler einflußreicher Bauunternehmer.

Plötzlich legt Mr. Muspole auf. Lautlos macht Pym auf dem Absatz kehrt und bereitet sich auf einen geordneten Rückzug treppab vor. Er wird durch ein Surren gerettet, als Mr. Muspole eine neue Nummer wählt. Er spricht mit einer Dame, stellt zärtliche Fragen und schnurrt bei den Antworten. Muspole kann stundenlang so weitermachen. Es ist sein Hobby.

Pym wartet, bis die Stimme zu beruhigendem Dahinplätschern gefunden hat, dann kehrt er ins Erdgeschoß zurück. Die dunklen Komiteeräume riechen nach Tee und Deodorant. Die Tür zum Hof ist von innen verschlossen. Pym dreht behutsam den Schlüssel und steckt ihn ein. Die Kellertreppe stinkt nach Katzen. Auf den Stufen stehen Kartons. Als Pym sich treppab tastet, weil er kein Licht machen will, das man im Hof sehen könnte, hat er eine Vision von einem Tag in Bern, an dem er seine feuchte Wäsche die Steinstufen zu einem anderen Keller hinuntertrug und fürchtete, über Herrn Bastl zu stolpern. Und tatsächlich verfehlt er die letzte Stufe. Er fällt nach vorn, schlägt heftig gegen die Kellertür und stößt sie mit beiden Händen auf, als er sich abfangen will. Die Tür scharrt über den Schmutz. Sein Schwung befördert ihn in den Keller, der zu seiner Überraschung schwach erleuchtet ist. Pym kann den grünen Aktenkasten sehen und davor eine Frau, die so etwas wie ein Stemmeisen in der Hand hat und beim bleichen Schein einer Fahrradlampe die Schlösser prüft. Ihre Augen, die sich auf Pym richten, sind dunkel und kampflustig. Keine Spur von Schuldgefühlen. Und noch heute wundert mich, daß Pym keinen Moment ernstlich bezweifelte, dieselbe Frau vor sich zu haben, mit demselben Blick und derselben intensiven und anklagenden Ruhe, deren verschleiertes Gesicht ihn nach seinem Triumph auf der Rednertribüne von Little Chedworth angestarrt und ihn danach noch bei einem Dutzend Versammlungen belauert hatte. Sogar als er sie fragt, wer sie sei, ist ihm klar, daß er es bereits weiß, obwohl er nicht mit der Gabe des zweiten Gesichts gesegnet ist. Sie trägt einen langen Rock, der ihrer Mutter gehören könnte. Sie hat ein steinhartes Gesicht und junges Haar, das ergraut ist. Die Augen sind verwirrend direkt und glänzend, sogar im Dunkeln.

»Ich bin Peggy Wentworth«, antwortet sie trotzig in starkem irischem Tonfall. »Soll ich’s Ihnen buchstabieren, Magnus? Peggy, Abkürzung für Margaret, schon mal gehört? Ihr Vater, Mr. Richard Thomas Pym hat meinen Mann John umgebracht und mich praktisch auch. Und wenn ich den Rest meines gestorbenen Lebens drauf verwenden muß, jeden einzelnen Tag, bis sie mich zu ihm ins Grab legen, ich finde den Beweis dafür und bring die Bestie vor Gericht.«

Pym sieht einen wandernden Lichtschein und dreht sich abrupt um. Mattie Searle steht, eine Decke umgehängt, in der Tür. Sein Kopf ist schräg geneigt, das gute Ohr nach vorn, und er blinzelt zuerst Pym und dann Peggy über den Brillenrand an. Wieviel hat er gehört? Pym hat keine Ahnung. Aber der Schreck hat seinen Geist geschärft.

»Das ist Emma aus Oxford, Mattie«, sagt er kühn. »Emma, das ist Mr. Searle, der Hotelier.«

»Sehr erfreut«, sagt Peggy ruhig.

»Emma und ich spielen nächste Woche Theater in einem College, Mattie. Sie ist nach Gulworth gekommen, damit wir zusammen proben können. Wir dachten, hier unten sind wir Ihnen nicht im Weg.«

»O ja«, sagt Mattie. Seine Augen gleiten von Peggy zu Pym und wieder zurück, ihr wissender Blick entlarvt Pyms Lügen. Sie hören sein faules Schlurfen treppauf verschwinden.

***

Ich kann nicht mehr sehr genau sagen, Tom, welche Details sie Pym wo erzählte. Sein erster Gedanke, als sie das Hotel verließen, war, weiterzufliehen, also sprangen sie in einen Bus und fuhren bis zur Endstation, dem ältesten und heruntergekommensten Hafenviertel, das man sich vorstellen konnte. Leerstehende Lagerhäuser mit Fenstern, durch die man den Mond sehen konnte, stillstehende Kräne, die wie Galgen direkt aus dem Meer ragten. Eine Bande umherziehender Scherenschleifer hatte hier ihr Quartier, sie müssen nachts gearbeitet und bei Tag geschlafen haben, denn ich erinnere mich an ihre Romani-Gesichter, die über den Schleifsteinen schwankten, während ihre Füße das Pedal traten und die Funken über die zusehenden Kinder hinwegsprühten. Ich erinnere mich an muskulöse Mädchen, die Fischkörbe schwangen und dabei einander Zoten zuriefen und an Fischer, die in ihrem Ölzeug zwischen ihnen herumstolzierten und viel zu eingebildet waren, um sich mit irgendwem anderen als sich selber abzugeben. Ich erinnere mich in jäher Dankbarkeit an alle Gesichter und Stimmen vor den Fenstern des Gefängnisses, in das sie mich mit ihrem gnadenlosen Monolog eingesperrt hatte.

Während sie zitternd in einem Kreis von Elendsgestalten vor einer Teebude am Hafen standen, erzählte Peggy die Geschichte, wie Rick ihren Hof gestohlen hatte. Sie hatte schon damit angefangen, sobald sie im Bus waren, und jeder, der hören wollte, sie hören konnte, und seitdem ohne Punkt und Komma weitergemacht, und Pym wußte, daß alles wahr, alles schrecklich war, auch wenn ihn oft das Gift in ihrer Stimme dazu trieb, Rick in Schutz zu nehmen. Um sich warm zu halten, marschierten sie tüchtig, aber Peggy hörte nicht eine Sekunde auf zu reden. Als er ihr in einer Baracke der Seemanns-Mission, genannt The Rover, Bohnen mit Ei kaufte, redete sie weiter, während sie die Ellbogen abspreizte und den Toast schnitt und die Soße mit dem Teelöffel aß. Im Rover erzählte sie Pym von Ricks großem Treuhandfonds, der neuntausend Pfund einsteckte, das Geld, das ihr Mann John von der Versicherung bekam, nachdem er in die Dreschmaschine gefallen war und beide Beine unterhalb der Knie und alle Finger einer Hand verloren hatte. Als sie diesen Teil erzählte, zog sie die Amputationslinien an ihren eigenen mageren Gliedmaßen nach, ohne hinzusehen, und Pym fühlte wieder die Besessenheit dieser Frau und fürchtete sich davor. Die einzige Stimme, die ich nie für dich nachahmte, Tom, ist Peggys irischer Dialekt, der in Ricks Predigtton umschlug, wenn sie seine wohlklingenden Versprechungen wiedergab: zwölfeinhalb Prozent plus Gewinnausschüttung, meine Liebe, genug, daß der alte John bis ans Ende seiner Tage versorgt ist, und genug für Sie, wenn er nicht mehr ist, und dann bleibt noch immer genug, um einiges für diesen prächtigen Jungen beiseite zu legen, wenn er aufs College geht und Jura studiert, genau wie einmal mein eigener Sohn, die beiden sind vom selben Schlag. Sie erzählte einen ganzen Thomas Hardy-Roman voller Katastrophen, die ein zorniger Gott zeitlich so abgestimmt schickte, daß ein Höchstmaß an Elend daraus entstand. Und sie selber hätte eine Figur von Thomas Hardy sein können: von ihrer Besessenheit getrieben und nur noch mit ihrem eigenen Los beschäftigt.

John Wentworth sei nicht nur ein Opfer, sondern auch ein Esel gewesen, erklärte sie, der sich vom erstbesten Bauernfänger einwickeln ließ. Er starb im festen Glauben, daß Rick ein Retter und ein guter Kumpel sei. Sein Hof war ein Besitz in Cornwall namens Tamar Rose, wo jedes Weizenkorn dem Seewind abgerungen werden mußte. Er hatte ihn von einem klügeren Vater geerbt, und ihr Sohn Alastair war sein einziger Erbe. Als John starb, war für keinen auch nur ein Penny übrig. Alles überschrieben, die ganze verdammte Habe mit Hypotheken belastet, Magnus, bis zum Hals – bei diesem Wort fuhr Peggy sich mit dem bohnenverklebten Messer quer über die Kehle. Sie erzählte, wie Rick kurz nach Johns Unfall im Krankenhaus auftauchte mit Blumen und Süßigkeiten und Schampus – und Pym sah wieder den Korb mit Schwarzmarktfrüchten neben seinem eigenen Krankenbett, als er aus der Narkose erwacht war. Er erinnerte sich an Ricks edelmütige Versorgung der Alten und Gebrechlichen, bei der er ihm in den Jahren des großen Kreuzzugs geholfen hatte. Er hörte, wie Lippsies schluchzende Stimme Rick einen Dieb nannte, und sah Ricks Briefe, die versprachen, für sie zu sorgen. Und eine Gratisfahrkarte für mich, sagt Peggy, damit ich ihn im Krankenhaus von Truro besuchen kann. Und danach fährt Ihr Vater mich heim, Magnus, nichts ist ihm zuviel Mühe, bis er unser Geld hat. Die Dokumente, die er John unterschreiben ließ, Magnus, waren immer von den hübschesten Pflegerinnen beglaubigt. Wie Ihr Vater immer Geduld mit John hatte, ihm immer alles erklärte, was er nicht verstand, wenn nötig hundertmal, aber John hört gar nicht hin, dieser Gimpel ist viel zu gutgläubig und phlegmatisch.

Sie bekommt einen Wutanfall. »Ich steh um vier zum Melken auf und schlaf um Mitternacht über den Abrechnungen ein«, schreit sie, und schläfrige Köpfe von den anderen Tischen wenden sich uns zu. »Und mein Dämlack von Mann liegt warm in seinem Bett in Truro und überschreibt alles hinter meinem Rücken und Ihr Vater sitzt bei ihm und spielt den Heiligen, Magnus. Und mein Alastair hat kein Paar Schuhe, um in die Schule zu gehen, aber Sie leben im Überfluß mit Ihren feinen Schulen und feinen Anzügen, Magnus, Gott verzeih euch!« – Denn bei Johns Tod stellt sich natürlich heraus, daß der große Treuhandfonds aus nicht nachprüfbaren Gründen an einem rein zeitweiligen Liquiditätsproblem leidet und nun doch keine zwölfeinhalb Prozent plus Gewinnanteil zahlen kann. Er kann auch das Kapital nicht zurückzahlen. Und daß zur Überwindung dieser Durststrecke John Wentworth kurz vor seinem Tod den Hof und das Land und das Vieh und beinah auch Weib und Kind verpfändet hat, damit es niemanden mehr je an irgend etwas fehle. Und den Erlös seinem lieben alten Kumpel Rick gegeben hat. Und daß Rick bis aus London gekommen ist und einen erstklassigen Anwalt namens Loft mitgebracht hat, bloß damit er John auf dem Sterbebett den Sinn dieser raffinierten Transaktion erklärt. Und John, der es wie immer jedem recht machen will, schreibt eigens einen langen Brief, alles mit der Hand, worin er allen, die es angeht erklärt, daß er seine Entscheidung im Vollbesitz seiner geistigen und moralischen Kräfte getroffen hat und in keiner Weise in seiner freien Willensbestimmung durch einen Heiligen und dessen Advokaten beeinflußt worden ist, während er seinen letzten Schnapper tat. Dies alles für den Fall, daß Peggy oder Alastair später die Taktlosigkeit besäßen, das Dokument gerichtlich anzufechten, oder den Versuch machen würden, neuntausend Pfund einzutreiben, oder auf andere Weise mangelnden Glauben an Ricks selbstloser Verwaltung von Johns Ruin bekunden sollten.

»Wann ist das alles passiert?« fragt Pym.

Sie nennt ihm die Daten, sie nennt ihm den Wochentag und die Stunde, sie zieht aus ihrer Handtasche ein Bündel Briefe von Perce unterschrieben, worin er bedauert, daß »unser Präsident, Mr. R. T. Pym, auf unbestimmte Zeit in einer Sache von nationaler Dringlichkeit verreist ist« und ihr versichert, daß »die Dokumente betreffs des Anwesens Tamar Rose zur Zeit bearbeitet werden zu dem Zweck, eine möglichst große Summe in Ihrem Interesse zu erzielen«. Und sie beobachtet Pym mit ihren irren kalten Augen, während sie beide auf einer zerbrochenen Bank kauern und er beim Schein einer Straßenlaterne liest. Sie nimmt die Briefe wieder an sich und steckt sie liebevoll in die Umschläge, achtet auf Ecken und Kniffe. Als sie weiterspricht, möchte Pym sich die Ohren oder ihr den Mund zuhalten. Er möchte aufstehen und zur Kaimauer laufen und sich hinunterstürzen. Er möchte schreien: »Aufhören!« Aber statt dessen sagt er nur: »Bitte, ich bitte Sie, würden Sie so freundlich sein und nicht weitererzählen.«

»Und warum nicht?«

»Ich will es nicht hören. Dieser Teil geht mich nichts an. Er hat Sie bestohlen. Der Rest zählt nicht«, sagt Pym.

Aber Peggy ist anderer Meinung. Sie geißelt sich den irischen Rücken mit ihrem irischen Schuldgefühl und nimmt Pyms Anwesenheit als Vorwand. Es bricht aus ihr hervor. Das Beste hat sie sich für den Schluß aufgehoben.

»Warum auch nicht – wenn dieser Schuft einen ohnehin schon mit Haut und Haaren hat? Wenn er schon seine dreckigen Arme um einen legt, ganz als wären wir schon in seinem Luxusbett mit den Rüschen und den vielen Spiegeln« – sie beschreibt Ricks Schlafzimmer in der Chester Street –, »wenn schon mein ganzes Leben von ihm abhängt und ich, eine dumme Frau, ganz allein in der Welt, mit einem kränklichen Jungen am Hals und einem bankrotten Hof und die ganze Woche keinen Menschen, zu dem man auch nur ›schöner Tag, heute‹ sagen kann, bloß den blöden Verwalter?«

»Ich weiß jetzt, daß er unrecht an Ihnen gehandelt hat«, wiederholt Pym. »Bitte, Peggy. Der Rest ist persönlich.«

»– wenn er einen schon Erster Klasse nach London bestellen kann, die Fahrkarten schicken, bloß mit den Fingern schnippt, sowie er von seiner nationalen Dringlichkeit zurück ist, weil er glaubt, ich hetz sonst die Rechtsanwälte auf ihn? – dann geht man eben hin, oder? Wenn man seit zwei Jahren und länger keinen Mann gehabt hat und sich bloß selber im Spiegel anschauen kann, wie man jeden Tag mehr verschrumpelt, dann geht man hin!«

»Ganz bestimmt. Ganz bestimmt mit gutem Grund«, sagt Pym. »Bitte erzählen Sie mir nichts mehr!«

Sie ahmt wieder Ricks Stimme nach: »›Wir wollen diese Sache ein für allemal ins Reine bringen, meine liebe Peggy. Es soll keine Mißhelligkeiten zwischen uns geben, mir ging’s doch immer nur darum, daß Sie gut versorgt sind.‹ – Dann geht man eben, oder?« Ihre Stimme hallt auf dem leeren Platz und über das Wasser. »Mein Gott, man geht hin. Man packt seinen Koffer, nimmt den Jungen und schließt die Tür ab, weil man sich sein Geld und Gerechtigkeit verschaffen will. Man flitzt nach London und brennt drauf, ihm Saures zu geben, sobald man ihn zu fassen kriegt. Man läßt die Wäsche stehen und das Geschirr und das Melken und die ganze Misere, in die er einen gebracht hat. Und man sagt zu dem blöden Verwalter, er soll sich um den Laden kümmern, ich und Alastair fahren nach London. Und dann kommt man hin, und anstatt einer geschäftlichen Besprechung mit Mr. Perce Loft und Mr. Bloody Muspole und der ganzen Bande kauft der Mann einem feine Kleider in der Bond Street und tut, als wär man eine Prinzessin, mit den Limousinen und Restaurants und schicken Unterröcken und Seidenstrümpfen, na ja, Krach machen kann man später immer noch, oder?«

»Nein«, sagt Pym. »Kann man nicht. Da heißt es jetzt oder nie.«

»Wenn er einen jahrelang in den Dreck getreten hat, will man doch wenigstens ein bißchen was aus ihm rausholen, sich schadlos halten für jeden Penny, den er einem gestohlen hat!« Wieder ahmt sie Ricks Stimme nach: »›Ich hab schon immer eine Schwäche für Sie gehabt, Peggy, das wissen Sie. Sie sind ein Schatz, ein Juwel. Hatte immer ein Auge auf Ihr reizendes irisches Lächeln geworfen, und nicht nur auf das Lächeln.‹ – Und was sag ich, er hat auch für den Jungen ein Programm gehabt. Nimmt ihn zu Arsenal mit und wir sitzen wie Götter mit den Lords und Granden in der Loge und danach Dinner bei Quaglino, er, der Mann des Volkes, mit einer Riesentorte und der Name des Jungen draufgeschrieben, Sie hätten Alastairs Gesicht sehen sollen. Und am nächsten Tag muß sich ein Spezialist von der Harley Street seinen Husten anhören, und danach kriegt der Junge eine goldene Uhr, weil er so tapfer war, mit seinem Monogramm drauf und ›Von RTP für einen jungen Freund‹. Übrigens fast so ähnlich wie die, die Sie anhaben – ist die auch aus Gold? Wenn ein Mann das alles für einen getan hat und ein Schuft ist – dann muß man sich nach ein paar Tagen eingestehn, daß es auf der Welt eine Menge ärgere Schufte gibt als ihn. Die meisten würden keinen Hundekuchen mit einem teilen, schon gar nicht eine Riesentorte bei Quaglino, und dann den Jungen heimbringen lassen, damit die Erwachsenen in einen Nachtclub gehen und sich amüsieren können – warum nicht, wenn er eine Schwäche für mich hat? Eine Menge Frauen würden schon für weniger einen Streit für ein paar Tage aufschieben, meine ich – warum also nicht?«

Sie redet, als sei Pym gar nicht mehr da, und das stimmt. Sie hat ihn taub geredet, aber er hört sie noch immer. So, wie ich sie noch heute höre, ein endloses heilloses Dahinplappern. Sie spricht zu dem ehemaligen Viehmarkt mit seinen zerbrochenen Pferchen und der stehengebliebenen Uhr, aber Pym ist fühllos und tot und überall, nur nicht hier. Er ist im Overflow-House in der Vorbereitungsschule, und Ricks erhobene Stimme und Lippsies Weinen halten ihn im Schlafen wach. Er ist auf Dorothys Bett in The Glades und zu Tode gelangweilt, den Kopf an ihrer Schulter, und starrt den ganzen Tag durchs Fenster in den weißen Himmel. Er ist in einer Dachkammer in der Schweiz und begreift nicht, warum er einem Feind zuliebe seinen Freund tötete.

Sie schildert Ricks Verrücktheit wie ihre eigene. Ihre Stimme ist ein nörgelnder, quengelnder Sturzbach, und er haßt sie bis zum Wahnsinn. Wie dieser Mann angegeben hat. Vom ersten Wort an lauter Lügen. Wie er der Geliebte von Lady Mountbatten war und sie ihm geschworen hat, daß er besser sei als Noël Coward. Wie er Botschafter in Paris werden sollte, aber er hat dankend abgelehnt, diese Larifaris können ihm gestohlen bleiben. Und dieser alberne grüne Aktenkasten mit seinen faulen Geheimnissen darin, da muß einer doch verrückt sein, wenn er selber den Strick dreht, mit dem man ihn hängen soll! Wie sie, barfuß und im Nachthemd, den Kasten anschauen mußte, sieh her, mein Kind. Seine Bilanz, wie er es nannte. Alles Recht und Unrecht, das er getan hat. Alle Beweise für seine Unschuld – seine verdammte Rechtschaffenheit. Wie, wenn er einmal gerichtet wird, denn gewiß wird er gerichtet, alles in diesem blöden Kasten in die Waagschale kommt, das Gute und das Böse, und wir dann sehen, was er wirklich war, er droben bei den Engeln und wir armen Sünder hier unten zu seinem größeren Ruhm blutend und hungernd. Kurzum – er hat das alles zusammengetragen, um Gott übers Ohr zu hauen – der Gipfel der Frechheit, und dazu ist er noch ein verdammter Baptist.«

Pym fragt, wie sie den Kasten hat finden können. Ich hab gesehen, wie das alberne Ding gebracht wurde, sagt sie. Ich hab das Hotel vom ersten Wahlkampftag an nicht aus den Augen gelassen. Diese Tante Cudlove hat es eigens in der Limousine hergefahren, allein schon die Kosten. Der Scheißkerl Loft hat’s mit ihm in den Keller getragen, das erstemal, daß der sich die Hände schmutzig macht. Rick hat sich nicht getraut, es in London zu lassen, solang sie alle hier waren.

»Ich muß die Beweise haben, Magnus«, wiederholt sie unablässig, als er sie im Morgengrauen zu ihrer schäbigen Pension begleitet und ihre Stimme ihm ins Ohr greint und bohrt wie eine Maschine, die niemand abstellen kann. »Wenn er die Beweise da drin hat, wie er sagt, dann krieg ich ihn und zahl’s ihm heim, das schwör ich. Zugegeben, ich hab ein bißchen Geld bei ihm mitgehen lassen. Aber was ist Geld, wenn er mich in der Liebe betrogen hat. Was ist Geld, wenn er daherstolzieren kann wie ein Grande, und mein armer John verfault in seinem Grab? Und alle Leute auf der Straße ihm Beifall klatschen, ihrem Rickie Boy? – Und er sich am Ende noch in den Himmel schwindelt? – Wozu ist eine arme betrogene Frau wie ich gut, die ihm zu Willen war und dafür in der Hölle brennen wird, wenn sie nicht der Welt gegenüber ihre Pflicht tut und ihn als den Teufel hinstellt, der er ist? Wo ist der Beweis? Ich frage Sie.«

»Bitte, hören Sie auf«, sagte Pym. »Ich weiß, was Sie wollen.«

»Wo ist die Gerechtigkeit? Wenn er sie dort drin hat, will ich sie mir holen. Ich hab keine Briefe außer ein paar Ausreden von Perce Loft, und was besagen die. Es ist, wie wenn man einen Regentropfen an die Wand nageln will.«

»Beruhigen Sie sich jetzt«, sagte Pym. »Bitte.«

»Ich bin zu diesem blöden Tory gegangen. Einen halben Tag hab ich warten müssen, aber reingekommen bin ich. ›Rick Pym ist ein Hai‹, sage ich ihm. Was nützt’s, daß ich das einem Tory sage, wo die doch allesamt Haie sind. Ich sag’s denen von Labour, aber sie fragen bloß immer ›was hat er getan?‹ Sie sagen, sie gehen der Sache nach und vielen Dank, aber was werden sie finden, die armen Irren?«

***

Mattie Searle fegt den Hof, Pym sind seine forschenden Blicke gleichgültig. Er bewegt sich voller Autorität, in der gleichen Gangart, die ihn zu Lippsies Fahrrad und an dem Polizisten vorbei zum Overflow-House gebracht hatte. Ich bin die Autorität. Ich bin Brite. Gehen Sie mir gefälligst aus dem Weg.

»Ich hab was im Keller vergessen«, sagt er obenhin.

»Ja, klar«, sagt Mattie.

Peggy Wentworths sägende Stimme schneidet ihm in die Seele. Welche furchtbaren Echos hat sie in ihm geweckt? In welchem leeren Haus seiner Kindheit nörgelt und quengelt sie auf ihn ein? Warum fühlt er sich so verworfen angesichts dieser penetranten Beharrlichkeit? Peggy ist die auferstandene Lippsie, die endlich aus ihrem Grab spricht. Sie ist die lautgewordene Welt in meinem Kopf, sie ist die Sünde, die ich nie gutmachen kann. Steck den Kopf ins Waschbecken, Pym. Halt dich an den Hähnen fest und hör mir zu, während ich dir erkläre, warum keine Strafe je schwer genug für dich sein wird. Setz ihn auf Brot und Wasser, diesen Sohn seines Vaters. Warum machst du ins Bett, Sohn? Weißt du nicht, daß eintausend Pfund in bar auf dich warten, wenn du ein Jahr lang trocken bleibst? Er knipst das Licht im Ausschußzimmer an, stößt die Tür zur Kellertreppe auf und stapft schweren Schritts hinunter. Kartons. Waren aller Art. Überfluß, um den Mangel zu stillen. Michaels Teilzirkel wiederum in Aktion, besser als ein Schweizer Messer. Er knackt das Schloß des grünen Kastens und zieht die erste Schublade heraus, während ihn die Wut überkommt. Lippschitz, Vorname Anna, nur zwei Mappen. Ah, Lippsie, da bist du ja endlich, denkt er ruhig. Es war ein kurzes Leben, nicht wahr? Keine Zeit jetzt, aber bleib, wo du bist, ich komme später wieder und hole dich. Watermaster Dorothy, Ehefrau, nur eine Mappe. Es war auch nur eine kurze Ehe, aber warte auf mich, Dot, denn zuerst muß ich mich um andere Gespenster kümmern. Er schließt die erste Schublade und zieht die zweite auf. Rick, du Schuft, wo bist du? Konkurse, die ganze Schublade voll. Er öffnet die dritte. Die bevorstehende Entdeckung bringt seinen Körper zum Glühen; die Lider, die Haut an Rücken und Taille. Aber seine Finger sind leicht und flink und geschickt. Dafür bin ich geboren, wenn ich überhaupt geboren wurde. Ich bin Gottes Detektiv, der für jeden sorgt. Wentworth, ein Dutzend Mappen, von Rick beschriftet. Pym denkt als erstes an das Datum von Muspoles Brief, worin Ricks Abwesenheit wegen nationaler Dringlichkeit bedauert wird. Er erinnert sich an den Sündenfall und an Ricks langen gesunden Landaufenthalt, während er und Dorothy ihre Haftstrafe in The Glades absaßen. Rick, du Schuft wo warst du? Los, mein Sohn, wir sind Kumpel, oder? Gleich werde ich Herrn Bastl bellen hören.

Er öffnet die letzte Schublade und sieht »Rex versus Pym 1938«, drei dicke Mappen, und daneben »Rex versus Pym 1944«, nur eine. Er zieht die erste der 1938er Mappen heraus, legt sie zurück und wählt dafür die letzte. Er schlägt zuerst die letzte Seite auf und liest die Rechtsbelehrung des Richters, Spruch, Strafe unverzüglich anzutreten. In ruhiger Ekstase kehrt er zum Anfang zurück und beginnt nochmals. Damals gab es keine Kamera. Keine Kopierer, keine Bandgeräte. Nur was man sehen und hören, auswendig lernen und stehlen konnte. Er liest eine Stunde lang. Eine Uhr schlägt acht, aber es ist ihm egal. Ich folge meiner Berufung. Gottes Geheimdienst ist am Werk. Ihr Frauen seid nur darauf aus, uns zu erniedrigen.

Mattie fegt noch immer den Hof, aber seine Gestalt ist verschwommen.

»Gefunden?« sagt Mattie.

»Ja endlich, danke.«

»Dann is gut«, sagt Mattie.

Pym erreicht sein Zimmer, schließt ab, zieht einen Stuhl an den Waschtisch und beginnt zu schreiben – aus dem Gedächtnis direkt aufs Papier, der Stil ist unwichtig. Er hört ein Klopfen, zuerst schüchtern, dann lauter. Dann ein leises und mutloses: »Magnus?«, ehe die Füße langsam hinuntergehen. Aber Pym hat das Herz der Dinge erreicht, Frauen sind ihm ein Greuel, sogar Judy ist belanglos für sein Schicksal. Er hört ihre Füße über den Vorhof klappern und den Kombi abfahren, zuerst langsam, dann plötzlich viel schneller. Ab mit Schaden.

Liebe Peggy – schreibt er – ich hoffe, daß Beiliegendes Ihnen von Nutzen sein wird.

Liebe Belinda – schreibt er – ich muß wirklich zugeben, daß mich dieser Einblick in die demokratische Praxis fasziniert. Es stellt sich heraus, daß dieses auf den ersten Blick schwerfällige Instrument doch mit allen raffinierten Kontrollen ausgestattet ist. Wir müssen uns unbedingt treffen, sobald ich wieder in London bin.

Liebster Vater – schreibt er – heute ist Sonntag und in vier Tagen werden wir unser Schicksal und das Deine kennen. Aber Du sollst wissen, wie sehr ich den Mut und die Überzeugung bewundere, die Du in Deinem heißen Wahlkampf bewiesen hast.

***

Auf dem Podium hatte Rick sich nicht bewegt. Sein messerscharfer Blick war noch immer auf Pym gerichtet. Dennoch wirkte er völlig ruhig. Nichts hatte sich hinter ihm im Saal ereignet, womit man nicht fertigwerden würde, so schien es. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Sohn, den er mit gefährlicher Eindringlichkeit ansah. Rick trug an diesem Abend seine silbergraue Staatsmanns-Krawatte und ein cremefarbenes seidenes Maßhemd mit Doppelmanschetten und den protzigen RTP-Knöpfen von Asprey. Er war am Nachmittag beim Friseur gewesen, und Pym konnte das Haarwasser riechen, als Vater und Sohn einander gegenüberstanden. Einmal schweifte Ricks Blick kurz zu Muspole, und Pym hatte später den Eindruck, Muspole habe als eine Art Zeichen genickt. Die Stille im Saal war absolut. Pym hörte kein Husten oder Stühleknarren, nicht einmal von den alten Schachteln, denen Rick wie immer die vorderste Reihe reserviert hatte, damit sie ihn an seine teure Mutter und seinen geliebten Vater erinnern konnten, der so viele Heldentode gestorben war.

Endlich drehte Rick sich um und näherte sich dem Publikum mit jenem pflichtgetreuen Biedermann-Pym-Schritt, der so oft einen Akt besonderer Heuchelei einleitete. Er erreichte den Tisch, blieb aber nicht stehen. Er erreichte das Mikrophon und schaltete es aus: kein Apparat komme jetzt zwischen uns. Er ging weiter bis zum Rand des Podiums, dort, wo die schöne, geschwungene Treppe ansetzt. Er schob das Kinn vor, er blickte über die Gesichter hinweg, er ließ seine Züge eine kurze Seelenprüfung widerspiegeln, ehe er zu sprechen begann. Irgendwo auf dem Weg zwischen Pym und Publikum hatte er das Jackett aufgeknöpft. Zielt hierher, hieß das. Hier ist mein Herz. Endlich sprach er. Die Stimme höher als sonst. Hört, wie die Erregung in ihr schwingt.

»Würden Sie bitte diese Frage wiederholen, Peggy? Sehr laut, meine Liebe, damit alle sie hören können.«

Peggy Wentworth kam der Bitte nach. Aber jetzt auch als Ricks Gast, nicht nur als seine Anklägerin.

»Vielen Dank, Peggy.« Dann bat er um einen Stuhl für sie, damit sie wie alle anderen sitzen könne. Major Blenkinsop trug eigenhändig den Stuhl in den Mittelgang. Peggy setzte sich folgsam darauf, ein Kind, das etwas angestellt hat und auf Schelte wartet. So schien es Pym, und so scheint es ihm noch, denn ich habe lange geglaubt, daß alles, was Rick an jenem Abend tat, im Vorhinein geplant war. Hätten sie ihr eine Eselsmütze aufgesetzt, Pym wäre nicht überrascht gewesen. Ich glaube, sie hatten gesehen, wie Peggy sie verfolgte, und Rick hatte seine Abwehr noch vor ihrem Angriff aufgebaut, wie er es schon oft getan hatte. Muspoles Leute hätten sie für diesen Abend aus dem Verkehr ziehen können. Major Blenkinsop hätte instruiert werden können, daß sie im Saal nicht erwünscht sei. Der Hofstaat verfügte über ein Dutzend Möglichkeiten, eine verrückte und mittellose kleine Erpresserin wie Peggy an einem entscheidenden Abend fernzuhalten. Rick nutzte keine von ihnen. Er wollte den Prozeß, wie immer. Er wollte angeklagt und freigesprochen werden.

»Meine Damen und Herren. Diese Dame ist Mrs. Peggy Wentworth. Sie ist Witwe, ich kenne sie seit Jahren und habe versucht, ihr zu helfen, denn das Leben hat ihr bitteres Unrecht zugefügt. Nun gibt sie mir die Schuld an ihrem Mißgeschick. Ich hoffe, daß Sie alle nach dieser Versammlung hören werden, was immer Peggy Ihnen zu sagen hat. Üben Sie nach Kräften Nachsicht mit ihr, haben Sie nach Kräften Geduld mit ihr. Und urteilen Sie selber in Ihrer Weisheit, wo die Wahrheit liegen mag. Ich hoffe, daß Sie christliche Nächstenliebe walten lassen, für Peggy und für mich, und bedenken, wie schwer es uns allen fällt, Mißgeschicke hinzunehmen, ohne auf einen Schuldigen zu weisen.«

Er legte die Hände auf den Rücken. Seine Füße waren dicht geschlossen.

»Meine Damen und Herren, meine alte Freundin Peggy Wentworth hat völlig recht.« Nicht einmal Pym, der alle Instrumente in Ricks Orchester zu kennen glaubte, hat ihn je so direkt und einfach sprechen hören, so bar jeder Rhetorik. »Vor vielen Jahren, meine Damen und Herren, als ich ein sehr junger Mann war und im Leben vorankommen wollte – wie wir alle einmal, übereifrig, auf dem schnellsten Weg –, geriet ich in die Lage des Bürojungen, der einen Griff in die Portokasse getan hatte und erwischt wurde, ehe er den Schaden ersetzen konnte. Nie zuvor hatte ich mir etwas zuschulden kommen lassen. Meine Mutter war Witwe, wie unsere Peggy Wentworth. Ich mußte mich am Vorbild eines berühmten Vaters messen lassen und hatte nur Schwestern. Die Pflichten, die auf mir lasteten, trieben mich, das will ich zugeben, über die Grenzen dessen hinaus, was Justitia in ihrer blinden Weisheit für rechtens hält. Die Justiz forderte Strafe. Ich zahlte sie zur Gänze. So, wie ich mein Leben lang dafür zahlen werde.«

Dann reckte sich das Kinn, und die dicken Hände lösten sich, und ein Arm fuhr auf die alten Schachteln in der ersten Reihe los, während Augen und Stimme bis in den dunklen Hintergrund drangen.

»Meine Freunde – liebe Peggy, auch Sie zähle ich zu ihnen –, meine treuen Freunde von Gulworth North, ich sehe heute abend unter Ihnen Männer und Frauen, die noch jung genug sind, um impulsiv zu sein. Ich sehe andere, die ein erfahrungsreiches Leben geprägt hat, deren Kinder und Enkel in die Welt zogen, um ihren Impulsen zu folgen, zu streben und Fehler zu begehen und wiedergutzumachen. Ich möchte die Älteren von Ihnen fragen: Wenn einer von diesen jungen Menschen – Kind, Enkel oder mein eigener Sohn, der hinter mir sitzt und demnächst eine der höchsten Ehren in Empfang nehmen wird, die das Gesetz dieses Landes zu vergeben hat –, wenn einer von ihnen jemals einen Fehler begehen sollte und dafür den Preis zahlt, den die Gesellschaft fordert, und heimkommt und sagt: ›Mum, ich bin’s, Dad, ich bin’s‹ – wer von Ihnen, die Sie heute abend hier sitzen, würde ihn von seiner Schwelle weisen?«

Alle standen auf. Alle riefen seinen Namen. »Rickie – guter alter Rickie! – Sie kriegen unsere Stimme, Rickie-boy!« Auch wir auf dem Podium hinter ihm waren aufgestanden, und Pym sah durch einen Tränenschleier, daß Syd und Morrie einander um den Hals fielen. Dieses eine Mal nahm Rick den Beifall nicht zur Kenntnis. Er blickte sich theatralisch nach Pym um und rief: »Magnus, wo bist du, Sohn?«, obwohl er genau wußte, wo er war. Er tat, als entdecke er ihn, ergriff seinen Arm, hielt ihn hoch und zog Pym nach vorn, trug ihn beinah an die Rampe, stellte ihn der jubelnden Menge als Champion vor und rief: »Hier seht ihr einen, hier seht ihr einen.« Ich vermute, er meinte einen reuigen Sünder, der den Preis gezahlt hat und heimgekehrt war, obwohl ich es wegen des Gebrülls nie genau wissen werde. Was Pym betraf, so konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Nie hatte er Rick mehr bewundert. Er würgte und klatschte, er ergriff auf offener Bühne mit beiden Händen Ricks Hand, umarmte ihn und klopfte ihm im Namen des Publikums auf die massige Schulter und sagte, er sei spitze.

Dabei glaubte er, Judys blasses Gesicht und die großen blassen Augen hinter der strengen Brille zu sehen, die ihn aus der Menge beobachteten. Mein Vater brauchte mich, wollte er ihr erklären. Ich wußte nicht mehr, wo der Bus hält. Ich habe deine Telefonnummer verloren. Ich tat es für mein Land. Der Bentley wartete vor dem Haupteingang, Cudlove öffnete den Schlag. Als Pym an Ricks Seite wegfuhr, war ihm, als rufe Judy laut nach ihm: »Pym, du Schuft, wo bist du?«

***

Es dämmerte. Unrasiert saß Pym am Schreibtisch, das Tageslicht kam ihm ungelegen. Das Kinn in die Hand gestützt starrte er auf die letzte Seite, die er geschrieben hatte. Nichts ändern. Nicht zurückschauen, nicht vorausschauen. Du tust es einmal, dann stirbst du. Jäh bedrängte ihn die unselige Vision all der Frauen seines Lebens, die an jeder Bushaltestelle an seinem chaotischen Pfad vergeblich gewartet hatten. Er sprang auf, machte sich einen Neskaffee und trank ihn viel zu heiß. Dann nahm er Heftmaschine und Markierstift zur Hand und machte sich emsig ans Werk – ich bin ein Kontorist, nichts weiter –, heftete seine Zeitungsausschnitte ein und vermerkte die Nummern der entsprechenden Belege.

Auszüge aus dem Gulworth Mercury und dem Evening Star mit Bericht über den Kampfstand des liberalen Kandidaten am Vorabend der Wahl. Wegen des Verleumdungsparagraphen vermeiden die Reporter eine Wiedergabe von Peggy Wentworths Beschuldigungen, sie schreiben nur von einer mutigen Verteidigung des Kandidaten gegen persönliche Anwürfe. Einzuordnen unter 21 a bis d. Der verdammte Hefter klemmt. In der Seeluft rostet alles.

Ausschnitt aus der Londoner Times mit den Ergebnissen der Nachwahl in Gulworth North:

McKechnie (Labour)   7,970
Lakin (Cons.) 15,711
Pym (Lib.)   6,404

Ein halbliterarischer Leitartikel schreibt den Labour-Sieg dem »ungeschickten Eingreifen« der Liberalen zu. Kommt unter 22 a.

Auszug aus der Oxforder Universitätszeitung Gazette verkündet der wartenden Welt, Magnus Richard Pym habe den Grad eines Bachelor of Arts in Neuen Sprachen, mit Auszeichnung, erworben. Kein Hinweis auf das nächtelange Studium früherer Prüfungsaufgaben, bzw. die private Inspektion des professoralen Schreibtisches mit Hilfe von Michaels stets bereitem Teilzirkel. Abgelegt unter 23 a.

Aber genauer gesagt, nicht abgelegt, denn während Pym den Ausschnitt numerierte, legte er ihn vor sich hin und starrte, den Kopf zwischen den Händen, mit angewidertem Ausdruck darauf.

Rick hat’s gewußt. Der Schuft hat’s gewußt. Pym, den Kopf noch immer zwischen den Händen, versetzt sich nach Gulworth zurück, in die Nacht nach der Versammlung. Vater und Sohn sitzen im Bentley, ihrem Lieblingsplatz. Die Stadthalle liegt hinter ihnen, Mrs. Searles Hotel ist nahe. Der Tumult der Menge klingt ihnen noch in den Ohren. Weitere vierundzwanzig Stunden werden vergehen, ehe die Welt den Namen des Siegers erfährt, aber Rick kennt ihn bereits. Sein ganzes Leben lang hatte er vor Gericht gestanden und Beifall geerntet.

»Ich will dir mal was sagen, Sohn«, sagt er mit seiner weichsten und freundlichsten Stimme. Die vorbeifliegenden Straßenlaternen knipsen seine weisen Züge an und aus, zerhacken seinen Triumph. »Niemals lügen, Sohn. Ich hab ihnen die Wahrheit gesagt. Gott hat mich gehört. Tut ER immer.«

»Es war phantastisch«, sagt Pym. »Könntest du vielleicht meinen Arm loslassen, bitte?«

»Kein Pym war jemals ein Lügner, Sohn.«

»Ich weiß«, sagt Pym und zieht trotzdem seinen Arm weg.

»Warum bist du nicht zu mir gekommen, Sohn? ›Vater‹, hättest du sagen können – Ricki, wenn du magst, du bist alt genug –, ›ich studiere nicht mehr Jura. Ich arbeite an meinen Sprachen, weil ich sie fließend beherrschen möchte. Ich möchte in die Welt ziehen wie mein bester Kumpel und gehört werden, wo immer Menschen sich versammeln, egal welcher Hautfarbe, Rasse oder Religion.‹ Denn, weißt du, was ich geantwortet hätte, wenn du gekommen wärst und es deinem alten Herrn gesagt hättest?«

Pym will es nicht wissen, er ist zu wütend, zu erstarrt.

»Du wärst super gewesen«, sagt er.

»Ich hätte gesagt: ›Sohn, du bist jetzt erwachsen. Du triffst deine Entscheidungen selber. Dein alter Herr kann nur noch den Torhüter spielen, während sein Magnus die Bälle schlägt und Gott das Werfen besorgt.‹« Er packt Pyms Hand und bricht ihm beinah den Finger. »Zuck nicht so vor mir zurück, Sohn. Ich bin dir nicht böse. Wir sind doch Kumpel, oder? Wir müssen uns nicht gegenseitig beschleichen und die Taschen durchsuchen, in Schubladen stochern, in Kellern mit irregeleiteten Frauen sprechen. Wir rücken frei damit heraus. Auf den Tisch des Hauses. Jetzt wisch dir deine alten Gucker ab und gib deinem alten Kumpel einen Kuß.«

Mit dem monogrammbestickten seidenen Taschentuch wischt der große Staatsmann Pym edelmütig die Tränen der Wut und Hilflosigkeit ab.

»Ist dir heute abend nach einem guten englischen Steak, Sohn?«

»Nicht besonders.«

»Mattie brät uns eines mit Zwiebeln. Du kannst Judy einladen, wenn du willst. Danach spielen wir alle eine Partie Chemin-de-fer. Wird ihr Spaß machen.«

Pym hob den Kopf, griff zum Markierstift und machte sich wieder an die Arbeit.

Auszug aus dem Protokoll der Kommunistischen Parteistelle Universität Oxford, bedauert Ausscheiden des Genossen M. Pym, der unermüdlich für die Sache tätig war. Brüderlicher Dank für seinen energischen Einsatz. Einordnen unter 24 a.

Schmerzlicher Brief des Quästors von Pyms College, beiliegend Scheck für sein letztes Semester, trägt den Vermerk Zurück an Aussteller. Ähnliche Briefe und Schecks von den Firmen Blackwell, Parker und Hall Brothers (Herrenschneider), einordnen unter 24 c.

Schmerzlicher Brief von Pyms Bank, bedauert, daß nach Zurückweisung eines von der Magnus Dynamic and Astral Company (Bahamas) Limited auf Pym ausgestellten Schecks über zweihundertfünfzig Pfund dieser an Aussteller zurückgehen mußte. Ebenfalls 24 c.

Auszug aus der Londoner Gazette vom 29. März 1951, Ernennung eines Konkursverwalters nach Konkurseröffnung über RTP und siebenundsechzig verbundene Unternehmen.

Brief der Staatsanwaltschaft an Pym mit Vorladung für den Soundsovielten, zwecks Klärung von Pyms Verbindung mit obengenannten Firmen. Unter 36a.

Einberufung zum Militärdienst, der Pym Zuflucht anbietet. Mit beiden Händen zugegriffen.

***

»Dürfte ich mich ein bißchen zu Ihnen setzen, Miss D.?« sagte Pym, als er behutsam die Küchentür öffnete. Aber ihr Sessel war leer und das Feuer aus. Es war nicht Abend, wie er geglaubt hatte, sondern Tagesanbruch.